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Fünftes Kapitel

Von den Kirchtürmen läuteten die Glocken Sturm. Durch die Lüfte zog ein Geschrei. Es tobte durch Berlin. War das die Stadt, die eben noch eine Illumination geplant hatte für den Abend aus Freude über gewährte Gnaden? Waren das noch Berliner, die gutmütigen Berliner, die jetzt schrieen: »Verrat! Zu den Waffen! Man mordet das Volk! Barrikaden, Barrikaden!«

Die Kaiser-Franz-Grenadiere, die mit gefälltem Bajonett das Volk, das in die Schloßportale drängte, zu seinem König wollte, zurückgetrieben hatten unter Trommelwirbel, über den Platz, über die Kurfürstenbrücke – wie eine wehrlose Herde vor sich hergejagt – hatten geschossen. Zwei Schüsse nur, und keiner hatte getroffen.

»Soldaten haben geschossen, auf ihre Brüder, die Bürger, geschossen! Militär zurück! Barrikaden – sie haben geschossen!«

Ein wütendes Rachegeheul stieg zum Himmel auf. Wer achtete noch darauf, daß vom Schloßbalkon eine weiße Fahne geschwenkt wurde, daß einzelne Besonnene sich durchdrängten, sich Gehör zu verschaffen suchten und fast weinend flehten: »Ein Mißverständnis, ein unglückseliges Mißverständnis!« Man hatte geschossen, aufs Volk geschossen!

»Dreiunddreißig Jahre gedrückt wie 'n Vieh,
Runter mit den Hunden der Monarchie!
Blut soll fließen im deutschen Land
Für das deutsche Vaterland!«

Gellende Schreie, Gepolter, Gebrüll, prasselnder Hagel von Steinen, entsetztes Kreischen. Und Trommelwirbel, dumpfer Kolonnentritt, Kommandorufe, Flintengeknatter. Dazwischen die Stimmen der Glocken. Sturm! Sturm!

Heraus mit den Eingesperrten aus der Stadtvogtei, heraus mit den Schuldgefangenen aus dem Ochsenkopf! Heute ist ein jeder willkommen, heißt Mitbürger, Bruder! Sturm! Auf zum Sturm!


Durch die Straßen lief Luise Witte. Mo es am tollsten zuging, da drängte sie hin. Wo es am heißesten tobte, da war er sicher zu finden, er, der Starke, der Mutige! Denn daß er kämpfte, des war sie sicher; er war ein Held. Er war keiner wie ihre Brüder, die die Mutter erst hatte antreiben müssen: »Raus, raus mit euch, tüchtig mit ran, sie schießen auf Bürger, det zahlt ihnen heim!« Dem Albert hatte die Mutter die alte Flinte in den Arm gedrückt; dem Karl die Axt, die beim Herde lehnte, ums Holz zu spalten, in die Hand gesteckt. Nein, er war einer, den man nicht anzutreiben brauchte – sie schießen aufs Volk – wo geschossen wurde, da war er!

Luise war fortgestürzt, vergebens hatte die Mutter ihr nachgeschrieen: »Lawiese! Lawiese, bleib du man hier!«

Nach der Junkerstraße war Luise zuerst gelaufen; die Haustür stand offen, kein Mensch war daheim, eine alte Frau nur guckte aus einer Tür, schlug sie aber gleich ängstlich zu, und ein Kind weinte. Wie ein stöbernder Wind fuhr Luise durchs Haus; heute traute sie sich's, nach ihm zu rufen. Sie schrie seinen Namen, sie klopfte an alle Türen, niemand meldete sich. Er war fort, gewiß fort mit dem Studenten. Daß ihm nur nichts geschah!

Eine plötzliche Angst überfiel sie. Eine Angst, nicht um sich: was bedeutete sie? – heute noch weniger als je zuvor. Sie ahnte dunkel die Größe der Stunde. Aber für ihn fürchtete sie.

Schon hatte sie den Ersten fallen sehen, an der Ecke der Jäger- und Oberwallstraße. Eine Barrikade war dort errichtet von umgestürzten Wagen, eine große gelbe Postkutsche streckte die Räder in die Luft, und ein Omnibus; Möbel waren aufeinander getürmt, ein schwarz-rot-goldener Fetzen wehte herunter. Mit Trommelschlag rückten Soldaten heran. Da war der Erste gemordet worden. Ob er von einer Kugel getroffen war, von einem Bajonettstich durchbohrt, das hatte Luise nicht sehen können, sie sah ihn nur hintenüber fallen, zwischen die Brüder herab, die mit Flinten und Beilen, Dolchen und eisernen Stangen, Revolvern und Knütteln, Rapieren und Hämmern, Spitzhacken und Grabscheiten, Pistolen und Stockdegen, mit allerlei Waffen zu Schuß, Hieb und Stich auf den Knieen lagen hinterm Verhau.

War er hier? Unerschrocken schlüpfte sie näher, so nahe als möglich. Hier mußte er weg, hier war's zu gefährlich! Jetzt hatten die Soldaten die Barrikade erreicht, jetzt rissen sie sie auseinander, vor den Angreifern sprangen die Verteidiger auf. Hier war's nicht mehr zu halten – noch ein paar Schüsse ins Blaue hinein – dann weg, vor den Soldaten her zu einer neuen Verschanzung geflüchtet.

Nein, hier war er nicht dabei! Ganz ruhig sah Luise sich um. Sie war die einzige, die gelassen stand unter all denen, die liefen.

»Mädchen, weg hier, biste denn toll?« Ein Mann mit Beil und rostiger Stange mühte sich, sie mit sich fortzuziehen. Sie riß sich los.

Aus den Fenstern rief man ihr zu, man winkte, eine Haustür öffnete sich ihr – sie schüttelte stummverneinend den Kopf. Sie mußte ihn ja suchen.

Und sie stieg über die Trümmer der Barrikade, ging so gelassen weiter, als sei sie gefeit. Hatte sie ihn denn nicht schon oft, ach, so oft gesucht?!

Wie eine Nachtwandelnde ging sie durch den Tumult, die Blicke immer geradeaus gerichtet. Das Haar wehte ihr, ihre grobe Schürze – sie hatte gerade die Stube gescheuert, heute am Sonnabend – hatte sie sich nicht Zeit genommen, abzubinden; und in Pantinen kam sie daher. Um den Hals hatte sie kein Tüchlein geschlungen, weiß und mollig leuchtete er nackt über dem ärmlichen Kleid.

Sie rannte jetzt nicht mehr, sie ging langsam und suchte spürend. Wo ein Geschrei erscholl, strebte sie hin.

Auf der Kurfürstenbrücke wurde mit Kartätschen geschossen. Dort standen Soldaten; in die Königstraße feuerten sie ununterbrochen hinein. Das Pflaster der Straße war aufgerissen, von den Dächern flogen Steine, Glasscherben, Tiegel, Pfannen, Dachziegel und Schieferplatten wie dichter Regen. Drähte waren unten querüber gespannt, Waschleinen, Stricke aller Art, und Gräben aufgeworfen. Bretter, Balken, Haustüren, Tonnen, Mehlsäcke, Sirupfässer, Wollballen hoch aufgestapelt; Betten dazwischen gestopft und Matratzen und Erde zum festen Wall.

Es wurde dämmerig. Hier kam Luise nicht durch. Sie wandte sich um. Ein wilder Jubel scholl ihr ins Ohr, johlend wurde vom Schloß her ein Mann getrieben, ein Herr in Frack und Zylinder. Er beeilte sich sehr, den hohen Hut hatte er tief in die Augen gedrückt, seine Schöße flaggten halb abgerissen. Vor ihm ein johlender Haufe, hinter ihm ein johlender Haufe. »Nationaleigentum« war ihm auf den Buckel geheftet – sie taten ihm nichts. Luise lächelte; das Berliner Kind empfand selbst heute das Komische.

Am Köllnischen Fischmarkt lohte ein Feuer. Es brannte vor der Barrikade des Köllnischen Rathauses. Hier war es ernsthaft. Durch die Breite Straße vom Schloßplatz her kam Trommelgerassel; Infanterie rückte vor. Mit Pech getränkte Holzscheite warfen flackernden Schein, der Abend war dick von Qualm und Rauch.

Hier war er sicher zu finden! Geschmeidig wand Luise sich heran, sie schlüpfte von Haustür zu Haustür. Vor dem Militär her huschte sie die Breite Straße herauf. Ihr galten ja nicht die Schüsse von der Barrikade, die die Straße schloß. Etwas war in ihr, das sie keine Furcht empfinden ließ. Sie fühlte unklar, kaum sich selber bewußt: da oben waren Freunde, Brüder, Menschen, die wie sie liebten und litten, sich freudig für etwas zum Opfer brachten.

Und was konnten ihr die Schüsse anhaben, die jetzt auch hinter ihr knallten?! Pah! Die hölzerne Pumpe da hatte es abgekriegt, eine Kugel mitten in den Bauch.

Von der Neumannsgasse her rief man die Verirrte an: »He, pst, Sie, rechts rum, hier rein, hier!«

Luise hörte das gar nicht. Immer näher kam sie der Barrikade, in ihren Pantinen, mit ihrem wehenden Haar.

Der Holzstoß lohte höher, jetzt – ah! Es ward auf einmal ganz hell.

Auf der Freitreppe des Hauses von Konditor d'Heureuse stand ein Jüngling, der schlug auf einer Trommel immerfort Wirbel. Es war ein Student im verschnürten Rock, in Kanonenstiefeln; um die Hüften hatte er eine schwarz-rot-goldene Schärpe geknüpft.

War das nicht sein Freund, der Student aus der Junkerstraße? Der war's, ja, ja! Das Gesicht drehte er freilich weg – aber solches Haar hatte er, blond, langlockig unter dem schiefgesetzten Cerevis. Und er winkte einem anderen zu, der dort oben auf einer Tonne stand, groß und stark, in der blauen Arbeiterbluse, die Brust frei. Eine Fahne schwenkte er in der einen Hand, in der anderen hielt er einen Degen: »Ihr Brüder, kämpft für die Freiheit! Freiheit, Freiheit!«

»Freiheit!« Luise stieß einen hellen Zuruf aus. Da war er ja! Im Flammenschein glühte sein Angesicht. »Freiheit!«

Sie rief es ihm zu. Hörte er sie? Sah er sie?

Es lärmte, es toste. Glocken läuteten, dröhnten, forderten stürmend zur Freiheit auf. Eins war sie jetzt mit ihm in der Freiheit da oben, und mit ihm so vereint eins auch mit all denen da, eins mit dem ganzen Volk. Vergessen waren ihr ganzes früheres Leben, ihre Wünsche und Hoffnungen, vergessen Mühsal und Plage, Schmerz und Freude, alles, was vordem ihr Herz bewegt. Jetzt war sie frei. Jetzt war sie nicht dieselbe Luise mehr, die morgens ging, Kinder wickeln und abends Windeln waschen. Es hob sie etwas höher und höher, sie wurde von Flügeln getragen. Hinauf!

»Freiheit, Freiheit!« Sie hob beide Arme in ihrer Ekstase, sie stürzte vorwärts. Es fuhr ein Flammenstrahl ihr entgegen – vor ihr Schüsse, hinter ihr Schüsse – »Freiheit!« – sie wollte es noch einmal jauchzend schreien, da bohrte eine Kugel sich ihr in die Kehle, in den nackten, weißen, molligen Hals. Und auch in den Rücken traf sie ein Schuß.

Sie richtete sich kerzengerade hoch auf, sie stand noch Sekunden, sie breitete ihre Arme weit – dann fiel sie.

»Ein Frauenzimmer!« Ein Schreckensschrei erhob sich hüben und drüben. Die Soldaten stockten im Vormarsch. Ein Frauenzimmer! Der Offizier reckte den Degen: »Halt!«

Von der Barrikade sprangen einige herunter, man ließ sie ruhig bis mitten in die Straße rennen, sie hoben das Weib aus dem Volke auf. Auf seinen Armen trug der Große, der vordem die Fahne geschwenkt hatte, sie ins nächste Haus.

Eine Seitentür hatte sich im Köllnischen Rathaus geöffnet, der alte Gymnasialdirektor, der hier seine Wohnung hatte, nahm die Verwundete auf.

Luise Witte war nicht verwundet, sie war tot. Ihr blondes Haar schleifte blutig den Boden, vom weißen Hals herunter lief's rot auf den Flur.

Mitleidig sah der Mann in der blauen Bluse ihr ins Gesicht. Sie war ihm fremd, aber es zuckte ihm heiß durchs Herz, als wäre sie die Seine. Er hob die Hand wie zum Schwur. Und dann stürmte er wieder hinaus auf die Barrikade, seine Faust packte fest die rote Fahne, er hielt sie hoch: »Zur Freiheit, ihr Brüder! Kämpft für die Freiheit, rächet das vergossene Blut!«

Salven knatterten, Kartätschen feuerten, Trommeln wirbelten, die Garde-Grenadiere rückten zum Angriff vor.


Das Köllnische Rathaus war erobert. Die ganze Stadt. Eine Nacht war vergangen, wie Berlin noch nie eine gesehen hatte. Eine Nacht voll verklärender Mondespracht, eine Nacht voll Linde und Milde, und doch eine Nacht so schrecklich, daß ihre Schrecken niemals vergessen sein werden.

Es war still geworden im durchtosten Berlin. Geschützdonner und Rachegeschrei schwiegen. Heute war Sonntag, heute war kein Kampf mehr. Man hatte Frieden gemacht. Der König hatte Befehl gegeben: die Truppen zogen ab, das Militär räumte Berlin. – – –

Es war ein langer, langer Zug, der dem Schloß sich nahte; niemand wagte es, ihn zurückzuhalten. »Zum König, zum König!« Es war etwas vom Gefühl des Kindes in diesem Wunsche; zum Vater flüchtet man mit seinem Leid. Aber es war auch etwas Drohendes mit dabei: mochte er sehen, was er angerichtet hatte!

Sie trugen ihre Toten. Die ruhten auf den Bahren, mit entblößten Wunden, grünende Zweige schmückten sie.

Schweigend lag das Schloß mit verhangenen Fenstern, als seien seine Augen müde, noch mehr zu sehen.

Durch die Portale strömte die Menge in den inneren Schloßhof. Sie stellten die Bahren da nieder. Niemand wehrte ihnen, kein Lakai, und auch kein Soldat war mehr zu sehen. Jetzt waren die Toten hier Herr. Da lagen sie frei. Auf ihre blassen Gesichter schien goldene Sonne.

Keine Klage, kein Weinen. Nur bei jeder Bahre, die niedergesetzt wurde, nannte eine Stimme laut den Namen des Toten, und wo er gefallen war.

»Luise Witte. Bei der Barrikade am Köllnischen Rathaus,« sagte eintönig hart eine Weiberstimme.

Selbst die, die eigenes Leid beugte, blickten jetzt auf: da war ein Weib, sie trug mit an einer Bahre. Eine kleine rundliche Frau. Wie kam sie dazu?! Auf der Bahre lag ein junges Mädchen. Man hielt den Atem an, man drängte heran. Hatte das auch gekämpft zwischen den Männern, das junge Ding? Oh nein, sicher nicht. Aber es war doch getroffen worden – wehe, wehe! Das blonde Haar hing um sie her; ein Gesicht war's, fast kindlich. Ein Totengesicht, das lächelte.

Ein Schauder überlief die sich Drängenden, sie wichen zurück.

Es raunte, es murmelte, erst nah, dann ferner; in empörten Wellen pflanzte sich's fort. Und dann plötzlich der Ruf: »Der König muß kommen, er soll die Leichen sehen!«

Ein gellender Schrei von hundert, von tausend Lippen: »Der König soll's sehen, der König, der König!« Wenn er nicht kam, nicht kam auf der Stelle, dann trug man ihm die Toten ins Zimmer hinauf.

Da war der König.

Er war erschienen mit bleichem Gesicht auf der inneren Galerie.

Die Witte hob mit starkem Arm die Bahre hoch, sie war stärker als ihr Mann und ihr Albert am anderen Ende. Hier war sie, die Mutter, die ihre Tochter gesucht hatte die ganze Nacht, sie erst gefunden hatte, als es längst Tag war. Ihre Luise, ihre brave Luise, ihre arme Luise, die vom Leben noch nichts gehabt hatte als lauter Arbeit. Hier war sie, die Luise, hier!

»König, hier!« Laut gellte der Mutter gewaltiger Anruf.

»Hut ab!«

Der König entblößte das tiefgesenkte Haupt, und mit ihm zog alles Volk den Hut. Frauen fielen weinend aufs Knie und verhüllten sich das Gesicht.

Alles Laute verstummte. Es ward eine Stille, so unendlich groß, daß ein Bienchen zu hören war, das sich summend verfrüht hatte. Wie die auf den Bahren, die für ewig Schweigsamen, waren auch die Lebenden. Der Atem stockte; die Zeit stand still.

Da erhob sich eine Stimme, durchdringend laut:

»Jesus, meine Zuversicht – –«

und wie erlöst aus den Schauern des Schweigens, öffneten sich aller Lippen zum erhabenen Gesang.


Hermann Henze war es nicht gewesen, den Luise gesehen hatte am Köllnischen Fischmarkt. Auf der Barrikade an der Ecke der Tauben- und Friedrichstraße hatte er gefochten, neben Richard John. Er wußte eigentlich selber nicht, warum sie über ihn gekommen war, diese wütende Empörung, in der er alles hätte zermalmen mögen. Was hatten ihm denn diese Soldaten getan – junge starke Kerle, ihm selber ähnlich – daß er mit seinem scharfen Auge einen nach dem andern von ihnen aufs Korn nahm, es über sich vermochte, auf sie anzulegen mit ruhiger Hand? Es war die gleiche Empörung, die er schon als Knabe gefühlt hatte dem Stärkeren gegenüber. Diese, die da anrückten, mit Waffen wohlgerüstet, waren die Stärkeren. Das spornte ihn.

Als der Offizier, der die Soldaten führte, ihnen zurief, sich zu ergeben, hatte er nur ein Hohngelächter: so leicht gibt man die Freiheit nicht auf. Durch den Pulverdampf sah er sie lächelnd winken – ein herrliches Weib – wohl dem, der sie besitzt!

»Ihr Bluthunde, legt ihr eure Waffen hin!« Ein Schuß streifte ihn. Er biß die Zähne zusammen: pah, das war nur ein Aderlaß fürs kochende Blut.

Ruhig stand er im Feuer, ein Dutzend Gewehre knallten auf einmal, bei jeder Kugel, die an ihm vorbeipfiff, sprang er mit gleichen Füßen in die Höhe und rief mit einer Stimme, die weithin über den Platz hallte: »Es lebe die Freiheit!«

Seine Kühnheit erregte Aufsehen. An den Fenstern der Häuser zeigten sich Frauen. Sie achteten nicht der augenblicklichen Gefahr, sie beugten sich heraus und winkten dem Kühnen mit ihren Tüchern zu. Sie bewunderten ihn, das fühlte er. Und das begeisterte ihn.

Die Soldaten hatten Mühe genug – ihr Leutnant war zu Boden gestürzt, ein Schuß aus dem zweiten Stock des Eckhauses hatte ihn tödlich getroffen – es gelang ihnen nicht so leicht, wie an manch anderer Stelle, diese Barrikade zu nehmen. Als alle Verteidiger sie endlich verlassen, sich rechts und links in die Häuser geflüchtet hatten, hielten ihrer zwei sie immer noch.

»Flieh!« schrie heiser der Student dem Schlosser zu.

»I, wo wer' ich! – Hund, verdammter!« Henze stieß den ersten Soldaten, der die Verschanzung überklettert hatte, rücklings hinunter. Da lag der auf dem Pflaster. Eine Wildheit, eine Unbändigkeit war über Henze gekommen, die jetzt vor nichts mehr scheute. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein geschwärztes Gesicht zeigte keine Regung, es war wie aus Eisen. Jetzt feuerten sie gar mit Kartätschen.

»Mach, daß du fortkommst,« keuchte John.

»Nee, ich bleibe!«

»Dann fangen sie dich!«

Nein, das sollten sie nicht! Sterben, ja! Hermann fühlte eine Inbrunst: für die Freiheit zu sterben, war schön. Der Lebenslustige empfand es auf einmal wie eine Offenbarung: ein hohes Ziel zu erstreben, sein Leben dafür hin zu geben, das war mehr Glück, als zu essen, zu trinken und Mädchen zu lieben. Aber gefangen sitzen, nein! Das war nichts Erstrebenswertes, das wollte er nicht.

Den Freund um den Leib packend, riß der Starke den Studenten mit fort. Dieser sträubte sich: »Laß mich, noch einmal will ich, ich muß –« – mit Händen und Füßen strampelte er, aber wie ein Kind trug der Schlosser ihn fort. –

Sie liefen dann. An der jetzt auch verlassenen Barrikade der Jägerstraße vorüber flüchteten sie. Taubenstraße, Mohrenstraße, Kronenstraße, überall Barrikaden, aber alle nicht mehr besetzt.

Der Morgen graute schon. Eine unendliche Niedergeschlagenheit lag über den Straßen.

Wohin nun – was nun tun?! Sie sahen sich beide an: wie sahen sie aus! Zerrissen, pulvergeschwärzt und blutig. Hermann fühlte jetzt den Streifschuß am Arm; der brannte wie Feuer. Nach Haus?

Sie hatten ein Verlangen, sich zu waschen, zu schlafen, etwas zu trinken; die Zunge klebte ihnen am Gaumen fest. Aber stärker als körperliche Wünsche war in ihnen die Sehnsucht: was wird aus dem Volk, hat es die Freiheit erreicht? Die Freiheit, von der es geträumt hat in guten Stunden, ob es die sich erkämpft hatte in dieser Nacht?!

»Geh auf meine Bude,« bat John, »leg dich da hin, du hast was abgekriegt. Warte da auf mich. Ich laufe noch zum Schloß hin – in der Nähe da wird man etwas wissen. Wenn die Sonne auf ist, bin ich wieder zurück. Ich bringe dir Bescheid. Geh, alter Junge! Mein Lieber, geh!« Er reichte dem anderen fast zärtlich die Hand.

»Ich wer' mit dir gehen,« murmelte der Schlosser. Ihm war, als müßte er den Freund behüten, und doch fühlte er jetzt den Blutverlust. »Verdammt,« murrte er. Ihm wurde schwindlig, die Straße fing an, sich mit ihm zu drehen.

»Geh, geh,« drängte John. »Mach, daß du nach Hause kommst. Mir passiert schon nichts!« Er versuchte ein Lächeln, es gelang ihm nicht recht, zu müde, zu abgespannt war sein Gesicht. Seine schönen blauen Augen, die sonst so feurig blickten, waren jetzt matt. »Ich hab nicht eher Ruhe, als bis ich was Bestimmtes weiß. Mein Alter pflegt alle Naselang zu sagen: ›Gott sei uns gnädig‹, – heute sag ich es auch. Adieu, Hermann!«

Er hatte den Schlosser noch nie bei seinem Vornamen genannt, nun fühlte dieser darin die Liebe. Seine grobe Faust umfaßte fest die zarte Hand: »Nimm dich in acht, ich bitt dich!«

Sie sahen sich tief in die Augen. Mit einem Versuch zu scherzen, sagte der Student: »Entweder mit ihm, oder auf ihm – ach so, du kennst ja nicht die alte Geschichte vom Schild der Lacedämonischen Mutter – na, ich erzähl sie dir, wenn ich sie bringe, die erkämpfte Freiheit!« – – –

Henze hatte fest geschlafen. Ohne sich auszuziehen, hatte er sich aufs Bett des Freundes geworfen, nur die Stiefel abgeschleudert. Er hatte erst geglaubt, nicht schlafen zu können trotz aller Müdigkeit, er war zu erregt, die Pulse klopften ihm, als säßen da Hämmer. An seinen geschlossenen Augen flog's vorüber wie flüchtende Schatten, wie wütende Kämpfe. Seine Ohren hörten noch immer wildes Geschrei. Und dazu immer, immer das Glockenläuten. Läuteten sie denn jetzt auch noch? Er richtete sich halb auf und lauschte. Nein, die Glocken schwiegen. Aber der Klang quälte ihn doch noch. Und ein Summen und Rauschen kam noch hinzu; und dann war es ihm, als hörte er Weinen.

In der Ecke des Zimmers stand ein Mädchen, den Rücken drehte es ihm zu. »Minne!« Er streckte den gesunden Arm nach ihr aus. Wie kam die hierher, warum war sie denn da?!

»Aus Liebe,« sagte eine leise Stimme.

Und da sah er, es war Minne gar nicht, ein blondes, stumpfnasig-keckes Gesicht wandte sich ihm zu. Aha, Minnes Freundin, die Luise Witte! Das war nett gewesen damals, wie er mit den beiden Mädchen gebummelt war – die Luise war lustig, ein drolliger Käfer, – warum weinte sie denn?

Er rief sie an – da war's auf einmal wieder die Minne.

Nun erwachte er.

Heller Sonnenschein flutete in die Stube. Donnerwetter, war der Richard denn noch nicht da? Mit gleichen Füßen sprang Hermann vom Bett, er rannte ans Fenster und riß es auf.

Unten gingen sonntäglich geputzte Menschen vorüber, die Straße war feiertäglich-friedlich; man sah keinen Blusenmann, keinen Waffenträger, von den Kämpfen der Nacht keine Spur mehr. Er rieb sich die Augen: hatte er denn alles geträumt? Da fiel sein Blick auf den mit Blut verklebten Ärmel seiner Bluse – da tat es ihm weh.

Auf der Jerusalemer Kirche dröhnte die Uhr, er zählte die dumpfen Schläge: war's möglich, vier Uhr, schon Nachmittag? So lange hatte er geschlafen?! Ein Schrecken befiel ihn: Richard war noch nicht da!

Die Straße lag so ruhig, so harmlos wie in tiefsten Friedenszeiten, und doch stieg von ihrem rumpligen Pflaster etwas zu dem jungen Mann auf, das ihn beängstigte. Es legte sich auf seine Seele ein Druck, eine Ahnung beschwerte ihn: warum war Richard noch nicht zurückgekommen? War vielleicht alles umsonst gewesen?! Er fuhr sich durch die verwirrten Haare. Und dann dachte er an Minne. Die kleine Minne, wie die sich wohl geängstigt haben mochte in dieser Nacht! – – –


Die Schützenstraße war genau so friedlich wie die Junkerstraße. Friedlicher noch, denn sie hatte Baumreihen, die schon zu grünen anfingen und unter denen die Hühner kratzten. Bis zu Schulzes hin hatte sich der Kampf überdies nicht gewälzt. Die Jungen von drüben waren freilich gerannt gekommen und mit ihnen noch fünf, sechs andere: Barrikaden, Barrikaden! Her, was man dazu gebrauchen kann!

»Nehmt euch,« hatte da Christian Schulze gesagt und auf seinen Hof gewiesen. Und sie hatten fortgeschleppt, was sie nur irgend gebrauchen konnten: Fässer, Leitern, Kisten, Bottiche, die Waschzuber, die unterm Brunnen zum Dichtmachen standen, und Schulzes Handkarren. Er hatte alles ruhig geschehen lassen. Aber als er dann die Witten sah, wie sie dem Albert seine Flinte, sein altes, ehrenwertes Steinschloßgewehr, mit dem er einst geschossen hatte in ehrlicher Schlacht, in den Arm drückte, da war ihm die Geduld gerissen: »Sind Sie des Deibels? Kümmern Sie sich man um Ihre Wöchnerinnen, wat jeht Sie dies an?«

Aber die Mitte schrie ganz frech zur Antwort: »Kriechen Sie man ins Bette, mein Oller is ooch schon rinjekrochen. Da beißt Ihnen keene Maus nich. Was heute zur Welt kommt, det is wichtiger, als wenn Kinder jeboren wer'n. Marsch, Jungs, los!«

Seine Flinte verschwand mit dem brüllenden Haufen. Da war er in seinen Hof zurückgegangen, hatte krachend das Tor hinter sich zugeschlagen und es verrammelt.

In der Küche saßen um die Mutter gedrängt die flachshaarigen Töchter. Sie waren ganz still. Sogar Male hielt heute den Mund und klappte ihrem Mann die Bibel nicht zu.

Schulze setzte sich zu ihnen und stützte den Kopf in die Hand. Selbst bis hierher in den Winkel hörte man das Geschrei, das Glockenläuten, das Tuten. Jetzt donnerte es gar wie von Geschützen. »Det is ja doller wie Anno dreizehn!«

»Gott ist mit uns,« sprach zuversichtlich der Schwiegersohn. Es war merkwürdig, sowie der Kürschnermeister seine Bibel in Händen hatte, war er so furchtsam nicht mehr. »Er hat seinen Engeln befohlen über dir,« las er, »daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.«

»Sie hätten Paster werden sollen,« sagte ärgerlich der Schwiegervater. Der Mensch fiel ihm auf die Nerven. »Schockschwerebrett noch mal,« – er schlug auf den Tisch – »det is ja 'ne janz verfluchte Zucht. Wo is denn Minne?«

Minne lag noch immer oben in ihrem Bett. Was ging es sie an, was unten passierte?! Die Schwestern waren zu ihr heraufgestürzt gekommen: »Du, Minne, haste jehört, was die Witten jeschrieen hat? Aber wahr is's, die Soldaten schießen sich mit den Bürgern!« Die Mutter war gekommen: »Minneken, steh auf, man weiß nich, was noch kann passieren. Barrikaden bauen se ooch schon, von wejen die Freiheit!« Aber Minne hatte nur den Kopf geschüttelt: nein, sie stand nicht auf, sie war viel zu krank. Und was ging es sie an, ob Soldaten und Bürger sich schossen. Ob Barrikaden gebaut wurden. Es war ihr ganz gleich, ob sie sich totschossen – was kümmerte sie sich um die Freiheit?!

Sie war liegen geblieben mit ihrem Schmerz, hatte nicht gegessen und getrunken, und je mehr sie anfing endlich Hunger zu verspüren, desto grimmiger nagte es in ihr: so einer, so einer, pfui, schämt sich nicht!

Es war darüber Abend geworden. Minne hatte ein bißchen geschlafen – war es nun Nacht? Aber keine von den Schwestern war zu Bett gekommen. Man hatte sie wohl ganz vergessen? Man hatte auch vergessen, die Laterne anzuzünden, nur ein wenig Mondschein stahl sich in zitternden Strahlen durch die festzugezogenen Gardinen.

Da wurde es unten im stillen Haus laut. Ein heftiges Pochen am Ladeneingang, ein Türenzuwerfen. Unten in der Stube unter der Schlafkammer hörte sie hastig-erregte Stimmen, ein erschrockenes: »Ach Jott,« und ein zur Ruhe verweisendes »Scht, scht.« Ein Bitten, ein Flehen und ein Sich-Weigern.

Was ging unten vor?! Geschah den Eltern auch nichts? Nun trieb das sie doch aus dem Bett. Sie warf einen Rock über, schlüpfte in ihre Pantöffelchen und lief zur Treppe. –

Unten an der Ladentür hatte es heftig gepocht: »Macht auf, laßt uns ein, sie sind hinter uns, um Gottes willen!«

An der Glastür hatte es so heftig gerüttelt, daß, hätte Christian Schulze sie nicht aufgeschlossen, ihm sicher die teure Scheibe herausgefallen wäre. »Na ja doch, – ick komme ja schon – man immer sachte!«

Zwei Männer stürzten herein, gleich durch den Laden hindurch in die Hinterstube. Wie Strolche sahen sie aus. Frau Lene stieß einen hellen Schrei aus, und ihre Töchter kreischten ihr nach; aber Vater Schulze hob die Lampe hoch und beleuchtete die zwei. Ganz anständige Leute, trotz ihrem Dreck.

»Ich bitte, gestatten Sie uns,« sagte der große Schlanke, »daß wir uns hier verstecken. Die Barrikade in der Jägerstraße ist gestürmt – den ganzen Weg schon sind sie hinter uns her – ach, verstecken Sie uns!«

»Hier wird nich Versteck jespielt,« sagte Vater Schulze, »nee, nee!«

»Verstecken Sie uns – eine Stunde nur – sobald als möglich gehen wir wieder!«

»Wer' mir schwer hüten!« Jetzt wurde Schulze grob: da war die Tür, und da sollten sie machen, daß sie wieder raus kämen. Verraten würde er sie nicht, aber auch nicht verstecken. »Wejen so 'ne Kerls von die Barrikaden bringe ich meine Familie nich in Jefahr!«

Da sagte der Schlanke, dem schon ein blonder Bart das Kinn umrahmte, und der ein hübscher Mensch war, noch einmal: »Ach bitte! Jeder von uns hat eine Mutter zu Haus. Um meiner Mutter willen!«

Und: »Um meiner Mutter willen,« sprach der Kleinere nach, der fast noch ein Knabe war, ein Bürschchen von achtzehn.

»Christian, und du besinnst dir noch?!« Frau Lene war auf einmal ganz entrüstet. Das Wasser war ihr in die Augen geschossen, der Kleine rührte sie so. Sie nahm ihn beim Arm: »Man fix rein« und stieß ihn in die Vorratskammer, wo die Säckchen mit Graupen und Dörrobst waren, der Schinken hing und das letzte Weinfaß stand, noch drittels voll mit dem letzten Sauerkohl. Ihren Kohl warf sie heraus, und dann stopfte sie den zitternden Jungen hinein, legte ihm Packpapier über und breitete eine Schicht Sauerkohl wieder oben auf. Gerade, daß er noch Luft kriegen konnte.

Aber wohin mit dem Großen?

»Für so 'n langen Laban jibt's ja jar keen Versteck. Machen Sie, dat Se weiterkommen,« drängte Schulze. »Vielleicht nebenan!« Das Blut stieg ihm zu Kopf, der Mensch tat ihm leid, aber schon glaubte er Trappeln auf der Straße zu hören, marschmäßigen Tritt. »Die Soldaten kommen!«

»Ach, bitte!«

»Nee, nee!« Schulze drängte den Flüchtling mit Gewalt zur Tür.

»Vater! Vater!«

Oben an der Treppe stand Schützens Minne, im kurzen Unterrock, die bloßen Füße in den Pantöffelchen und sagte mit einem Lächeln, das ihr vom Weinen verquollenes Gesicht wieder lieblich machte: »Vater, du darfst ihn nich vor die Tür jagen. Einen, der auf der Barrikade jekämpft hat!«

»Ach was, quatsche nich, mach, daß de wegkommst!« Vater Schulze schlug sonst seiner Dritten nichts ob; sie war der einzige Schwarzkopf unter all den Blonden.

Wie sah die Minne aus, halbnackt und schämte sich nicht?!

»Na, da haben wir's ja, da sind se schon, die Soldaten!« Man hörte Kolbenstöße am Nebenhaus.

»Kommen Sie rauf, rasch,« flüsterte Minne.

Sie zog den Fremden in ihre Stube, es war dunkel darin, er stieß gegen ein Bett.

Jetzt spektakelten sie schon unten an der Ladentür.

»Bücken Sie sich – rasch, rasch, kriechen Sie runter!«

Er kroch unter das Bett, zog die langen Beine an sich, so gut er konnte, und sie ließ Rock und Pantoffeln fallen und schlüpfte ins Bett. Da zog sie die Decke sich bis an die Nase, faltete unter der Decke die Hände und legte sie sich aufs pochende Herz: nun hatte auch sie etwas für die Freiheit getan! Sie fühlte auf einmal ihren Kummer nicht mehr.

Unten drangen welche vom Kaiser-Alexander-Regiment ins Haus: »Haltet Ihr auch einen versteckt? Raus mit dem Halunken, oder,« – mit einer bezeichnenden Bewegung faßte der vorderste der Soldaten ans Seitengewehr, – »Ihr sollt Eure eigenen Kaldaunen fressen!«

»Nanu!« Christian Schulze wurde auf einmal ganz dreist: das brauchte er sich doch nicht gefallen zu lassen, so ein grobes Benehmen, er, der schon für Deutschlands Freiheit gefochten hatte, als diese dummen Lauskerle noch nicht Piep sagen konnten. »Sucht doch!«

Er ließ sie ruhig im Laden stöbern, in Stube und Küche, hinten auf den Hof gehen, in Keller und Vorratskammer gucken. Er lachte in sich hinein: den Kleinen hatten sie nicht gefunden.

Frau Lene atmete erleichtert auf, aber dann erschrak sie. »Oben rauf,« hatte einer gesagt. Schon polterten sie auf der Treppe. »Nur meine Dochter liegt oben ins Bett, die Minne! Se is krank!«

»Is se denn hübsch?« fragte grinsend einer.

Die entsetzte Mutter rannte hinterdrein, aber da kam ihr Christian grade mit zwei Kruken an, und unter jeden Arm hatte er noch eine Pulle geklemmt und sagte ganz ruhig: »Kameraden, ihr werd't Durscht jekriegt haben, trinkt man erst eins!«

Ja, Durst hatten sie. Und Vater Schulze, der sich in aller Eile sein Ehrenkreuz, das er immer bei der Hand liegen hatte in der Ladenkasse, an den Rock geheftet, sah wirklich vertrauenerweckend aus. Er schenkte ihnen das perlende Weißbier ein; als er den Kümmel hinzuschüttete, zitterte seine Hand freilich ein wenig, aber sie merkten es nicht.

Sie vergaßen das Schnüffeln.

Der Wirt hatte sein Glas erhoben: »Unser König soll leben!«

Und die Frau Wirtin brachte jetzt Brot und Butter und holte den Schinken aus der Vorratskammer. Dabei rührte sich etwas im Sauerkohlfaß und kraspelte ganz verdächtig, aber die fixe Male sagte rasch: »Die verflixten Mäuse!« – – –


Als am Abend des 19. März, nachdem er so lange vergeblich auf Richard John gewartet hatte, Hermann Henze in der kleinen Wirtsstube erschien, war da alles ganz friedlich. Es stand das in seltsamem Gegensatz zu der Unruhe, die er selber fühlte; aber es tat ihm wohl. Wie ruhig war es doch hier, so sauber und aufgeräumt! An Ordnung war er nicht gewöhnt, er hatte sie auch nie vermißt; heute empfand er sie wohltätig.

Die Tische waren weißgescheuert, die aus dem Winterschlaf erwachten Fliegen summten behaglich unter der niedrigen Decke, und als er die nebenan zur Küche führende, nur angelehnte Tür ein wenig weiter aufmachte, sah er da die ganze Familie beim Abendbrot: Vater, Mutter, all die blonden Töchter, die Schwiegersöhne – neben Mieke saß auch ihr Bräutigam August Lehmann – und Minne. Minne!

Ihr Kopf mit den glatten Scheiteln des dunklen Haares, das hinten aufgesteckt war zu einer schönen Bretzel, war etwas Wundersames unter all dem Blond. Sie trug ein lichtblaues Kleid, aus den bauschigen weißen Unterärmeln sahen die schmalen Händchen wie Kinderhände, über der Schnebbentaille wuchs auf dem weißen Hälschen das reine Gesicht.

Ach, die liebe Minne! Der Schlosser mußte an sich halten, er wäre sonst wahrhaftig hingestürzt, hätte sie in die Arme gerissen, sich satt an ihr geküßt. Er sagte aber nur ganz bescheiden: »Guten Abend!«

Da sprang seine Minne auf mit einem Schrei, hielt sich die Hände vors Gesicht und lief aus der Küche. Er war ganz verdutzt.

Ihr Vater sagte: »Machen Se man jefälligst de Düre wieder zu. Wir sind bein Essen. Ick komme jleich.«

Was war denn eigentlich los? So lange war er nicht hier gewesen, daß seine Minne vor ihm davonlief?! Ach was, so war das ja nicht, die Alten hatten ihr zu sehr zugesetzt, nun war sie bange.

Der Schlosser mußte lange warten, bis einer kam. Er saß und nagte an seinen Nägeln; die Wut kochte in ihm. Die Zornader schwoll ihm, er trommelte voller Ungeduld auf den Tisch und stieß ein leeres Weißbierglas sehr unsanft nieder.

Da kam endlich August. »Lebste ooch noch? Du warst doch ooch mit bei, diese Nacht, wie ick dir kenne?!«

Es klang nicht so erfreut, wie es hätte klingen sollen, wenn sich zwei wiedersehen nach solcher Nacht.

»Warst du denn nich dabei?« fragte Hermann.

»Na, un ob!« August setzte sich; jetzt wurde er herzlicher. »In der Neuen Königstraße war ick mit bei, zwischen Schafskopf un Stelzenkrug Namen der beiden Eckhäuser.. Nich umsonst hab ick jedient bei die Artillerie. Aus 'n Schützenhaus in de Linienstraße hatten wir die zwee kleenen Kanonen ranjeholt. Als wir keene Kugel, keen jehacktes Blei mehr hatten, haben wir Murmeln jeladen; det jing. Die Murmeltiere haben orndtlich jespieen!« Er lachte. »Wär uns die Frankfurter Infanterie nich in' Rücken jeraten, sie hätten immerlos schießen können mit ihren Kartätschen von die Königsbrücke her, den Alexanderplatz hätten sie nie nich jekriegt. Ja, Drechsler Hesse und Tierarzt Urban, det sind forsche Kerls, die kommandierten. Bis diesen Morjen haben wir uns jehalten!«

Der sonst so langsame August war ganz belebt. Seine wässrigen Augen verdunkelten sich, sein immer etwas blasses Gesicht bekam frische Farbe, er wurde heiß; die Hand, alle fünf Finger gespreizt, legte er vor sich auf den Tisch: »Fein!«

»Und was sagen die dazu, die Ollen?« Henze winkte nach der Küche hin. »Und deine Mieke?«

»Na,« der Bräutigam schmunzelte, »die hat mir orndtlich abjeknutscht. Froh sind se, det ick man heil bin!«

»Und ich dachte, sie wären böse darum.«

»Woso denn?« Ganz verwundert sah Lehmann den andern an. Dann wurde er plötzlich verlegen, es schien ihm etwas zu dämmern. »Ach so, du denkst wohl, weil se zu dir nich freundlich sind – un weil Minne rausrannte – un – un – ach nee, das 's was andres! Du – du – na, ick wer dir mal sagen!« Er rückte dem andern näher, und ihn gutmütig anblinzelnd, flüsterte er: »Laß man ab von die Minne, du kriegst se doch nich!«

»Und warum denn nich?« Der Schlosser fuhr auf. »Bin ich nich ebensoviel wie du? Was können sie gegen mich vorbringen? 'n jesunder und strammer Kerl. Hab ich nich Fäuste am Leib, die arbeiten können?« Er streckte seine mächtigen Hände vor sich und ballte sie. »Berge kann ich versetzen und Hügel umschmeißen, wenn es sich drum lohnt!«

»Kraft, ja, Kraft for zwee Ochsen, det streit't ja keener. Aber doch: Hand von – det sag ick nu ooch!« Lehmann machte ein ernstes Gesicht, er gab sich auf einmal Würde. »Ick bin ihr Schwager – die Minne is man zart – so wat zimperlich – et wäre ihr Unjlück!«

»Ihr Unglück?« Der schöne starke Mensch starrte den blassen August ganz verwundert an. Das war ihm nie in den Sinn gekommen, daß er eines Mädchens Unglück sein könnte – waren denn nicht alle Weibsbilder wie toll nach ihm?!

Lehmann nickte. »Siehste, mein Junge, det is nu mal so. Ihr zwee beede paßt nich zusammen. Du brauchst 'ne Handfestere. Wenn du nu mal so nach Hause kommst un hast 'n kleenen Zacken, un die Minne, die Minne denn –«

»Ich trinke nicht mehr.« Der Schlosser legte rasch die Faust auf den Tisch. »Gott soll mich verdammen, wenn ich ihr je betrunken nach Hause komme!« Er war sehr ernst. »Und nie werd ich'n unpassendes Wort sagen, wenn sie dabei is. Nie grob zu ihr werden, das kannste glauben. Auch nie mehr heftig sein.« Ein lachender Glanz kam auf sein Gesicht, über sein ganzes Wesen. »Ich hab sie ja lieb!«

Der andere sah ihn fast mitleidig an. »Un doch kann et nich sein.«

»Warum nich, warum nich?« Den Liebenden zerriß fast die Ungeduld; er stieß es heraus ohne Atem, in drängender Hast: »Warum nich?!«

»Weil se't erfahren hat von deine Menscher. Du kommst ja nich los von die. Darum nich!«


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