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Sechstes Kapitel

Hermann Henze war heute nicht in die Werkstatt gegangen – wer mochte denn arbeiten?! Alle Arbeiter feierten. Am Sonntag abend war Illumination gewesen; wo Berlin den Abend vorher schaurig beleuchtet gewesen war von düsteren Teerfackeln, von brennenden Holzstößen, da spendeten jetzt die in aller Eile beschafften winzigen Öllämpchen und dünne Kerzen, in Reih und Glied hinter die Fenster gestellt, ihr Freudenlicht. Eine Menge, die vergessen zu haben schien, durchwogte die Straßen, und die Bürgerwehr, die aus dem Zeughaus Waffen erhalten hatte, übte sich mit ihren Büchsen in immerwährenden Freudenschüssen.

Nur ein Mißton war im Freudenklang, ein Stein des Anstoßes im Wege: der Prinz von Preußen. Der kannte nichts anderes als Soldaten; der war schuld an allem. Er allein hatte den Befehl zum Feuern gegeben!

Vor dem Palais des Prinzen sammelten sich Borsigs Arbeiter, die aus dem Feuerland vorm Oranienburger Tor; sie schrieen wütend: dem Erdboden mußte es gleichgemacht werden!

Der Prinz war nicht anwesend. Er war verschwunden. Wohin? Darüber zerbrach man sich nicht weiter den Kopf: gut, daß er weg war! Es lebe der König!

Den Polen, die im Moabiter Zellengefängnis saßen, hatte der König Amnestie gewährt, mit unendlichem Jubel wurden sie nun in der Stadt herumgefahren. Sie hielten Reden von ihrem Wagen herab: »Polen und Preußen, ein Volk in ewigem Liebes- und Freundschaftsbündnis!« –

Eine neue glorreiche Geschichte hatte angehoben für die freie, wiedergeborene Nation. Das sagte der König, das sagten alle Zeitungen, warum sollte sich da der gemeine Mann nicht auch jubelnd freuen?!

Dem König, der hoch zu Roß die Straßen durchzog mit der schwarz-rot-goldenen Binde, ihm, dem Retter der deutschen Freiheit, wurden so laute Hurras gebracht, so tausendstimmige Hochs, daß sie dröhnten wie Donner, die den Erdball erschüttern.

Sie weckten die Toten nicht mehr auf, die man vors Tor getragen hatte in den Friedrichshain. Alle Glocken läuteten, alle Behörden, alle Gewerke, die ganze Bürgerwehr gab ihnen das Geleit; König und Minister grüßten die Stillen mit entblößtem Haupt. Ehrensalven knatterten und erschreckten die kleinen Sänger, die in den Fliederbüschen ihr Frühlingslied sangen.

»Friede, Eintracht, Liebe,« sprach an der großen Gruft der Prediger, »Ruhe, Mäßigung, Kraft!« –

Hermann Henze hatte an alledem nicht teilgenommen; ihn hielten nicht der allgemeine Jubel und der Freudenrausch, der eigentlich gar keinen Grund hatte, aber um sich griff wie ein ansteckendes Fieber, von der Arbeit ab. Eine Unlust war in ihm, die seine Tatkraft lahm legte. Alles war ihm gleichgültig jetzt. Er ging nicht aus. In seiner Schlafstelle, der engen, ungemütlichen Hofkammer, in die kein Sonnenstrahl fiel, döste er den ganzen Tag, um dann in der Nacht nicht mehr schlafen zu können. Sein Arm machte ihm keine Beschwerde mehr, er hätte ihn rühren können, aber er mochte ihn nicht rühren. Wozu? Warum?! Es war nun alles aus.

Wie ein eigensinniger Knabe, dem der Vater etwas verweigert hat, bockte er mit dem Geschick. Das Rad der Begeisterung, das auch ihn mit herumgewirbelt hatte in seinem gewaltigen Schwung, stand auf einmal still. Das Mädchen war ihm verloren! Und sein Freund kam nicht wieder! –

Der Student war noch immer nicht zurückgekehrt. In Angst, ja fast in Verzweiflung hatte Hermann zuerst auf ihn gewartet. Der Sonntag war vergangen – es konnte sein, sie hatten ihn doch noch aufs Korn genommen, und er war zu einem Bekannten geschlüpft, hielt sich da verborgen, bis er sicher war – aber der Montag verging, der Dienstag, der Mittwoch mit seiner großartigen Leichenfeier, – er kam nicht. Nun war es schon acht Tage her. Es mußte ihm ein Unglück geschehen sein!

Der verliebte Schmerz um das Mädchen mischte sich mit dem Schmerz um den Freund, Hermann wußte selber nicht, was ihm größeres Leid war. Morgens schlich er hinüber in die Studentenbude: da stand das Bett, da das zersessene Kanapee, der Klingelzug hing neben dem Handtuch an der geblümten Wand. Abends schlich er wieder hinüber, und dann setzte er sich wohl eine Weile aufs Kanapee und stützte den Kopf in die Hand.

Die Wirtin hatte an den Vater ihres Studenten geschrieben.

Der Pastor aus Meseritz kam, ein kleiner, dicker verängstigter Mann, der still die Hinterlassenschaft seines Sohnes einpackte und still mit ihr verschwand. Auch bei ihm in Meseritz war der Sohn nicht erschienen. Aber nur still, still davon! Ganz entsetzt hatte er sich in den vier Wänden, die so manche begeisterte Tirade mit angehört hatten, umgesehen und der geschwätzigen Frau, die gern erzählen wollte, was der Herr Student alles angegeben und wie er sich eingelassen hatte mit lauter Revolutionären, den Mund verboten. Stillschweigend hatte er die Miete gezahlt, die noch rückständig war vom letzten Monat, und all die Frühstücksgroschen, die die Frau ihm auf ihrer Schiefertafel präsentierte – sechsundvierzigmal zwei Schrippen und sechsundvierzigmal eine Tasse Kaffee – der Februar war noch mit dabei.

Wie niedergedonnert war der arme Mann: das konnte ihm Amt und Würden kosten, wenn jemand erfuhr, daß sein Sohn, ein Sohn aus geistlichem Stand, auf den Barrikaden gestanden hatte! Er weinte um den Sohn, der ihm entschwunden war im Wirbel der Zeit – ein verlorener Sohn, der sich jetzt vielleicht nährte von den Trebern, die die Säue fressen – denn daß sein Richard, sein Ältester, tot war, das konnte er nicht glauben. Aber er forschte nicht weiter nach ihm, er setzte nicht alles in Bewegung, um Kunde über den Verschwundenen zu erhalten, er war es ja seinen anderen Kindern schuldig, den Söhnen, die noch erzogen werden mußten, den Töchtern, die sich doch einstmals verheiraten sollten, daß er sich nicht ums Amt brachte.

Der Schlosser ließ sich vor dem geistlichen Herrn nicht sehen; er hatte das Gefühl, als ob dieser nicht sehr erfreut sein würde, ihn kennen zu lernen. Richard hatte ihm oft genug von Hause erzählt: »Über die Maßen demütig und doch von einem Hochmut, der auf einem ganz besonderen Stühlchen sitzt«. Ach, Richard, ja, der war anders gewesen! Der war von Herzen du und du mit dem Schlossergesellen!

Der Pastor reiste ab, das billige Zimmer wurde sofort wieder vermietet, einer, der bei Braumüller & Sohn in der Zimmerstraße, in der Lehre war, zog ein. Die letzte Hoffnung war hin. – – – – –

Trübselig saß Hermann in seiner dunklen Kammer. Meister Rummel hatte den Lehrjungen geschickt: wenn der Henze nun morgen nicht antrat, noch immer blau machte, dann brauchte er überhaupt nicht mehr wiederzukommen, dann nahm er sich einen neuen Gesellen, zu Dutzenden liefen sie jetzt ohne Arbeit herum. Der Mißmutige schmiß den Jungen hinaus. Und dann saß er auf seinem Bettrand – auf dem einzigen Schemel lag sein Arbeitsanzug – und stierte den blauen Kittel an, fast verlangend. Die Untätigkeit war fürchterlich, und doch war der Widerwillen noch größer: nein, zu dem Meister ging er nicht mehr zurück!

Da pochte es an die Tür. Unwillig rief er »Herein!« Unterstand sich der Kerl, noch einmal zu schicken?! Aber statt des dumm-pfiffigen Lehrbubengesichts streckte sich ein bäurisches Frauengesicht in die Kammer, ein Gesicht, dessen Haut verbrannt war und so holzhart von Wind und Wetter, daß es nicht einmal Schrumpeln zeigte.

Das Weib stand erst ein paar Augenblicke ganz stumm, dann sagte es: »Hermann, kennste mer nich mehr?«

Ach je, die Mutter! Der junge Mann war nicht allzu erfreut. Wäre sie zu einer anderen Zeit gekommen, dann, wenn er hätte sagen können: ›Siehst du, das da ist meine Braut, ein feines Mädchen – und das da ist mein Freund, ein Student, sein Vater ist Pastor in Meseritz –‹ ja, dann hätte ihm das Kommen der Mutter Freude gemacht. Aber jetzt – was wollte sie eigentlich hier? Er starrte sie an mit einem fast abweisenden Blick.

Sie aber kam auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte: »Du Lausejunge, warum haste so lange nich an mer geschrieben?«

Und doch war in diesem groben Ton etwas, das ihn weich berührte. Er fuhr nicht auf, wie er bei jedem anderen aufgefahren wäre, er sagte mit einer Beherrschung, über die er selber verwundert war: »Setzen Se sich!« Mit einer raschen Handbewegung fegte er die Arbeitskleidung vom Schemel bis in die Ecke. Sie war doch auch nicht mehr die Jüngste. »Sind Sie müde – wie haben Sie denn hergefunden?«

»Zu Fuß.« Sie hatte sich gesetzt. Sie knüpfte ihr schwarzes befranstes Kopftuch von der Haube. Ihre vielen übereinandergezogenen Röcke hatte sie sorgfältig gebreitet, nun glättete sie mit der knochigen Hand die Falten ihrer Schürze. »Vorgestern sein mer noch bis in den Fichtengrund hinter Birkhorst gegangen, gestern über Neumühle bis Französisch-Buchholz. Heute bis Berlin. Bis Birkhorst is eener mit mer gegangen, e Handelsmann, aber so lange Vater tot is, sein ich jo alleweil gewehnt, alleene zu gehn.«

Was, den weiten Weg war sie allein und zu Fuß gewandert? Das machte ihr hier in der Stadt keine Frau nach! Diese Leistung flößte ihm Achtung ein. Er stellte sich neben die Mutter.

Nun sie so dicht beieinander waren, sah man die Ähnlichkeit. Sie mußte einmal eine schöne Frau gewesen sein, eine sehr stattliche.

»Woll'n Sie was essen?«

»Han wat mitgebracht!« Sie lachte kurz auf, hob ihren obersten Rock und zog aus der großen Tasche des unteren ein Paketchen hervor: tiefdunkles Landbrot, das backte sie immer selber. Und das Stück durchwachsenen Specks war von dem eigengemästeten Schwein.

Nun lachte er auch; auf einmal freute er sich, daß sie da war. Speck und Brot hätte er auch hier kriegen können, aber solches Brot, solchen Speck nicht. Er aß mit Heißhunger, wieder auf dem Bettrand sitzend; große Happen bissen seine starken Zähne ab, und sie sah ihm vom Schemel aus zu. Sie verwandte keinen Blick von ihm: schmeckte das?

Und er nickte und sprach mit noch vollem Mund: »Mutter,« und streckte ihr die Hand hin. Nun war er auf einmal wieder ihr Sohn. Mit Brot und Speck war die Heimat bei ihm, und er in ihr.

Daß er der Mutter so lange nicht geschrieben hatte, das war doch eigentlich unrecht von ihm! So gut wie sie zu Fuß gelaufen war nach Berlin, hätte er ja auch nach Häsen laufen können, keinen Pfennig hätte es ihn zu kosten gebraucht! Er wurde rot.

Sie aber fragte nicht mehr, warum er so lange nichts hatte von sich hören lassen. Sie sah, es schmeckte ihm; der große Mann da war noch immer ihr Kind. Und sie sagte mit einem Lächeln, das ihre harten Züge milderte, und mit einer Verlegenheit, die ihrem derben Wesen eine fast jungfräuliche Verschämtheit gab: »Ich hatte bange um dir, Hermänne!«

Warum denn bange? »Unsinn, ach was!« Er wollte sie auslachen. Aber der Blick ihrer klugen blauen Augen bohrte sich so tief in ihn hinein wie damals, wenn sie ihn fragte, den Stecken schon bei der Hand: ›Haste ooch Äppel gemaust?‹ Er schwieg.

Sie sagte: »Unser Herr Pastor hat uns all dat erzählt – er liest de Zeitung. Die Berliner wollten ihren König nich mehr. Überhaupt keenen. Un dat se in den Straßen gefochten haben wie bei 'ner richtigen Schlacht – besonders die Arbeeter. Un dat viele dodgeschossen worden sind – besonders Arbeeter. Da kriegt ich die Angst. Jo jo, ich hab jo die Dochter, die Anna, die is jetzt verheirat't, die läßt dir scheene grießen – aber'n Jung is doch immer 'n Jung. Da hab ich mer ufgemacht. Bei dein'n Meester hab ich mir hingefragt, den seinen Namen wußte ich aus deinen letzten Brief von'n Herbst vorigtes Jahr, un ooch wo er wohnen duht. Se haben mir düchtig rumjeschickt. Aber ich hab ihn doch gefunden.« Sie triumphierte. »Un gefreit hat er sich sehre; alle ha'm se gelacht.«

»Bande!« Ingrimmig brummte der Schlosser zwischen zusammengebissenen Zähnen. Das wollte er ihnen einbläuen, daß sie das Lachen sein ließen über seine Mutter! Wenn die auch nur eine Bauersche war. Es war keine Kleinigkeit von der alten Frau, die in ihrem Leben nie weiter gekommen war als bis zur Grenze der Dorfmark, daß sie sich aufgemacht hatte nach dem großen Berlin, noch dazu in einer so unruhigen Zeit!

In einer Bewegung, die er nicht aufkommen lassen wollte, und der er sich doch nicht erwehren konnte, schrie er: »Mutter, Sie sind 'n Hauptkerl!«

»Is ja scheene, daß du dir freist,« sprach sie mit einer gewissen Würde. »Aber nu ich dir lebendig sehe, möcht ich doch wissen: warum dreibste dir rum? Acht Dage schon, sagt der Meester, biste nich dagewesen, haste nischt nich gearbeet't. Groß un stark biste, größer als dein Vater selig, un denn biste faul? Schäme dir!« Sie ereiferte sich, ihre ruhig-gelassene Art verließ sie, man merkte ihr unter der Rauheit die ganze Unruhe eines liebenden Mutterherzens an: war ihr Sohn in der Fremde ein Bummler geworden? Daß er ihr nicht geschrieben hatte, verzieh sie – es hatte ihr freilich weh getan, – aber was wurde aus ihm, wenn er nicht arbeitete? Dann tat er sich selber weh. Auf den Straßen hätte er sich herumgetrieben, in den Kneipen gesessen, den Umgang mit fleißigen Handwerkern längst gemieden, das hatte der Meister ihr gleich gesagt.

»So'n Lügner!« Eine Bitternis stieg dem jungen Mann in den Mund. Also das hatte er davon, daß er ehrlich gekämpft hatte für des Volkes Freiheit?! »Gehn Se mal hin zu dem Schubjack, ich laß 'n grüßen und er soll seine dreckige Schnauze halten, wenn er die Wahrheit nich weiß. Ich könnte Ihnen andres erzählen, aber« – er zuckte die Achseln – »es nutzt nischt, verstehn würden Sie mich nich. Ihr draußen seid doch anders als wir hier drinnen. Aber das wissen Sie, Mutter, belogen hab ich Sie niemals. Wenn ich Ihnen sage: ich hab nich gebummelt, is es auch so.«

»Denn is et gut,« sagte sie; weiter nichts.

Und dann sah sie ihm zu, wie er sich anzog: ein frisches Hemd, einen weißen leinenen Kragen, der nicht hochstand in Vatermördern, sondern übergeschlagen wurde über ein lose um den Hals geknüpftes seidenes Tuch. Das ließ ihm gut. Als er sich noch die Tolle über die Stirn gekämmt hatte, sah er hübsch aus. »Na, un haste denn ooch 'ne Braut?«

Vor der Frage hatte er sich schon gefürchtet.

»Ehmichs Cille wart't noch immer uf dir. Du hättst ihr schon feste versprochen, du heirat'st ihr, als ihr noch zum Paster in de Lehre tät't gehn.«

»Dummes Frauenzimmer! Ich kenn se nich mehr. Ich weiß nischt mehr von ihr. Überhaupt, was scher ich mich noch um Frauenzimmer!«

Sie sah ihn groß an. »Früher war'sch anders – nu, besser tät's schon so sein!«

Und dann sprachen sie nicht weiter davon. Aber als er neben ihr durch die Straßen zog – die Alte war gar nicht tot zu kriegen, nicht ein bißchen müde, sie mußte durchaus das Schloß sehen, wo der König drin wohnte – und die Unterhaltung nicht recht in Fluß kam, überlegte er: sollte er ihr nicht alles erzählen? Wenn er der Mutter nun sein Herz auftäte? Aber eine Scham hielt ihn zurück: wie stand er dann doch so blamiert vor ihr! Und sich aufreckend, in seinen bis dahin lässigen Gang Haltung legend, ging er neben der ärmlich gekleideten Bäuerin stolz, fast wie ein Student. Die Leute drehten sich nach den beiden um.

Sie sahen sich noch halb Berlin an, am andern Morgen wollte die Mutter wieder fort.

»Bleiben Se doch noch,« sagte er. Aber es kam ihm nicht recht von Herzen – was sollte er noch mit ihr? Und das fühlte sie auch.

»Nä nä,« sagte sie. »Ich muß meine Hühnger futtern. Un ich bin ufm Dorfe zu sehr geweehnt. Ich hab dir nu zu sehn gekriegt – du bist gesund, nu geh ich wieder heeme. Ich bin über sechzig. Dein Vatter war von Statur wie ich, aber die Großen un Starken sein wie die Bäume, in die dicken tut das Wetter zuerscht fahren: krach, die biegen sich nich. Un wenn ich dir nu nich noch mal zu sehen kriege, denn is es ooch so gutt!«

Es klang gleichgültig, sie zeigte keinerlei Bewegung, aber er sagte rasch: »Ich wer Sie bald mal besuchen kommen!« Er wußte es nun, der Abschied wurde ihr nicht leicht.

»Na –?!«

Zweifelte sie daran? Darüber dachte er nach, als sie sich in seiner engen Kammer auf ein Bett gelegt hatte, und er auf dem Boden auf einer dünnen Pritsche, die ihm die Wirtin geborgt hatte, nächtigte. Die Mutter schlief fest; er aber konnte nicht schlafen. Morgen früh um vier ging die Post von der Königstraße ab – daß sie sich nur nicht verschliefen! Die Mutter sollte mit der Post bis Löwenberg fahren; das litt er nicht, daß sie wieder den ganzen Weg zu Fuß lief. Bei Klausing in der Zimmerstraße war er gestern abend auch noch mit ihr gewesen, hatte sie traktiert mit Weißbier und Knobländern, aber weiter reichte nun auch seine Barschaft nicht mehr. Jedenfalls konnte er sich sagen, er hatte sie nach Kräften anständig aufgenommen – wie hatte sie gestaunt über Klausings Lokal – und doch wurmte es ihn: wenn er mehr Geld hätte, hätte er ganz anders auftreten können!

Unwillkürlich flogen seine Gedanken nach der Schmiede am Belle-Alliance-Platz: so einer wie der Schehle, ja, der hatte Geld! Hermann wußte keinen Meister im ganzen Viertel, welches Gewerbe er auch trieb, dem es so gut ging wie dem Hof- und Kurschmied. Wer es doch auch einmal so weit bringen könnte!

Ehrgeizige Pläne wachten auf in Hermann Henze. Es lag sich schlecht auf der Diele, auch dem hart Gewöhnten taten alle Knochen weh. Er fluchte in sich hinein: verdammtes Hundeleben! Aber doch würde er morgen zu Meister Rummel zurückkehren, ihm vielleicht ein gutes Wort geben müssen, daß er ihn wieder aufnahm – wo sollte er denn so schnell andere Arbeit finden? Er wälzte sich, und dann stand er auf und setzte sich auf den Schemel.

Ein bißchen Mondlicht fiel in die Kammer, es schien gerade auf die Schlummernde. Wie langgestreckt die alte Frau dalag! Ihr Oberkleid hatte sie abgetan, sie lag im Barchentleibchen, die mageren Arme nackt; die großen Hände hatte sie auf der Brust gefaltet. Der Sohn hielt den Atem an: vielleicht sah er sie so zum letztenmal! Denn daß er sie einmal besuchen würde, das glaubte er selber nicht. Ja, wenn er daheim so auftreten könnte, wie er sich's ausgemalt hatte, als er in die Lehre kam nach Berlin! Als wohlbestallter Meister. Seine Freunde von früher traktieren könnte und für die Armen des Dorfes ein reichliches Stück Geld zurücklassen. Aber so – was war er denn? Nur ein Geselle, der Geselle bleiben mußte sein Leben lang, trotzdem er etwas leisten konnte! Er stützte den schweren Kopf in beide Hände.

In unerfreulichem Grübeln saß er so da, bis der Morgen graute und er die noch immer ruhig Schlafende wecken mußte.

Der Abschied war kurz, sie machten beide nicht viele Worte.

»Kommen Sie gut nach Haus,« sagte der Sohn. Und die Mutter reichte die Hand zum Postkutschenschlag heraus: »Ich dank d'r ooch scheene!«

Dem Postillon band er's noch auf die Seele, die Frau ja am rechten Ort aussteigen zu lassen. Nun hatte er seine Schuldigkeit getan! Mit einem Aufatmen trat Hermann zurück. Der Schwager stieß ins Horn: erst gab es einen verunglückten Ansatz, dann aber kam der Schneddereddeng ganz klar und richtig heraus. Die Räder fingen sich an zu drehen, fort rollte die gelbe Karrete die Königstraße hinunter dem Tore zu.

Von der Mutter war nichts mehr zu sehen, und doch fühlte der Sohn keine Erleichterung. Im Gegenteil, er war traurig. Versonnen starrte er der Straße nach, die im Frühnebel graute; aber dann schüttelte er sich: das kam nur daher, weil er wieder zum alten Meister mußte! Gott sei Dank, dazu war es jetzt noch zu früh, vor sieben machte Rummel die Werkstatt nicht auf. Man konnte ruhig noch ein bißchen spazieren. Und wie mit unsichtbaren Fäden zog es den Schlosser in die Gegend, in der er seine Hoffnung und seine Sehnsucht begraben hatte.

Lange war er hier nicht mehr gegangen, sehr lange nicht, über ein paar Wochen nicht mehr. Die Schützenstraße kam ihm ganz verändert vor: die Häuser nicht mehr so einladend – niedrig und altmodisch – die Bäume waren auch nicht so wohlgewachsen wie die Unter den Linden oder im Tiergarten. Es beruhigte ihn förmlich, daß er es nicht mehr so schön hier fand.

Als er am Schulzeschen Haus vorüberging, drüben auf der anderen Seite, gab es ihm einen Ruck; es wollte ihm den Kopf nach rechts zwängen: da wohnte sie! Aber er hielt ihn mit Gewalt nach links. Es sollte ihm keiner nachsagen, vor allem er sich selber nicht, daß er sich so hatte um ein dummes Mädel. Pfeifend, die Hände in den Hosentaschen, bog er ab in eine der langen Straßen, die hinauf zum runden Platz laufen.

Er hatte es gar nicht im Sinne gehabt, zur Schmiede zu gehen, aber auf einmal stand er vor ihr. Hier war schon Betrieb. Ein Karren von Tempelhof, der zu Markt wollte, war vorgefahren, und ein Stalljunge führte eben ein edles Pferd unterm Torbogen durch. Das Pferd war in Decken, die eine Krone zeigten, bis über den Kopf eingehüllt, nur Augen und Ohren guckten heraus; aber es zitterte, und der Pferdebursche machte ein betretenes Gesicht. Der Stallmeister hatte ihn schnell hergeschickt, das Tier war unruhig gewesen die Nacht, hatte nicht gefressen, heute in aller Frühe zeigte sich's, daß es lahmte. Gestern war's beschlagen worden. Wenn der gnädige Herr das erfuhr, verloren alle miteinander die Anstellung und der Schmied die gute Kundschaft.

Hermann war stehen geblieben: das Tier mußte Schmerzen haben.

Der Meister war selber herausgekommen, er knurrte verbissen: was konnte er dafür, konnte er alle Pferde selber beschlagen? Das hatte der erste Geselle getan. Kann der Meister dafür aufkommen, wenn der Geselle Dummheiten macht? Der gallige Mann wurde fahl vor Wut. Er hatte dem Pferd das lahmende Bein heben wollen, aber das nervöse Tier schlug heftig aus. Der Schmied taumelte rückwärts und setzte sich hart zu Boden.

Kaum konnte der Bursche den Halfter festhalten. Das Pferd, ein junges Tier, des Beschlagens ungewohnt, hatte noch alle Schrecken vom gestrigen Tage in den Gliedern. Es stieg, es schlug mit den Vorderhufen, als wollte es die Luft zu Schaum klopfen, es riß den schmächtigen Burschen mit in die Höhe, es sprang und schleifte ihn.

Schehle, dessen Kniee noch ein Hufschlag gestreift hatte, kam angehinkt: »Warum kommt Er denn so früh?« schrie er gereizt. »Kann Er nicht 'ne Stunde später kommen, wenn meine Gesellen auf sind?! Was wollen Sie?« schrie er, nun noch gereizter, den müßigen Zuschauer an.

Hermann hatte sich nahe aufgestellt, nun zog er die Hände aus den Hosentaschen: »Ich werd'n mal halten!« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er den Pferdeburschen auf die Seite geschoben. Seine starke Hand, in der es zuckte von pulsendem Leben, konnte merkwürdig ruhig sein, sie faßte das Tier. Mit der Linken es über die Nüstern streichelnd, zwang er den schnaubenden Pferdekopf immer näher und näher zu sich heran. »Ei, so'n schönes Pferdchen, so'n gutes Pferdchen! Mein kleines Pferdchen!« Das waren Liebeslaute; anders hätte Hermann Henze seine Minne auch nicht geliebkost.

Das Pferd stand.

»So. Nu sehn Sie mal nach!«

»Vernagelt,« brummte der Meister. »Das Eisen muß ab!«

»Na, denn man fix!« Hermann war plötzlich bester Laune; er dachte nicht mehr an den Abschied von der Mutter, nicht an den verlorenen Freund, nicht an Minne, nicht an Meister Rummel, nicht an all seinen Verdruß, er dachte nur an das Pferd. Er empfand es wie Wollust, das beherrschen zu können. Er warf den Rock ab, hemdärmelig stand er, breit die Beine gesetzt.

Ein wohlgefälliger Blick des Schmiedes streifte den starken Menschen: den riß der Gaul so leicht nicht hoch! Aber mißtrauisch fragte er noch einmal: »Was wollen Sie hier?«

Der Schlosser achtete gar nicht auf die Frage, er schrie den Stalljungen an: »Mensch, stell dich doch nich so dämlich an! Da – auf die Seite! Halte man immer feste gegen, so krieg ich ihn ran!« Er hatte das Pferd an den nächsten Eisenring geführt, dort band er es kurz an. Wenn der Meister dem Gaul den Fuß halten wollte, würde er schon das Eisen herunterkriegen.

Schehle setzte eine spöttische Miene auf: das wollte er doch mal sehen, ob dieser Kerl sein Handwerk verstand! Er sah kritisch zu, aber er litt es, daß der Fremde sich an die Arbeit machte.

Hermann hatte lange kein Hufeisen heruntergenommen, noch dazu solch einem Pferd, das bei der leisesten Berührung schon zuckte. Der Meister, der den Fuß hielt, schwitzte von der Anstrengung, aber auch Hermann schwitzte: das war keine Kleinigkeit.

»Donnerwettstock noch mal!« Vernagelt war das Tier nicht, aber einen Nagel hatte es sich eingetreten. »Oh – oh – ohla!« Er hatte mit Daumen und Zeigefinger im Spalt des Hufes gesucht. Wenig gefehlt, und es wäre ins Leben gegangen!

Schehle machte ein betroffenes Gesicht: das wäre ein schönes Malheur gewesen! Ganz entsetzt betrachtete er den Nagel, der ohne Kopf, lang und rostig, auf der ihm flach hingehaltenen Hand sich zeigte.

Das war aber nicht hier bei ihm passiert, dagegen mußte er doch sehr protestieren! Er fuhr den Pferdeknecht an: »Könnt Ihr denn nicht besser aufpassen? Wenn der Gaul nu krepiert? Im Stroh ist der Nagel gewesen. Nachteulen! Schlaft Ihr beim Strohaufschütten?!« Und mit einer gewissen Dankbarkeit sich gegen Hermann wendend, sagte er: »Sie verstehen den Beschlag?«

»Jawohl.« Hermann richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf.

Der Stalljunge führte das jetzt beruhigte Tier fort. Der Kurschmied gab ihm noch Verhaltungsmaßregeln mit: auswaschen und dann immer fleißig kühlen. Dann konnte morgen der Gaul schon wieder beschlagen werden. Schehles Galligkeit hatte sich etwas verloren: er war froh, daß es so abgegangen war.

Hermann verstand den Blick des Meisters, der ihn jetzt musterte, zu deuten, und er nutzte seinen Vorteil aus. »Brauchen Sie keinen Gesellen?« Er fragte es rasch.

Schehle machte ein finsteres Gesicht. »Ich entlasse den ersten Gesellen. Gestern erst hat der Mensch das Pferd beschlagen, heute schon das Malör – der Mensch hat keine glückliche Hand. Sie haben 'ne glückliche Hand. Wann können Sie antreten?«

Er fragte nach weiter gar nichts, verlangte auch nicht das Gesellenbuch zu sehen. Ganz verdutzt stand Henze nach wenigen Minuten draußen auf dem Platz und sah nach der Schmiede zurück: so was war ihm noch nicht vorgekommen! Da sollte er nun wirklich morgen Geselle sein?! Er hatte weiter nichts mehr nötig, als sich beim alten Meister sein Buch zu holen und sich ein Zeugnis schreiben zu lassen.

Mit einer Art von Zuneigung gedachte der so plötzlich ans Ziel seiner Wünsche Gelangte des unfreundlichen Mannes. Was anderen oft nicht an ihm gefiel, schien dem Schehle gerade zu gefallen. Und daß der sich nicht daran gestoßen hatte, daß er seit Jahren schon nicht mehr als Schmied gearbeitet hatte – Hermann hatte das gesagt, ungefragt – das imponierte ihm: der Schehle mußte viel verstehen, daß er's einem anroch, was man leisten konnte. Er sollte es aber auch nicht zu bereuen haben, daß er sich den Gesellen sozusagen von der Straße aufgelesen hatte!

Hermann Henze schlug sich an die Brust, in der es tobte von unbändigem Jubel. Herrgott, solch ein Glück! Er hatte die Mütze abgenommen wie aus Respekt vor seinem Glück; es war ihm heiß geworden vor lauter Freude. Die kühle Morgenluft des freien Platzes, über den vom Tor her die Düfte der Tempelhofer Äcker strichen, beseligte ihn: hier, hier sollte er nun schaffen?! In einem glücklichen Leichtsinn lachte er übers ganze Gesicht: was fragte er nun nach dem, was gewesen war, jetzt hatte er wieder etwas Neues, für das es lohnte, sich hinzugeben mit ganzer Seele. Es gab nichts Besseres auf der Welt, als da in der Schmiede den Hammer zu schwingen.


Wenn Minne ihren früheren Liebsten jetzt gesehen hätte, würde es ihr doch einen Stich durchs Herz gegeben haben; aber sie sah nun nie mehr hinterm weißen Mullgardinchen des Fensters verstohlen nach ihm aus. Und von den anderen Schulzes hatte auch niemand Zeit, auf die Straße zu gucken.

Das Leben ging wieder seinen alten Gang. Vom frühen Morgen an schrillte die Ladenklingel: »For'n Sechser Milch!« »For zwee jute Jroschen jeräucherten Speck!« »For zwee Fennje Feffer!« In der Stube hinter dem Laden knallten Pfropfen aus den Weißbierkruken, als wären's Sektflaschen.

Vater Schulze hatte die ganze Zeit über einen »Bammel« gehabt, wie er sagte. Er hatte unruhige Nächte. Hatte er sich denn immer so betragen, wie es von einem königstreuen, gehorsamen, ehrbaren Bürger erwartet wurde? Sein Gewehr hatte auf den Barrikaden geschossen, Mieke ihrer war bei den Hauptrebellen am Alexanderplatz mit dabei gewesen, und sein andrer zukünftiger Schwiegersohn – denn daß sich etwas anbandelte zwischen Minne und ihrem Schützling, merkte er schlau – war verfolgt worden von den Soldaten. Den großen Blonden hatte man im Hause verborgen gehalten, bis es ganz ruhig geworden war am nächsten Tag, und der junge Mann, der Tierarzt studierte und schon vorm Examen stand, ungefährdet heimgehen konnte ans Neue Tor, wo er wohnte bei seiner Mutter. Diese beiden, den August Lehmann und den Wilhelm Heinemann, konnte und wollte Christian Schulze ja nun nicht beiseite schaffen, aber das Gewehr, das Gewehr! Das mußte fort! Mit widerstreitenden Gefühlen betrachtete er seine alte Flinte, die die Witten ihm wiedergebracht hatte.

Albert Witte hatte sie nicht von sich geworfen, um besser laufen zu können, auf der Barrikade an der Jägerstraße hatte er sich gehalten als Letzter noch. »Mutter, det war'n Fez – un jekriegt haben se mir denn doch nich!« Den Bruder Karl hatten sie leider beim Wickel genommen. Die Gefangenen hatte man nach Spandau transportiert; sie waren zwar bald wieder entlassen worden, auch der Witten ihr Karl war jetzt wieder da, aber er wußte viel zu erzählen von Fußtritten und Kolbenstößen und rohesten Schimpfreden.

In die Abneigung, die Christian Schulze jetzt gegen sein altes Gewehr empfand, mischte sich doch etwas wie leise Anerkennung: Mut, Hingabe, Opferwilligkeit waren doch auch bei diesem Kampfe gewesen. Aber was hatte er genützt?

In der Wirtsstube hörte man die widerstreitendsten Meinungen. Für den einen war die Erdkugel jetzt in eine ganz andere Lage gerückt, sie schwebte den himmlischen Sternen ganz nahe im ewigen Frieden. Es gab ein paradiesisches Leben in der allgemeinen Völker- und Menschenliebe. Ein Herz – ein Portemonnaie!

Ein anderer aber sah das Vaterland tief am Boden, noch niedergetretener als Anno dazumal. Freiheit – ein leerer Begriff. Gleichheit – ein Unsinn. So lange die Welt stand, hatte es nicht Freiheit und Gleichheit gegeben!

Wenn man wenigstens die Freiheit hätte, die Bürgerwehr herauszuschmeißen, diese Leute, die sich so wichtig machten, in jedes Haus schnüffelten, überall was Unzulässiges fanden, sofort zur Ordnung riefen, wenn nur ein paar zusammenstanden oder abends mit ein bißchen Krakeel aus dem Wirtshaus kamen. Da sollte der König doch lieber das Militär wiederkommen lassen.

An den matten, linden Abenden, die in diesem Frühsommer schon etwas vom Hochsommer an sich hatten, spazierten auf den stillen Seitenstraßen die jungen Mädchen Arm in Arm und sangen sehnsüchtig. Aber auch Unter den Linden, am Schloßplatz, im Tiergarten, Unter den Zelten; überall wurde es laut:

»Komme doch, komme doch, schöne Garde,
Komm doch wieder nach Berlin.
Woll'n dich nicht mit Steinen schmeißen,
Sollst durch Ehrenpforten ziehn.
Komme doch, komme doch, schöne Garde,
Komm doch wieder nach Berlin!« – –

Und die Bürgergarde wurde aufgelöst, die wirkliche Garde kam zurück, von Haus zu Haus wurden die Gewehre eingefordert. Da faßte Christian Schulze einen Entschluß. Wenn sie nun an seinem alten Schießprügel herumschnüffelten – wer weiß, ob sie nicht die Rebellenhände daran rochen?! Die Flinte mußte weg. Aber wohin mit ihr? Auf dem Hauklotz zerkleinern, in den Ofen schmeißen? Ach, seine alte Flinte, die war ihm wie eine alte Liebste: man nimmt sie nicht mehr in den Arm, aber man hat immer noch ein dankbares Mitleid für sie. Ihr war es das beste, er grub sie ein. Und ein anständiges Begräbnis sollte sie kriegen. Christian Schulze lud förmlich ein zu dieser Feierlichkeit. – – – – –

Der Schulzesche Keller war tief und dunkel. Es ging eine steile Stiege viele Stufen hinab, wie in ein gähnendes Höhlenloch. An den rauhen, mit Kalk beworfenen rissigen Wänden rannten erschreckte Spinnen im Schein der Laternen, die mit trüb-flimmernden Augen durch die Finsternis blinzten.

»Halt ihr jrade, Lene! Herr Heinemann, hierhin, immer mehr hierhin, det ick ooch sehen kann bei meine Arbeit mit Lehmannen!«

Vater Schulze und August Lehmann gruben das Loch. Sie hatten sich im hintersten dunkelsten Keller, der durch einen morschen Lattenverschlag vom übrigen Raum getrennt war, den Platz ausgesucht.

Sie gruben emsig, schon hatten sie einen ganzen Wall feuchter, modriger Erde aufgeworfen; sie sprachen nicht dabei, und auch die um die Grube herstanden, leuchteten und zusahen, sagten kein Wort.

Die einzige Luke, die nach der Straße hinaufging, war mit Stroh fest verstopft, kein Lichtstrählchen drang hinab in die Finsternis, kein Laut vom Leben da droben. Es war totenstill, man hörte nur ab und zu das Rieseln des Mörtelstaubes an der bröckligen Mauer und das Tropfen der Feuchtigkeit von der Gewölbedecke.

»Wie im Grab,« flüsterte Minne und erschauerte leicht. Der große blonde Mann, der neben ihr stand, rückte ihr ein wenig näher, drehte die Laterne, daß der Schein auf ihr holdes Gesicht fiel, und lächelte ihr ermutigend zu.

»Noch tiefer?« fragte August, verschnaufte und guckte fragend seinen Schwiegervater an. »Ick denke, wir buddeln ihr nu in.«

»Kann man ihr nu ooch nich mehr finden?« fragte ängstlich Frau Lene.

August lachte auf: »Die liegt so tief unten wie 'ne dodige Leiche – wie die deutsche Freiheit. Wer die rausbuddeln will, hat wat zu tun, det sage ick Ihnen, Schwiejermutter. So, Mieke, nu jib ihr man her!«

Aber Christian Schulze nahm sein altes Gewehr der Tochter ab. Er hielt es behutsam vor sich auf beiden Händen, wie man ein Neugeborenes über die Taufe hält. Und doch ging es hier mit etwas zu Ende. Er blickte trübselig.

Und trübselig wie er sahen die andern auch aus, selbst die jungen, blühenden Mädchengesichter; seltsam bleich erschienen sie alle im unheimlichen Kellerlicht. Wunderlich verzerrte Schatten warfen die Gestalten gegen die uralte Mauer.

»Wir warten bloß noch auf die Witten,« sagte Christian Schulze, »sie wird sich jleich melden.«

Und richtig, ein Pochen wurde hörbar, dreimal hintereinander. Das war so unheimlich, daß die Mädchen sich aneinander drängten wie gescheuchte Gänse.

Die Witten kam die Kellerstiege heruntergeklettert. So hatte sie mit dem Nachbar das Zeichen vereinbart: wenn sie es war, so pochte sie dreimal hintereinander. Gut Freund und kein Lauscher nah.

Im Arm trug sie in ein Tuch geschlagen ein längliches Etwas, und sie enthüllte es nun feierlich und sprach feierlich, indem sie neben Schulze hintrat und das Hackebeil, das ihr Karl geführt hatte, ebenso auf beiden Händen hielt wie er seine Flinte: »Det hört ooch mit zu. Ob Jewehr oder Beil, vor Jott sind se eins: der Freiheit Waffen!«

Christian Schulze wagte kein Wort des Widerspruchs; er hütete sich wohl, etwas gegen das Hackebeil zu sagen, er hatte einen höllischen Respekt vor der Frau bekommen.

Die Witten hatte nicht haltlos geklagt und gejammert um ihre Luise. Wohl hatte sie geweint um ihr bestes, ihr fleißigstes Kind; aber als der erste Schmerz und seine Leidenschaft vorübergerauscht waren, da hatte sie sich gefaßt. Ihre kleine rundliche Gestalt schien gewachsen. Sie schob nicht mehr eilig um alle Ecken, jetzt hatte sie ein Schreiten.

Das war 'ne Frau! Der Nachbar sah sie ein wenig scheu von der Seite an.

Minne schluchzte; sie mußte jedesmal weinen, wenn sie die Witten sah – arme Luise!

Die Witte sagte: »Na, denn man zu!«

»Noch 'n Oogenblick!« Es fiel Schulze etwas ein, eilig lief er nach vorn in den Keller; da hatte er eine Kiste stehen, mehr lang als breit, die brachte er nun herzu. Stroh war darin. Und er legte die Flinte sorgsam hinein, das Beil daneben, und deckte beide zu. Nun kamen sie doch nicht so nackt und bloß in die kalte Erde, nun hatten sie einen Sarg.

Und sie schlangen einen Strick um den Sarg und ließen ihn hinab in die Grube.

»In Jottes Namen!« Christian Schulze nahm sein Käppchen ab.

Und der junge Tierarzt hielt die Laterne über die Grube, so daß ihr Schein hell beleuchtete, was darinnen ruhte, und sprach ernsthaft:

»Dem dunklen Schoß der heiligen Erde
Vertrauen wir der Hände Tat,
Vertraut der Sämann seine Saat,
Und hofft, daß sie entkeimen werde
Zum Segen, nach des Himmels Rat.«

Wilhelm Heinemann deklamierte mit Schwung, er war gebildet und schwärmte für seinen Schiller. Minne sah ihn bewundernd an.

Vater und August Lehmann schaufelten jetzt die Grube zu; es ging eilig, es war so traurig, so feuchtkalt im Keller, sie hatten alle eine Sehnsucht nach Tag und freier Luft.

Minnes Tränen rannen wieder aufs neue; das hier rührte sie so, sie mußte hier mehr als sonst an ihre Freundin Luise denken. Die arme Luise! Die lag nun auch so einsam und kalt tief in der finsteren Erde! Eine mitleidige Wehmut erfüllte ihr Herz. Es war so natürlich, daß sie, als sie die stockdunkle Treppe hinauftappte – ein Luftzug hatte ihnen die Laternen ausgeblasen – und Herr Heinemann ihre Hand faßte, um sie zu führen, diese Hand festhielt.

Auch Christian Schulze bot der Witten die Hand. Wenn er auch eine Zeitlang nicht mit ihr einig gewesen war, das hätte er doch nie gewollt, daß sie auf seiner Treppe Hals und Beine brach. Und überhaupt jetzt!

»Jeben Se Achtung, fallen Se nich!«

Da sagte sie im Dunkeln neben ihm in einem Ton, wie er ihn noch nie von ihr gehört hatte: »Hätten Se mir man jleich mit injebuddelt, Schulze!«

»Nanu, Witten?!« Sie waren am Licht. Er klopfte sie auf die Schulter: »Man immer munter! Sie haben ja noch Ihre beiden Jungens!«

Sie drehte ihm ihr ganz klein gewordenes, kummervolles Gesicht zu: »Die hab ich nich mehr!«

»Woso denn? Warum denn nich mehr?« Er verstand sie nicht. »Die lassen sich doch jetzt janz jut an. Besser, als ich't von die Bengels jemals jedacht hätte!«

»Die machen nach Amerika. Nächste Woche schonst!«

»Wa-as?! Sind Sie dammlich, Witten?« Er starrte sie an. Die Frau war ihm unheimlich. Was redete die da?! »Nach Amerika?!«

Sie nickte. »Sie müßten sich stellen jetzt – Soldaten werden. Det wer'n se nich!« Ihre Stimme wurde plötzlich kräftiger, etwas vom alten energischen Klang kam hinein. »Soldatenknechte?! Nee, det soll'n se nie sein, dazu sind se mir ville zu sauer jeworden, meine Jungs!«

Sie strahlte plötzlich auf wie in einem glücklichen Traum, ihr Kummergesicht erhellte sich, sie preßte des Nachbars Hand, als wollte sie die zerquetschen: »Meine Jungs – freie Männer! Im freien Land! Wat ick mir erspart habe für meine alten Dage, det kriejen se mit. Meine Lawiese braucht ja nischt mehr. Un ick – ick fange noch einmal wieder von vorne an!«


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