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Sechzehntes Kapitel

Sechs Jahre war Helene nun schon verheiratet; sie hatte kein Kind. Nun würde sie auch keins mehr bekommen; sie kränkelte beständig. Wenn Johanna Henze an ihre Tochter dachte, dann lächelte sie wehmütig: kein Wunder, daß sie selber so grau geworden war. Der Spiegel sagte es ihr: erst eben über die Fünfzig, und doch schon eine alte Frau. Eine ganz alte Frau. Es wurde Zeit, daß sie sich eine Haube aufsetzte.

Die Sorge um Helene hatte Falten in Johannas Stirn gegraben, tiefere Falten noch als das Grübeln übers eigene Geschick. War Helene auch nicht glücklich? Anfänglich hatte sie es zwar immer versichert, dann aber hatte sie geschwiegen – und jetzt?!

Helene war nicht oft zum Besuch mehr in die Schmiede gekommen. Die Mutter hatte ihr das auch nicht übel genommen, Frau Ohm hatte es ja bei sich zu Hause viel schöner und vornehmer, ihr Mann verwöhnte sie, sie konnte sich anschaffen, was sie wollte; aber jetzt empfand Johanna es wie mit unbestimmter Angst: warum blieben Helenes Besuche jetzt so ganz aus?

Henze verlor kein Wort darüber. Und die Frau hatte Furcht, ihm ihre Unruhe mitzuteilen; er hatte ja einen förmlichen Haß auf Ohm. Er ging nie hin, er hatte noch nicht einmal in all der Zeit die Villa vorm Anhaltischen Tor betreten.

Johanna Henze saß an ihrem Nähtisch und warf unruhig Garnrollen, Occhi-Schiffchen, Filetnadeln und Häkelhaken untereinander. Wem sollte sie sich mitteilen? Es widerstrebte ihr, mit Gottlieb darüber zu reden; der war ja so treu und verschwiegen, auch klug, aber er war doch immerhin nicht viel mehr als ein Dienstbote. Die Leutchen waren auch so befangen in ihrem Glück; oben in der Mansardenwohnung trippelten jetzt Kinderfüße, kleine Pussels aus Lübben. Und: ›Hirnjespinste‹, würde Gottlieb sagen, ›Meestern, nischt als Hirnjespinste!‹

Die Meisterin stützte den Kopf: und doch waren es nie Hirngespinste gewesen – hierbei wenigstens ganz sicher nicht! Wie – wie war es doch gewesen, als sie das letzte Mal hingekommen war?!

Sie hatte Helene in ihrem Boudoir gefunden. Das hatte Ohm vor der Hochzeit schon für seine junge Frau herrichten lassen: blauseidene Polstermöbel, vergoldete Stühlchen, mit rosengeblümtem Stoff die Wände bespannt, über dem Spiegel von venezianischem Glas hielten zwei Amoretten eine Rosengirlande; die war jetzt verstaubt.

Helene saß in einem Lehnstuhl vor dem Kamin, die Füße gegengestemmt; sie schien zu frieren trotz der hellbrennenden Scheite. Sie hatte über ihr elegantes Negligé eine Pelzjacke gezogen, obgleich es draußen schon Frühling war und sehr warm im Zimmer. Sie kauerte sich ganz in sich zusammen. Als die Tür ging, erschrak sie.

Helene mußte geweint haben, Johanna glaubte noch Tränen zu sehen, und es entfuhr ihr, wider Willen fast, wie in einer plötzlichen Erkenntnis: »Du bist nicht glücklich?!« War denn das noch ihre Helene, die Helene, die den Kopf in den Nacken geworfen hatte: ›Sagt, was ihr wollt, ich liebe ihn!‹ Die konnte das jetzt nicht mehr sagen. Wie eine, die gebrochen ist, saß sie da. Und so blaß war sie, und so schmal geworden! Die Hände, die sie sich jetzt vors Gesicht hielt, waren bleich und dünn und blaugeädert, und früher waren sie so fest und rosig gewesen.

Die Mutter griff nach der Tochter Händen, wollte sie ihr vom Gesicht ziehen. Einen Augenblick sah die Tochter sie an – es war ein todestrauriges Ansehen – dann bedeckte Helene wieder ihr Gesicht. Tiefer beugte sie sich, immer tiefer.

Wie benommen vor Schreck stand Johanna; eben wollte sie fragen, hören: was ist dir? – da trat Ohm ein.

Er war liebenswürdig wie immer, er begrüßte die Schwiegermutter mit einem: »Ah?! Das ist ja nett!« Und zu seiner Frau sagte er: »Na, Maus?«

Aber es war Johanna gewesen, als hätte seine Liebenswürdigkeit etwas Erzwungenes. Sie fühlte, es war ihm nicht recht, daß sie hier war. Und zum ersten Male hatte sie gesehen, daß er kalte Augen hatte. Und sah er nicht auch recht verlebt aus? Er war noch gar nicht alt, aber er hielt sich schlecht in seinen Kleidern. Und Falten hatte er um die Augen. Man sah es ihm an, er machte zu viel mit.

Es hatte Johanna immer imponiert, daß Ohms in feiner Gesellschaft verkehrten. Jetzt ärgerte sie sich darüber. Ihre schwarzen Augen fest auf den Schwiegersohn heftend, sagte sie vorwurfsvoll: »Helene weint!«

Er zuckte die Achseln: »Launen!«

Machte er sich nichts mehr aus seiner Frau? Und litt Helene darunter? In der Mutter war es aufgewallt: ihre Helene, ihre schöne Helene sollte nicht mehr geliebt werden?! Launen? Nein, Helene hatte nie Launen gehabt. Warum sollte sie denn jetzt Launen haben? Hatte sie nicht Wagen und Dienerschaft, schöne Kleider, ein schönes Haus? Seine Stimme klang so verlegen. Ja, an ihm, an ihm allein lag es!

Die schwarzen Augen wurden durchbohrend. Sollte es wahr sein, was Henze einmal herausgepoltert hatte: »Der Kerl, alle Rennen läuft er ab, und da hat er Gott weiß was für eine im Wagen, eine aus der Walhalla – mit solchen gibt er sich ab, und so 'ne Frau hat er dabei zu Hause.« O, Henze sollte nur ganz stille sein!

Aber auch spielen sollte Ohm. Das war noch Henzes einzige Tugend, daß er an Karten nicht rührte. Seine einzige Tugend? Mitten in ihrer Sorge um die Tochter und in ihrem Schreck mußte die Frau es denken: einiges Gute hatte Henze doch.

Ohm hatte sich über Helene gebeugt: »Was ist denn, Maus?« Er versuchte es, einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken.

Aber da war Helene aufgeschnellt. Ihn von sich stoßend, wich sie zurück bis ans andere Ende des Zimmers: da stand sie und sah ihn schreckerfüllt an. Abscheu war in ihrem: »Laß mich!«

So hatte sie sich das doch nicht gedacht! Entsetzt war Johanna gewesen. Und unfähig zu helfen kam sie sich vor.

Ohm war aus dem Zimmer gegangen, er schien Helenes Abwehr gar nicht bemerkt zu haben. Nebenan pfiff er, und dazwischen trällerte er:

»Berlin, Berlin ist 'ne göttliche Stadt,
Wenn man bloß das nötige Kleingeld hat!«

Helene lehnte an der Wand, sie hielt wieder das Gesicht verborgen. Wie eine furchtbare Entdeckung, wie eine schwere Last wälzte es sich über Johanna: ihre Helene, ihre arme Helene!

Jetzt hob die junge Frau ihr Gesicht aus den Händen. Ein ganz verstörtes Gesicht. Mit einem herzzerreißenden Lächeln entschuldigte sie sich: »Ich kann nicht, Mutter, ich kann nicht mehr!« Verzweifelt rang sie die Hände. Aber dann kam ein Anflug des alten Stolzes über sie: »Und ich will auch nicht mehr. Ich –«

Da war Ohm schon wieder. Noch mit dem Trällern auf den Lippen streckte er den Kopf herein. Aber seine Lippen waren blaß. Er sah elend aus. »Es ist angespannt!« Und als die Schwiegermutter nicht sofort sich zum Gehen anschickte, kam er herein und führte sie fort. Fast mit Gewalt.

Das war Johanna erst nachher klar geworden, und sie kränkte sich über sich selber: wie hatte sie sich nur forttreiben lassen können?!

Seitdem waren acht Tage vergangen. Johanna Henze überlegte eben: sollte sie heute nicht doch wieder zu Helene gehen? Da brachte die Magd ein Briefchen herein. Der ›Rinnsteinklauer‹ hatte es abgegeben. Und ließ dann die Madam um ein Almosen bitten.

Das Briefchen war von Helene. Es war nur ein Zettelchen, hastig geschrieben; schon waren die Bleistiftzeichen fast verwischt.

›Kommt denn keiner zu mir? Ich kann nicht kommen. Helene.‹ – – –

Hatte sie sich so wenig gekümmert, hatte sie denn alle die Jahre so viel mit sich selber zu tun gehabt, daß sie nicht wußte, wie es um ihre Tochter stand? Das war ja wie ein: ›Helft mir!‹ Johanna zitterte. Was sollte sie tun? Sie wußte sich keinen Rat. Wer konnte hier helfen? Unschlüssig stand sie; sie war blaß geworden. Jetzt wurde sie rot: sie mußte hinüber zu ihm, sie mußte zu ihm! Nun trieb sie die Not der Tochter – er hatte Helene doch auch lieb gehabt!

Und sie war ja alt – so alt – wozu noch die Eifersucht?! – –

Es war seit dem Einweihungsfest wohl das erste Mal, daß Johanna wieder das Glashaus betrat. Mit Augen, in denen es nicht mehr brannte, sah sie sich um: da war die große Halle, getäfelt wie ein Rittersaal, in der er seine Feste feierte.

So schlimm wären die jetzt nicht mehr, sagte Gottlieb. Der verkrachte Gutsbesitzer hatte im Ochsenkopf gesessen und war dann verzogen; der Versicherungsagent war verschwunden; Siebert war weggeblieben, nun er erwachsene Kinder hatte; August Lehmann kam auch nicht mehr, seine Frau erlaubte es nicht; Besescheck, der im Viertel regiert hatte, ganz nach eigener Gunst und Ungunst, die galanten Dämchen begünstigt, den ehrsamen Bürger schikaniert hatte, den hatte der Teufel geholt, und den alten Kawalski ein barmherziger Engel.

Johanna krümmte den Finger, fast schüchtern klopfte sie an am Privatkontor.

In Schlafrock und Pantoffeln saß der Meister in der Sofaecke und hielt sein Vormittagsschläfchen. Das Zimmerchen war ganz voll dichten Qualms. Die lange Pfeife war seiner Hand entsunken, die geleerte Weiße stand am Boden. Erst nach wiederholtem Klopfen rief er: »Herein!« Er war noch verschlafen. Aber als Johanna ihm ohne Worte Helenes Zettelchen hinhielt, als er es gelesen hatte, war er gleich hellwach. Er zog die Brauen hoch. Sie hatte es nicht nötig zu fragen: »Was soll jetzt geschehen?« Schon hatte er den Schlafrock abgeworfen, er suchte nach seinen Stiefeln, er rief, daß es dröhnte: »Gottlieb! Hosen, Weste, meinen langen Rock!« – –

Er war gegangen. An ihrem Nähtisch saß wieder die Meisterin, wollte nähen und konnte nicht. Keine Angst, er würde Helene schon zu sprechen bekommen! Aber dann, aber dann?! Die Mutter wußte nicht, was sie wünschen sollte. Sie konnte nichts tun, als still ihre Hände falten.

Wie sagte doch der neue Prediger an der Jerusalemer Kirche, der so wunderschön predigte, daß die Kirche immer voll war bis auf den letzten Platz? »Unsere Jugendzeit ist voller Hast und Unruhe, wir hoffen, wir wünschen, wir verlangen, wir begehren wild. Und meinen, nur so das zu erringen, was uns nottut. Was wollen wir denn erringen? Der eine Liebe, der andere Reichtum, der dritte Ruhm und Ehren, der vierte Freiheit – ich aber sage euch, nur das stille Sich-bescheiden ist erstrebenswert. Das Sich-bescheiden, Sich-still-darein-schicken kommt mit dem Alter; wir können aber dieses Glücks auch schon früher teilhaftig werden durch die Gnade unseres Herrn Jesu Christi. Lasset uns unser Haupt beugen und unsere Hände falten: Dein Wille geschehe!«

Das Sich-bescheiden, Sich-still-darein-schicken! Johanna Henze senkte tief ihren Kopf.


Der Meister ging mit starken Schritten. Als er in die Nähe des Anhaltischen Tores kam, wunderte er sich: so lange war er nicht hier gewesen? Es hatte sich hier verändert. Das Tor war niedergelegt, die Herschelstraße lag frei; beim Bahnhof am Askanischen Platz, dem Garten des Prinzen Albrecht gegenüber, standen neue Häuser. Glatte Fassaden, die Fenster wie nach der Schnur. Das Geheimratsviertel.

Über die Brücke des Schiffahrtskanals ging er, am Hafen vorbei, und dann war er ganz draußen.

Als er das Gitter öffnete, das den Vorgarten der Ohmschen Villa – einen Rasenplatz mit einem Knaben aus Stein, der einen Schwan gepackt hielt, aus dessen Schnabel ein heller Wasserstrahl schoß – gegen den Lietzower Weg zu abschloß, fuhr ihm eine große Dogge an die Beine. Er gab ihr einen Tritt, daß sie sich heulend verkroch: »Feiges Luder!«

Es lag Verachtung auf des Schmieds Gesicht, als er jetzt am Wohnhaus die Klingel rührte. Da hinten aus dem Schlot der Fabrik kam Rauch, in Stößen puffte er aus dem Schornstein, dort wurde gearbeitet; aber Ohm war wohl nicht drüben, der würde jetzt zu Hause sitzen und speisen.

»Das's mir ganz egal, ob der Herr ißt,« sagte er grob zu dem Diener, der ihn jetzt nicht melden wollte. Er stieß den Menschen zur Seite, wie vorher den Hund. Als der Diener hinter ihm herschrie: »Aber so warten Sie doch,« lachte er nur, und seine starke Stimme so laut erhebend, daß sie im weiten Flur dröhnte, rief er: »Wollen Sie mich nun zu Ihrem Herrn führen oder nicht? Aber gleich, ich –«

Er sprach nicht weiter. Ein Laut war von oben zu ihm heruntergekommen, ein »Ach« der Freude, ein erstauntes: »Du?!«

Mit ein paar Sätzen war der Mann die Treppe hinauf. Da stand Helene! Sie war kaum mehr zu erkennen, so vergrämt; ein leidensvolles Gesicht.

Und sie stürzte auf ihn zu, sie klammerte sich an ihn, sie seufzte, wie ein aus Bangnissen glücklich erlöstes Kind, sie schluchzte: »Vater!« – – –

Das hatte sie der Mutter nicht sagen können, die hatte ja selber Leides genug.

In dem Boudoir mit den blauseidenen Möbeln, mit der Rosentapete und den Amoretten rannte Henze auf und ab wie ein wildes Tier. »Lump, Schubiak!« Jetzt packte er eines der zierlichen Stühlchen, stützte sich auf die Lehne, denn die Kniee bebten unter ihm, die Wut schüttelte ihn, der Stuhl schüttelte mit – knacks, die Lehne brach ab. Mit einem Fluch schleuderte der Schmied die Trümmer in die Ecke. Daß der Kerl leichtsinnig war, spielte, mit dem Geld schleuderte, das überraschte ihn nicht, aber daß er – daß er –! Er sprach es nicht aus; es wollte ihm nicht über die Lippen. Das war eine zu große Nichtsnutzigkeit! Er war bleich, Tränen schossen ihm in die Augen. Und das traf Helene, die schöne Helene?!

»Damals habe ich es ja nicht verstanden, als seine Frau zu mir sagte: ›Er schimpft mich nicht, er schlägt mich nicht, und doch hat er mich unglücklich gemacht‹ – oh, jetzt verstehe ich alles!« Die junge Frau kauerte sich ganz im Sessel zusammen, sie weinte herzbrechend. »Und er will es nicht, daß ich zu euch gehe, er hintertreibt es immer. Mutter will er nicht hier haben, er sucht Gelegenheit, ganz zu brechen. Und dann wäre ich allein, ganz allein – o, das ertrüge ich nicht!« In tiefem Jammer hob sie beide Hände: »Dann will ich doch lieber bei euch in der Schmiede sein, bei euch laßt mich weinen! Vater, Vater, laß mich nicht hier!«

Sie schleppte sich zu dem Manne hin, der finster dastand, mit drohender Stirn, die Fäuste geballt. Helene fiel ihm in die Arme.

Da öffnete sich die Tür. Ferdinand Ohm war vom Mittagessen aufgesprungen – der Diener hatte nun doch gemeldet – die Serviette steckte ihm noch vorn in der hellen Weste. Seine Hände rissen sie nervös heraus und steckten den Zipfel dann wieder hinter die Knöpfe. Das war ja eine ganz unerhörte Sache, was war denn das für ein Kerl?! Mit seinen kalten Augen musterte er Vater und Tochter.

Aber Henze sah die Angst in diesen Augen, und das Unbehagen – der war jetzt nicht der Herr hier!

»Ah, der Meister!« Ohm schien ihn jetzt erst zu erkennen. Zu Helene wendete er sich ganz erstaunt: »Und du bist auf? Ich dachte, du lägest zu Bette?«

Sie drehte ihm stumm den Rücken.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen. Aber unter vier Augen.« Henze schob den Herrn des Hauses vor sich zur Tür hinaus. »Helene, mach dich fertig derweile!« –

In dem mit Waffen und Büchern, Reit- und Sportgeräten aller Art und Bildern von schönen Frauen wohlausgestatteten Herrenzimmer standen sich die beiden Männer gegenüber. »Hier ist's gemütlicher, nicht wahr? Rauchen Sie?« Unbefangen bot Ohm dem Meister Zigarren an.

Aber Henze schlug ihm das Kistchen aus der Hand. »Ich danke für Ihre Giftnudeln. Bin nur hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie – Sie 'n Verbrecher sind! Ich nehme Helene mit. Die Scheidung werden wir einreichen.«

»Sind Sie verrückt?« Ohm wollte nach dem Klingelzug greifen, aber der andere hielt ihm die Hand fest. »Wenn Sie nach Ihrem Diener klingeln, dann sag ich es Ihnen auch noch mal vor dem: ein ganz gemeiner Verbrecher! Ich nehme an, Sie haben es nicht gewußt, daß Sie krank sind, sonst –!« Er sah mit einem bezeichnenden Blick nach dem Tische hin. Da lag eine Peitsche, die Peitsche für die bissige Dogge, kurz, stark, mit ein paar Knoten in der ledernen Schnur.

Ohm war sonst nicht feige, aber jetzt rang er nach Luft. Dieser Mann hier war so unverschämt groß! Und er hatte eben gegessen und fühlte sich faul, matt in allen Knochen. Er wurde bleich vor Wut, die Lippen zitterten ihm. »Sie erlauben sich einen Ton – ich verbitte mir den – hier, in meinem Hause!«

»Denn kommen Sie raus. Denn sag ich's Ihnen draußen auf der Straße!« Der Schmied lachte sein grimmiges Lachen, in dem dumpfes Grollen klang. »Da dürfte es Ihnen noch weniger angenehm sein. Sie geben also Helene frei. Sie nehmen die Schuld auf sich. Sie geben Helenens Mitgift heraus und zahlen ihr jährlich noch 'ne nette Summe. Ach« – es kam ihm etwas in die Kehle, fast erstickt klang es – »kein Geld in der Welt kann wieder gut machen, was Sie an ihr verbrochen haben. Armes Mädel!«

»Helene bildet sich Sachen ein, die gar nicht wahr sind, die – ich bitte Sie!« Ohm stammelte, er suchte verzweifelt nach einer Ablenkung. »Sie hat mir zum Beispiel Sachen erzählt, Sachen, die doch unmöglich wahr sein können. Sie wären ihr nachgegangen – von Kindheit an – Sie, denken Sie sich, Sie!«

Der Schmied war glühend rot geworden. Ja, das war wahr, und auch nicht wahr. Aber jetzt –? ›Vater!‹ – Er fühlte nur mehr wie ein Vater für sie.

Er sah finster vor sich nieder.

Der andere lachte höhnisch auf. »Sehen Sie, so ist's mit ihr. Lauter krankhafte Einbildungen! Ich werde sie noch in eine Anstalt bringen müssen. Vielleicht nach Schöneberg zu Doktor Levinstein, oder –«

Henze blickte rasch auf. Sein Auge rollte unstet: da war die Peitsche – da auf dem Tisch!

Und er griff nach der Peitsche. – –


Hinter ihnen lag die Villa. Henze führte Helene, sie schleppte sich kaum. Sie war so schwach, so erschüttert, daß sie jetzt nur weinen konnte. Sie zog den Schleier fester um ihr Gesicht: o, daß nur ja kein Mensch sie erkannte! Sie scheute sich vor den Arbeiterfrauen, die mit dem geleerten Eßkorb von ihren Männern aus der Fabrik zurückkamen; sie zuckte zusammen, wenn eine von ihnen sie grüßte.

Henze sprach kein Wort. Tröstendes wußte er ja auch nicht zu sagen. Nur die Genugtuung hatte er: er hatte den Kerl gezüchtigt. Ein schwacher Trost.

Als er die Tochter ins Zimmer schob, wo die Mutter am Nähtisch saß und ihre Unruhe Stich für Stich in feine Leinwand hineinnähte, brauchte Johanna Henze keine lange Erklärung. Einen Blick tat sie in ihres Mannes Gesicht, in dem Wut und Mitleid so deutlich zu lesen waren, einen zweiten Blick warf sie auf die zitternde Gestalt, die sich kaum mehr aufrecht zu halten vermochte, und wortlos legte sie ihren Arm um die Tochter und zog sie fest an sich.

Keine der beiden Frauen sprach. Dem Mann wurde es fast unheimlich: wenn sie doch lieber gejammert hätten! Er fühlte etwas wie Respekt vor seiner Frau, die nicht einmal weinte, die sich ganz aufgerichtet hatte aus ihrer gebeugten Haltung.

Aufrecht stand Johanna Henze. Nun war sie noch einmal wieder die Meisterin von früher, eine, die sich so hielt, daß man sich gar nicht an sie herangetraute. Aber ihr Gesicht war jetzt nicht so herb.

»In Gottes Namen denn,« sagte sie, schlug der Tochter den Schleier zurück von dem verweinten Gesicht und gab ihr einen Kuß. Und dann reichte sie ihrem Manne die Hand: »Ich danke dir!«


Nun war Helene Ohm wieder wie früher unterm Dach der Schmiede. Und doch nicht wie früher. Sie ließ sich nicht mehr an dem Fenster sehen, wo auf dem Nähtisch noch immer das gelbe Hänschen im Bauer saß und fröhlich zwitscherte. Die Mutter hatte ihr ihr altes Zimmer zurückgegeben; der Vater ging selber auf den Markt und kaufte blühende Töpfe ein, die er ihr aufs Fensterbrett stellte. Aber die Tochter saß in der Ecke auf dem kleinen, mit buntem Kattun überzogenen Sofa, und die Mullgardinchen des Fensters blieben fest zugezogen.

»Det muß Zeit haben, bis sie 't verwind't,« sagte Gottlieb zu seiner Frau. »Se war doch mal höllisch hochjeschnuffen, un nu soll se nischt weiter sind als 'ne jeschiedne Frau?!«

»Se wird sich wieder verheiraten,« sagte das praktische Lieschen. »Geld hat se ja, jung is se auch noch – das wäre das klügste. Denn heißt se nich mehr Ohm, un denn red't kein Mensch mehr davon.«

Jetzt redeten sie aber noch alle. Es hatte selten im Viertel etwas so viel Aufsehen gemacht, wie die Scheidung von Helene Schehle. Selbst nicht einmal der Tod des Königs. Das hatte man ja schon immer gewußt, daß es mit dem nicht richtig war – Lichter, die so sehr flackern, haben lange Schnuppen und zehren sich in sich auf – aber bei den Ohms hatte das Glück doch ganz ausgesehen nach langer Dauer. So reiche Leute! Alles hatten sie, und verliebt waren sie auch mächtig gewesen. Ob die Frau das so übelgenommen hatte, daß der Mann mal mit einer Tänzerin auf dem Rennen erschienen war? Das war doch noch kein Grund, um sich scheiden zu lassen. Da mußte noch ein anderer Grund sein. Aber was für einer?!

Und dies zu erforschen, war für die Leute im Viertel weit wichtiger, als zu erfahren, wie es denn nun eigentlich mit Schleswig-Holstein werden sollte, ob die Erbfolgefrage zugunsten des Augustenburgers entschieden wurde oder nicht. Preußen wollte da ganz alleine entscheiden, aber Österreich, das ebenso gut wie Preußen für Schleswig-Holstein gekämpft hatte, hatte doch auch mitzureden. O weh, das konnte Krieg geben! Die Spießbürger jammerten. Vierundsechzig war kaum vorbei, Achtundvierzig lag einem noch in den Knochen, und der heillose Mensch, der Ministerpräsident, ruhte nicht eher, als bis es wieder losging!

Kaum ein Mensch hatte Sympathie für den, der darum kämpfte, Preußen zum Hammer zu machen und Österreich zum Amboß.

Der Schmied in der Lindenstraße hatte seine eigenen Gedanken. Er ließ sich darin auch nicht beirren. Mochten sie zetern! Wenn es auch im Augenblick nach nichts Gutem aussah, es würde schon was werden. Er hatte gutes Zutrauen zu dem Junker von einst. Nur immer das Feuer schüren! Das Feuer muß hochlodern, damit das Eisen rot glüht. Dann erst läßt es sich schmieden.

In dieser Zeit, in der Henze seine Abende im Glashaus aufgab, denn es widerstrebte ihm, sich zu vergnügen, während Helene drüben im Vorderhaus saß wie eine Witwe in Trauer, las er wieder viel Zeitungen. Das hatte er gar nicht gedacht, daß er sich noch einmal für so etwas interessieren könnte. Nun war es ihm manchmal, als strecke sich Richard Johns lockiger Kopf über seine Schulter, als sähe der Student mit ins Blatt hinein: »Henze, Mensch, hörst du, siehst du, verstehst du?«

Henze hatte jetzt wenig, was ihn freute; eigentlich nur seine Angelbude draußen mit den Gartenbeeten rundum. Von denen aus seiner Tafelrunde waren zu viele weg; die Mieze aus der Ritterstraße war auch weg – sie war mit ihrem Mann nach außerhalb gezogen, Gott sei Dank – mit den Weibern hatte er ja auch nicht mehr viel im Sinn. –

»Müde kehrt ein Wandersmann zurück
Nach der Heimat, seiner Liebe Glück« – –

Frau Thorweg sang das noch immer. Sie hatte das Mansardenfenster offen, es klang herunter auf den Hof, wo die Gesellen pochten und die Pferde mit den Hufen das Pflaster schlugen. Mitten in das Geratter der Werkstatt tönte die Weise. Aber sie hatte jetzt nicht das Langgezogene mehr, mit dem sie in der Dämmerstunde aus Lieschen Krausnicks Küchenfenster herabgesunken war auf den Hof und sich da breit gemacht hatte mit Sentimentalität. Frau Thorweg sang jetzt ihre Kinder mit dem alten Lied ein. Da mußte es recht im Rhythmus erklingen – schwipp, schwapp, wie die Wiege ging, die ihr Fuß schaukelte, während ihre Hände die Kartoffeln schälten zum Mittagbrot.

In der Sonne stand der Meister unten und hörte zu. Er blinkerte mit den Augen, die Sonne schien hell. Das Lied drang ihm noch immer zu Herzen, aber er sah jetzt nicht mehr in die weite Ferne, über die Dächer weg, wo das silbrige Grau des städtischen Staubes sich mit dem Blust der Wolken verschmolz. Er sah auch nicht mehr auf zu Sternen, die unerreichbar hoch blinkten mit himmlischem Glanz. Das wußte er: wenn er einmal müde war, kam er auch zurück – hierhin. Aber er war noch nicht müde.


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