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XII

Als Frau Ullrich gegen halb sechs in das Schlafzimmer stürmte – sie hatte sich plötzlich mit Schrecken erinnert, daß ihr Mann ins Theater mußte –, war das zerwühlte Bett leer, der Kaffee ungetrunken, die Kritiken lagen haufenweise auf dem Fußboden, und der Bewohner war verschwunden. – Da erlitt das Herz der Frau, das längst aufgehört hatte, Ebbe und Flut des Künstlerdaseins mitzumachen, ein unruhiges Stakkato, einen Rückfall in lebendigere Zeiten.

Die Unordnung dieses Zimmers wirkte wie der Schatten eines häßlichen Ereignisses. Herr Ullrich war nicht da, er war wohl einfach fortgegangen, – aber die Stunden, die er durchlebt hatte, waren liegen geblieben und lagen herum. Herr Ullrich aber mußte sich fortgeschlichen haben, sonst hätte man seinen Abgang gemerkt. Er mußte einige Vorsicht angewendet haben, mußte auf den Zehenspitzen gegangen sein, sich beiseite gedrückt haben, um nicht abgefaßt und mit seiner Familie konfrontiert zu werden. – Frau Ullrich beschloß, ihn nach der Vorstellung vom Theater abzuholen. –

Herr Ullrich erschien bereits um halb sieben in seiner Garderobe. Er war an diesem Abend vor allen anderen Schauspielern im Hause; zum ersten Male im Leben. Sein fetter Blondin von einem Garderobier war aber doch schon vor ihm da und machte mit fatalistischer Langsamkeit Ordnung. Er hieß Bodenwieser. – »Ich gratuliere zu dem großen Erfolg«, sagte Bodenwieser.

Und Herr Ullrich erwiderte gelassen: »Danke«. – »Danke!« – das Wort erklang ihm plötzlich als der Name Dahnke; die Dahnke hieß eigentlich Danke, gedehnt ausgesprochen.

So langsam wie Bodenwieser hantierte, wiederholte das Gehirn Ullrichs einige Male das Wort; aber der Mund verschwieg es.

Hierauf ließ Herr Ullrich sich ein ordentliches Diner servieren, sämtliche Gänge, und er verzehrte es in vollendeter Form, auf einem Tischtuch und mit vorgesteckter Serviette, seinem Spiegel gegenüber, während rechts und links von ihm zwei grelle Lampen brannten.

Der einsame Esser studierte, anscheinend mit ruhigem Behagen, sein Spiegelbild, das sich bald wieder in die verzwickte Fratze des alten Kusofkin verwandeln sollte.

Herr Ullrich kannte sein eigenes Gesicht genau, hatte er doch von Jugend auf an diesem Gesicht gearbeitet, es mit Vorbedacht modelliert, mit Ehrfurcht und inbrünstiger Liebe, wie ein Bildhauer einen bedeutenden Kopf aus dem rohen Material löst. Herr Ullrich kannte diesen Kopf, der seit einem Menschenalter sich nicht mehr als ein privater Schädel anfühlte, aus den Schaufenstern und den Zeitschriften; er wußte, wie dieser Kopf in Pastell oder Öl, in Marmor und Lehm zur Geltung kam, und wie er sich in den Augen der zeitgenössischen Menschheit – tausenden und aber tausenden von kleinen photographischen Linsen – spiegelte und fixierte.

Über sein Gesicht war Herr Ullrich längst beruhigt, und manchmal war er seiner sogar müde. Diese hohe Stirn hatte ihn viel gekostet, viele Not und vieles Glück. Um diesen Lippen ihren sinnlichen Schwung zu geben, hatte er gesündigt, auch wenn es ihm keinen Spaß machte. Und die ziemlich cäsarische, leider auch ein wenig pfäffische Rundung des von Natur aus vorspringenden Kinns war sogar manche kleine Schurkerei wert gewesen.

In dieser merkwürdig stummen Lebenspause, während welcher der auf der Hetzjagd des Erfolges gealterte Schauspieler, mit sich selbst allein gelassen, in vornehmer Haltung dasaß, das mürbe Fleisch des Rostbratens zerlegte und dazu ein Glas Bordeaux trank, betrachtete er sein Gesicht teilnahmslos, wie eine ausstudierte Gleichgültigkeit, wie eben etwas Privates.

Alle Mühe eines Lebens war umsonst gewesen, er besaß nun doch ein privates Gesicht, es hatte sich nicht länger verschweigen lassen; und dieses Gesicht ging ihn nichts an.

Seine Hand aber, seine oft geküßte edle Hand – geküßt wie die Hand einer angebeteten Frau, sogar von Männern geküßt –, seine Hand, die geschickt war und nicht zitterte, mit dem altväterischen Ring –-: dieses Glied seines Ichs war ihm direkt unangenehm.

»Eine überflüssige Hand«, dachte er still verächtlich, kaute langsam zu Ende und trank einen Schluck Wein nach. –

Indessen wartete der Sklave Bodenwieser vor der Tür der Garderobe und machte den ankommenden Schauspielern verstohlene Zeichen, welche das heute Erstaunliche und Beängstigende mitteilen sollten: daß er nicht etwa vor einer leeren Garderobe Wache stehe.

Und die Schauspieler zerstreuten sich, mit vielsagendem Kopfschütteln, in ihre Einzelzellen, alle unwillkürlich leiser werdend, als sie sonst sich zu geben pflegten; als ob ein Kranker im Hause wäre oder ein Toter.

Einige freilich konnten nicht umhin, höhnisch zu lächeln; und Langenbruch gar winkte Bodenwieser an sich heran. Er fragte flüsternd: »Schlecht aufgelegt?« erhielt dicht ins Ohr hinein die gehauchte Auskunft: »Speisen zu Abend«; worauf Langenbruch die rechte Augenbraue hochzog, sofort aber wieder einmal seine besonders breite Brust wölbte. –

Herr Ullrich betrat mit einem: »Guten Abend, meine Herrschaften!«, das sehr ruhig klang, die Bühne. Man dankte ihm korrekt und tat allgemein, als wäre heute der typische zweite Abend eines Stückes, also der pflichtmäßige, ziemlich lustlose Vollzug einer abgespannten und zunächst erledigten Sache.

Niemand schien zu wissen, daß der große Kollege gestern durchgefallen war; und obwohl man sich in allen Ecken zuflüsterte, daß es mit ihm aus wäre für ewig, benahm sich jeder so, als hätte er die Zeitungen noch nicht zu Gesicht bekommen.

Trotzdem verriet eine gewisse allgemeine Erleichterung, eine kollektive Freimütigkeit in der Verstellung, so etwas zuinnerst Frohes, das sich aber verhielt: daß ein Tyrann gestürzt worden war über Nacht, ein Zwing-Uri geschleift, eine Kette gerissen.

Seit so vielen Jahren hatte sich die Kritik etwas Derartiges Ullrich gegenüber nicht erlaubt; ja vor heute wäre es ganz undenkbar gewesen; und heute war es eben Tatsache geworden, und damit basta!

Endlich hatte es sich durchgerungen, wie Sonne durch dichten Nebel, daß es so nicht mehr weiterging mit diesem Bedrücker-Talent; endlich hatte es getagt, und es war Licht geworden in jedem Schauspieler-Gemüte. –

Herr Ullrich aber spielte an diesem zweiten Abend sehr sorgfältig und geradezu pedantisch. Er milderte seinen Gang, ließ sich mehr gehen, als daß er ging; mäßigte auch die Verbeugungen; klebte nicht mehr so zäh in den Ecken fest; demütigte sich würdevoller, mit einem Wort, als ein bewährter Theaterfachmann, der mit einer gewissen Solidität das Publikum bedient; seine Ausbrüche waren rührend, aber nicht quälend, und im Parkett verbreitete sich mit ruhiger Gesetzmäßigkeit die Naturerscheinung der Taschentücher, welche an die Augen steigen. »Uf, war der heute langweilig«, sagte die Klee später zu Langenbruch. Und als er sich vor seinem Spiegel abschminkte, erschien seine Frau; etwas atemlos, denn sie hätte sich fast verspätet. »Grüß Gott, Edmund«, sagte sie obenhin, als wäre sie heute besonders leichten Herzens. »Gab es Applaus?« – »Fünf Vorhänge«, berichtete er. – Gewiß, er hatte sich verbeugt, wie immer, warum sie danach frage. Natürlich. – Und dann wurde geschwiegen, bis sich Bodenwieser schweigend vor den abschreitenden Herrschaften verbeugte.

Wortlos der Nachhauseweg. Und als er das Tor aufgeschlossen hatte, erklärte Herr Ullrich, er ginge heute noch ein wenig aus, ja, bummeln, gute Nacht, Gertrud. Und er setzte den Hut schief auf und ging. –

Etwas später, als er in der »Englischen Bar«, in die er oft, so im Vorübergehen, einzutreten pflegte, elegant angelehnt seinen Whisky nahm, fragte er die Bardame, eine makellose Schönheit à la Gainsborough, ob sie ihm denn eigentlich wahre Demut zutraue?

Da sagte die an einen Engel aus einer vornehmen Idylle gemahnende Person: »Ne, Herr Ullrich – Demut! Ausgerechnet! Sie und Demut! Ne!«


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