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Achtes Kapitel

Hermann Henze wußte noch immer nicht, woran er war. Wenn das noch lange so fortging, dann schmiß er alles hier hin, dann kündigte er dem Schehle! Es war unvernünftig, wo anders war er ja auch nur Geselle, aber er fragte nicht mehr nach der Vernunft.

Der Meister hatte lange krank gelegen diesen Winter; so elend war er gewesen, daß die Frau im Vorderhaus eine Schneiderin sitzen hatte, die ihr etwas Schwarzes zurechtmachte für den ersten Bedarf. Täglich hatte Hermann den Gottlieb gefragt: »Hat er was gesagt, will er mich sprechen?« Aber der Meister hatte nach keinem verlangt. Es durfte niemand zu ihm ins Privatkontor.

Und als nun das Frühjahr zu kommen gedachte, raffte er sich noch einmal zusammen. Auf einen Stock gestützt wankte Schehle über den Hof. Drinnen in der Werkstatt hielt er's nicht mehr aus, der Blasebalg machte ihm zuviel zugige Luft, der schwelende Dunst, der von der Herdglut aufstieg, die der Lehrjunge, damit die Kohlen nicht zu rasch verbrannten, mit dem Lappen aus dem Wasserschaff beständig besprengte, benahm ihm den Atem. Er konnte auch das Hämmern nicht mehr ertragen, das war ihm zu laut.

Und Hermann hämmerte – und wie hämmerte er! Als sei das rotglühende Eisen Wachs, so schlug er's auf dem Amboß platt, es hatte gar keine Ähnlichkeit mehr mit einem Huf; vorn der Griff, hinten die Stollen, alles weg. Hätte der Meister solche Unform gesehen, er hätte geschimpft trotz seiner Schwäche, aber ein Sprühregen glühender Funken blendete ihm das Gesicht. Rücksichtslos hieb der Starke zu: weg da, wer hier nichts zu suchen hatte!

Draußen vor der Tür mußte der Meister stehen. Er schlorrte langsam in weichen Pantoffeln, setzte sich auch wohl auf den Hauklotz und verpustete sich. Gottlieb wollte ihm einen Stuhl herausbringen, aber den wies er zornig zurück, stand wieder auf, schlorrte dahin, dorthin. So hatte es doch wenigstens den Anschein, als ob er Herr und Meister hier sei.

Zu Mittag kam die Frau herüber ins Glashaus; schon lange wurde für den Meister besonders gekocht, heute brachte sie ihm selber eine Taube in kräftiger Brühe. Aber der Geselle sah die Meisterin, wenige Minuten, nachdem sie hineingegangen war, schon wieder herauskommen; sie weinte. Ihre Tränen fielen in den Suppennapf, den sie vor sich her trug mit beiden Händen.

Der Meister hatte nichts essen wollen von dem, was sie ihm gekocht hatte. Er hätte keinen Hunger. Aber bald danach ließ er sich vom Lehrjungen eine Weiße holen und forderte von Gottlieb dessen Erbsen und Speck.

Hermann fühlte Empörung und ein heftiges Mitleid mit der Frau: was mußte die sich alles gefallen lassen! So leid hatte ihm noch nie eine Frau getan. Er hätte zu ihr hingehen mögen, sie in den Arm nehmen und trösten; es riß ihn förmlich zu ihr hin. Aber heute sah sie ihn nicht an.

Es war überhaupt heute ein unerfreulicher Tag. Dem Lehrjungen sprang ein Funken ins Auge, den zweiten Gesellen schlug ein Pferd, der dritte wurde krank und mußte sich legen. Aber schlimmer als all dies war ein Etwas, das Hermann empfand wie eine Belästigung, und dessen er sich doch nicht erwehren konnte. Waren es ihre Tränen, die er hatte fallen sehen, und die ihn so bedrückten, als hätten sie schweres Gewicht?

Den ganzen Tag blieb er in brütenden Gedanken; und doch war der Tag so hell, selbst im rußigen Schmiedehof meldete sich des Frühlings Erwachen. Hoch oben über rauchenden Schornsteinen und städtischen Dächern zeigte sich Himmel, so licht, so blau wie die Blume des Flachses; und als der unmutige Geselle einmal vom Amboß aufsah, in die Tür der finsteren Schmiede trat, hörte er oben plötzlich ein Rauschen. Über die Häuser weg zog ein Flug Vögel; sie segelten langsam durchs Meer der Luft, schneeig weiß und groß wie die Schwäne. Silbrig beglänzt wanden sie ein langes Band durch sonnigen Äther. Vogel hinter Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, ruhig schwebend, getragen von Frühlingsluft und Frühlingsglauben.

Die Störche kehrten zurück. Horch, jetzt klapperten sie! Ein Jubel erhob sich im Nebenhof – da waren Kinder – aber auch aus anderen Höfen und Gärten ertönte Freudengeschrei:

»Storch, Storch, Steiner,
Mit de langen Beiner!« –

Hermann lächelte und schob sich mit der geschwärzten Hand die Mütze aus der geschwitzten Stirn: da flogen sie hin übers Hallesche Tor, Tempelhof zu, an die Tümpel und Sümpfe, auf die Wiesen und Gräben des weiten Feldes. Es wurde Frühling. Nun sah die Welt, eine Welt, die doch herrlich war trotz allen Verdrusses, trotzdem sie eng war, viel zu eng, den Frühling wieder! Es regte sich in ihm wie schwellende Kraft. Warum sich's denn gefallen lassen, was einem nicht gefiel? Warum zögern, zuzugreifen, wenn einen was lockte? Wenn sich einem was anbot? Ja, anbot!

Der Geselle fing auf einmal an, munter zu pfeifen; es fiel ihm plötzlich die Meisterin ein. Er brauchte nur zuzulangen. In ihren Blicken, die die seinen jetzt suchten, hatte er's deutlich brennen sehen. Aber der Meister lebte ja noch?! Ein Frösteln überlief den Leichtfertigen, doch er schüttelte rücksichtslos den Schauder ab. – – – – –

In ganz Berlin freute man sich heut des genahten Frühlings, wenn es auch jetzt nicht viel zu hoffen mehr gab. Die Hoffnungen vergangenen Frühlings waren dahin; nicht viel war übrig geblieben von all den geträumten Freiheiten. Der vielbesprochene und vielumstrittene vereinigte Landtag war zwar zusammengetreten, aber er fand eine veränderte Welt vor und war selbst mit verändert. Statt des Königs, der beim ersten vereinigten Landtag vom Thron des Weißen Saales herab in mächtigem Redestrom den Weg hatte weisen wollen, sprach ein Minister in Vertretung.

Auch das Volk, das jetzt den Sitzungen des nun eröffneten Landtags zuhören durfte, fehlte. Das Volk, das im vergangenen Jahr noch Heißhunger danach gehabt, hatte jetzt keine Lust mehr darauf. Es hatte Revolution gemacht, es hatte seine teueren Toten bestattet, es hatte geweint, es hatte gejubelt, nun war es all dieses müde. Es wollte Ruhe, nur Ruhe haben. Und doch hatte dieses Volk jetzt zum erstenmal selber sich seine Männer wählen dürfen; Preußen und Deutschland sollten zum erstenmal eine auf dem gleichen und allgemeinen Wahlrecht beruhende Nationalvertretung erhalten. Aber das Wählen will auch gelernt sein. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Der König aber sah noch immer Gespenster. Er fürchtete einen neuen achtzehnten März. Er sah polnisches und französisches Gesindel und die bösen Süddeutschen in Kneipen, Kellern und Höfen, auf Böden und Dachkammern verborgen. Er sah Verschwörungen, wo nur Arbeitslose sich zusammenscharten. Und er lieh weder seinen Ministern, seinen Behörden, noch seinen treuesten Freunden sein Ohr, er hörte nur jene Partei, die ihm Märchen vorfabelte.

Aber wozu sollte der Bürger sich darüber echauffieren? Sich ärgern, sich betrüben, sich überhaupt darum kümmern?! Es lohnte nicht mehr, sich aufzuregen. Hatte nicht ein jeder mit sich genug zu tun?!

Auch Christian Schulze in der Schützenstraße hatte zu tun, viel zu tun. Herbst vorigen Jahres hatte er seine Mieke verheiratet mit August Lehmann, nun schafften sie an der Aussteuer für die Dritte, die Minne. Zwei Näherinnen saßen oben in einer ausgeräumten Stube schon seit sieben Wochen Tag für Tag und stichelten an den Hemdchen, den Höschen, den Unterröckchen, an der Bett- und Tischwäsche, an all dem Leinenzeug für die junge Braut. Minne kriegte es reichlich, reichlicher als die anderen zwei, denn sie heiratete einen feinen Mann, und Vater brauchte gar nichts in bar mitzugeben. Heinemann wollte nichts; er war aus vermöglichem Hause, er hatte das Tierarztexamen gemacht, er hatte schon Praxis, er wollte nur Minne.

Und sie wollte ihn. In vier Wochen war Hochzeit. Ihr Gesicht, das ein wenig blaß geworden war von all dem Nähen, strahlte vor Glück.

Auch Frau Lene war glücklich: das war was anderes als der gewöhnliche Schlosser! Christian Schulze hielt ebensoviel wie sie von dem neuen Schwiegersohn, aber er war doch ehrlich genug, zu sagen: »Ein famoser Kerl war der andere doch!« –

Hermann Henze hatte nichts mehr von Minne gehört, nichts von ihrer Verlobung und nichts jetzt von ihrer Hochzeit. Es kümmerte ihn auch gar nicht mehr. Das war alles wie ausgelöscht und vergessen. Er hatte jetzt viel zu viel zu tun mit neuen Gedanken, mit neuen Wünschen und Hoffnungen; mit Begierden, die auf ihn losstürmten wie die geifernde Meute auf den Hirsch. Sie hetzten ihn. Sein Denken kam nicht mehr von der Schmiede weg.

Der Meister hatte sich wieder legen müssen; es war nur ein Aufflackern gewesen, das letzte Aufbäumen eines Mannes, der in den Sielen sterben will. Der Doktor ging aus und ein in dem dunklen Kontor. Und noch einen anderen sah der Geselle kommen, der stand mitten auf dem Hof im Sonnenschein, mitten in all dem Getriebe der Arbeit – die Schmiede rastete ja nicht, wenn auch der Schmied rasten mußte – und lauerte auf den Eintritt. Ob der kranke Meister nun nicht endlich seinen ersten Gesellen, seine beste Kraft, zu sich entbieten lassen würde?

Hermann sah den Tod immer näher und näher heranschleichen – schon stand der am Kontorfensterchen und schaute hinein. Er war vor Ungeduld wie von Sinnen. Dazu war es Frühling, und das war von jeher die Zeit gewesen, in der das Blut ihm zu schaffen machte.

Oft taumelte er abends durch den dunklen Garten; ihm war, als sei er betrunken und doch – es konnte ja gar nicht sein, er hatte kaum etwas getrunken. Im tiefen Dunkel der Bäume sah er Gestalten stehen – eine Gestalt – war das nicht die Meisterin?! Und dazu fingen Nachtigallen an zu locken, Nachtigallen, denen er nie hatte widerstehen können.

Es jagte ihn aus dem verschwiegenen Winkel des Gartens durch das todstille Glashaus zurück auf den Hof; der war jetzt auch totenstill, alles zur Ruh gegangen. Aber im Vorderhaus brannte noch ein einsames Licht. Da saß in ihrem einsamen Zimmer die Meisterin, die einsame Frau.


»Det jeht ja jetzt doll zu bei euch da unten,« sagte die Majunke und bohrte ihre spitzige Nase dem Gottlieb beinahe ins Gesicht.

»Woso denn?« Er wollte forteilen, er hatte jetzt keine Zeit.

»Na, tu man nich so!« Sie hielt ihn fest. »Drüben ins Jlashaus liegt der Meister un quält sich zu Dode, un hier unten sitzen die zweie un veramesieren sich. Bis hier rauf kann ich't hören. Wenn man's Ohr ufn Boden legt, durch de Decke durch, janz deutlich. Se stoßen mit de Jläser an, sie lachen, un denn – denn is et uf eenmal janz stille. Dolle Wirtschaft das!«

»Wat jeht se Ihnen an?« Zum erstenmal in seinem Leben war Gottlieb grob gegen Frau Majunke. »Halt's Maul, olle Hexe!«

Ja, das wollte sie wohl, das Maulhalten war sie ja hier gewohnt von Anfang an, aber: »Nu, sag ooch, mein Jungeken, die Meestern un der Jeselle, was?« Sie kniff das runzlige Lid über dem einen Auge zu und lachte mit zahnlosem Munde. »En hübscher Kerl – stramm – det find't se woll ooch?«

»Ich weiß von nischt. Laß sie mich zufrieden!« Gottlieb entwischte mit rotem Kopf.


Es war ein Abend ganz sternenklar, die Luft war voll von Verheißung, als der Meister nach dem ersten Gesellen fragte. War der Henze zu Haus? Er sollte mal zu ihm kommen.

Gottlieb wich aus: es war ja schon spät, ging auf Mitternacht, der Henze schlief längst.

»Denn weck ihn auf!« Schehle griff unruhig auf der Decke umher mit gespreizten Fingern. Als Gottlieb nicht gleich ging, schrie er zornig: »Gleich gehste – ich will es – ich habe keine Zeit!«

Zögernd schlich Gottlieb hinaus: was sollte er tun? Er wußte, wo Hermann war, aber –! Drüben im Vorderhaus war es jetzt dunkel. Was tun?! Da im Glashaus der alte Meister, der noch kommandieren wollte, – da im Vorderhaus der, der nun kommandieren würde! Was soll so ein armer Dienstbote machen, der von nichts wissen darf, blind und taub sein muß, wenn es dem Herrn so paßt?! Einen scheuen Blick warf Gottlieb nach dem Vorderhaus, dann eilte er zurück ins Krankenzimmer.

»Der Henze is nich da. Er is wegjejangen, sagt der Lehrjunge. Den hab ick ufjeweckt.«

»Wohin – wohin?« Immer hastiger griffen die suchenden Finger.

»Meester, ick weeß et doch ooch nich – ins Wirtshaus wahrscheinlich. Se sind alle dreie zusammen fort, die Jesellen. Wer weeß, ob nich einer von sie heute Jeburtstag feiert,« log der Verängstigte frech.

Aus seinen hohlen Augen unter den buschig-überhängenden Brauen sah der alte Meister den Burschen verzweifelt an. »Der Henze, – der Henze – ich muß ihn noch sprechen!«

»Beruhigen Se sich man, Meester! Jleich morjen, morjen früh.« Dem treuen Gottlieb brach's fast das Herz.

»Dann ist es zu spät!« Der Sterbende ächzte: »Henze, Henze!«

Gottlieb weinte; er wußte sich nicht zu helfen. Und dazu kam der Schmerz. Der da war immer gut zu ihm gewesen, wenn er es auch nicht so gezeigt hatte! Im Torweg, im Packpapier wäre er verkommen oder im Findelhaus, wäre der hier nicht gewesen! Und jetzt mußte der Alte so kläglich leiden, und die beiden im Vorderhaus, die vergnügten sich! Herr des Himmels, wenn der Meister jetzt nur nicht noch nach der Meisterin fragte!

Aber nach der fragte Schehle nicht. Von Gottlieb gestützt, kämpfte er schwer. Jetzt war der Tod in die Türe getreten.

Gottlieb betete; Worte, die er nicht mehr gebraucht hatte seit seiner Einsegnung, fielen ihm jetzt ein. Er betete stammelnd, unter Schluchzen, das Vaterunser.

In den Armen des Hausknechts schlief der Meister ein.

Da hielt es den Burschen nicht mehr im Kontor – er hatte noch nie jemanden sterben sehen – er rannte aus dem Glashaus hinaus auf den Hof, der schlummernd lag zwischen berußten Mauern, er schrie, daß alle im Vorderhause es hören mußten, schrie, vor Schreck und Entsetzen alles andere vergessend: »Der Meister ist tot, der Meister ist tot!«


Der Tod Schehles hatte auf Henze einen großen Eindruck gemacht. Ein Grauen hatte ihn gepackt, als er am Bett des Toten stand. Herrgott, sah der verfallen, entstellt, ja ganz fremd aus! Aber stärker als sein Grauen hierüber war ein anderes Grauen: hier war der Tod gewesen, und wenige Schritte nur über den Hof – da im Vorderhaus – da hatten er und sie – er und sie – –! Es schüttelte ihn. Es war ihm, als riefe ihm eine Stimme zu: »Jetzt aber fort mit dir, fort von hier!«

Beim Begräbnis des Meisters war Henze sehr bleich. Er schloß sich hernach in seine Kammer ein und ließ sich den Tag vor niemandem mehr sehen. Auch vor Gottlieb nicht. Aber am andern Morgen war er wieder bei der Arbeit, als sei nichts geschehen; er griff sie doppelt an. Nur das Pfeifen ließ er vorderhand noch sein. Aber bald pfiff er auch wieder, er mußte die Stimme übertönen, die noch immer, ja von Tag zu Tag immer deutlicher sprach: »Fort, fort mit dir, fort von hier!«

Mit der Witwe des Meisters hatte er seither noch nicht wieder gesprochen; er hatte ihr nur bei der Beerdigung die Hand gereicht: »Mein aufrichtiges Beileid.« Er vermied es, ihr zu begegnen. Und auch sie mied ihn; sie ließ sich nicht sehen am verhängten Fenster, sie kam mit dem Kinde nicht mehr auf den Hof. –

Vier Wochen waren vergangen nach Schehles Beerdigung, als Gottlieb ihm ausrichtete: die Meisterin ließe Herrn Henze bitten, heute mittag um elf zu ihr herauf zu kommen, der Herr Notar wäre da.

Mit unruhigen Händen vertauschte Hermann seinen Arbeitskittel mit dem Sonntagsrock; er zog sich von Kopf bis zu Füßen um. Was kam nun, was kam nun?! Seine Finger hasteten, er konnte mit dem Anzug gar nicht zustande kommen, bald riß ein Knopf ab, bald verknotete sich was. Gottlieb klopfte schon an die Kammertür: »Elfe!«

»Ich bin noch nich fertig.«

»Jotte doch, da derweile zieht sich ja 'ne Braut zweemal an!«

Endlich war er so weit. Die beiden anderen Gesellen waren auch befohlen. Verlegen standen die drei oben auf der Schwelle des Zimmers, wo auf dem Kanapee hinterm runden Tisch der Notar saß. Er hatte ein Papier vor sich liegen auf der polierten Nußbaumplatte, die der Tischler so schön gefügt hatte, daß die Maser des Holzes in der Mitte einen Stern bildete.

Hermann sah das ganz genau; er klammerte sich ordentlich daran fest mit den Augen, er wollte die Frau nicht ansehen, die im schwarzen Trauerkleid, eine schwarze Spitzenbarbe übers Haar gelegt, neben dem Tische stand. Sie hatte ihre Hand leicht aufgestützt, sie war sehr blaß; und erregt, das merkte man am Zittern der aufgestützten Hand.

Der Notar lud die Männer zum Nähertreten ein, sie sollten sich setzen. Gottlieb blieb an der Türe stehen, er war nicht aufgefordert, dazubleiben, aber er fühlte sich mit als zugehörig. Er faltete die Hände vor sich und blinzelte.

Es war ein Nachtrag zum Testament des verstorbenen Schehle im Schreibtisch des Privatkontors gefunden worden. Der Notar verlas, daß der Verstorbene wünschte, die Schmiede solle nicht, wie im Testament ursprünglich bestimmt war, von der Erbin verkauft, sondern unter der Leitung des ersten Gesellen, des Hermann Henze, weitergeführt werden.

»Hermann Henze, dem ich mein volles Vertrauen entgegenbringe, und den ich vorschlage, mit fünfundzwanzig Prozent am Gewinn zu beteiligen, ist als Geschäftsführer der Erbin anzusehen, bis er selber so weit ist, die Schmiede durch Kauf an sich zu bringen und die Witwe auszuzahlen.«

›Dem ich mein volles Vertrauen entgegenbringe‹ – weiter hatte Hermann nichts gehört. Volles Vertrauen – und er, was hatte er getan?! Er stand und starrte vor sich nieder. Er merkte nicht, daß sie ihn alle ansahen: was sagte der Geselle dazu? Er sagte nichts.

Der Notar räusperte sich. Noch immer keine Äußerung?

Da trat die Witwe vor Henze hin, sie faßte nach der Hand ihres bewährten Gesellen: »Herr Henze, nun? Wollen Sie den letzten Wunsch des Meisters – des Toten« – sie verwirrte sich – »meines armen Mannes erfüllen? Kann ich auf Ihren Beistand rechnen?«

Da sagte er: »Ja.« – – –

Wenige Wochen danach kündigte der zweite Geselle. Es paßte ihm nicht mehr, dem untergeordnet zu sein, mit dem er vorher als Gleichberechtigter gearbeitet hatte. Auch der andere Geselle sagte auf. Selbst der Lehrjunge blieb nicht; er ließ sich vom Vater unter irgend einer Ausrede fortnehmen. Hermann hätte ihn zwingen können, zu bleiben, die vier Jahre Lehrzeit waren noch nicht um; aber das fiel ihm nicht ein. Mochten sie alle hingehen, wo der Pfeffer wächst! Er brauchte keinen; er wurde, wenn's nottat, auch ganz allein fertig.

Er arbeitete fieberhaft, mit einer Hingabe ans Geschäft, daß Gottlieb genug zu reden hatte: »Man nich zu doll, nich zu doll. Verschnauf dir man! Der Mensch muß doch ooch mal stille stehn, sonst verliert er zu früh die Puste!«

Auch die Tine, das Dienstmädchen, auf das Frau Schehle große Stücke gehalten hatte, zog ab, dem zweiten Gesellen nach. Ein neues Mädchen zog zu. Lauter neue Gesichter im Haus.

Nur die Majunke blieb oben in ihrer Mansarde hocken; die Madam drängte sie mit der Miete auch nicht. Auf die war sie überhaupt sehr gut zu sprechen. Die Meisterin gab ihr die weichen Pantoffeln des alten Meisters, in denen konnte sie so ungehört schlorren; und vom Essen blieb auch immer etwas übrig, das schickte ihr die Meisterin durch Gottlieb hinauf. Ach, ach, eine liebe Dame, eine mildherzige Dame! Seit die den alten Griesgram unter der Erde hatte, wußte die sich gar nicht genug mit Gutestun!

Die Majunke lauschte scharf nach unten; aber von dem Gläserklingen zu der Stunde, in der andere schon schlafen und hinter die zugezogenen Vorhänge selbst nicht Mond noch Sterne hineinblinzeln können, von dem gedämpften Lachen und von dem Schweigen, das beredter ist als Stimmen, von alledem war jetzt nichts mehr zu hören.

Wie eine Schnecke in ihrem Gehäuse lebte Schehles Witwe, selten, daß man sie einmal sah. Und dann ging sie ganz vermummt in ihrem schwarzen Kleid und ihrem schwarzen Longschal, der schwarze Schleier hing ihr übers Gesicht. Durch Gottlieb ließ sie sich das Anschreibebuch aus dem Privatkontor herüberholen, von Rechnungen und Quittungen nur das, was unbedingt nötig war; sie selber betrat das Privatkontor nicht.

Darin saß jetzt Hermann, und wenn er nicht zurechtfinden konnte, dann rief er sich Gottlieb; der wußte Bescheid. Die Meisterin zeigte wenig Interesse mehr für das Geschäft; sie kam nie mehr auf den Hof und sah sich's Beschlagen an. Und Hermann forderte sie auch nicht auf dazu; auch nicht dazu, mit ihm etwas zu beraten. Er wußte schon allein, was er zu tun hatte, er besorgte das Geschäft nach Pflicht und Recht, er verstand mit allen Kunden, sowohl mit den Bauern vorm Tor als mit den adligen Herren, mit Kärrnern und Offizieren gleich gut umzugehen.

Es war ein frischer Zug in die Schmiede gekommen, das merkte man an dem, was geleistet wurde, und an dem, was bestellt wurde. Der Leiter des regen Betriebes hatte den Kopf so voll, er sah nicht mehr hinüber nach dem Vorderhaus.

Das Trauerjahr war bald zu Ende; Hermann war es vergangen, er wußte selber nicht wie – zu rasch. Er erschrak, als ihn eines Tages die Witwe bitten ließ, zu ihr zu kommen. Was wollte die?! Er hatte das Vorderhaus in all diesen Monaten kaum betreten, er schlief im Glashaus in seiner Kammer und saß dort im Privatkontor. Die Abende verbrachte er außer dem Hause, die Mittage aß er auch auswärts. Er hatte sich das so eingerichtet mit den Gesellen – was sollte die einzelne Frau sich die Mühe machen, für sie alle zu kochen? Teurer kam's auch so nicht; sie hatten eine gemütliche Kneipe, nicht allzu weit in der Ritterstraße. Da war ein Hinterzimmer genau so wie bei Schulzes, die Weißen knallten, die Frau kochte selber, gut bürgerlich – nur die Tochter war anders. Die hatte sich nicht so zimperlich. Wenn gerade niemand anders im Wirtszimmer war, ließ sie sich auf den Schoß nehmen. Sie hieß Mieze.

Als Hermann heute die Treppe des Vorderhauses hinaufging, wurde ihm schwül. So lange hatte er als freier Mann gelebt – das Trauerjahr war zu Ende – was wollte sie jetzt von ihm?! Fast schüchtern klingelte er an der Glastür, die die Wohnung abschloß.

Die Tochter machte ihm auf.

Herrgott, war die Helene in der letzten Zeit groß geworden! Ein schönes Mädchen! Er faßte eine ihrer langen Locken und zog sie so, wie an einem goldenen Seilchen, zu sich heran. Sie ließ sich ziehen, sie lachte und schmiegte sich an ihn. Sie war ihm immer sehr gut gewesen, und er ihr; er hatte Kinder gern.

»Warum bist du so lange nicht bei uns gewesen? Hast du denn gar keine Zeit mehr? Die dumme Schmiede! Ich mag sie gar nicht leiden. Komm doch herein!« Sie zog ihn in die Stube, in dieselbe, in der der Nachtrag zum Testament verlesen worden war, dieselbe, in der er mit der Frau einst gesessen hatte in Stunden – Stunden, die er jetzt lieber vergessen hätte. Wieder suchte sein Blick den schön eingelegten Stern der Tischplatte.

Aber die Witwe stand davor. Sie hatte sich gegen den Tischrand gelehnt und versperrte ihm so mit ihrem bauschigen Kleid den gesuchten Anhaltspunkt. Er mußte sie ansehen. Sie trug heute zum ersten Mal nicht mehr ganz Schwarz, es war etwas Helles, was an ihr schimmerte, aber er vermied es, genauer hinzublicken.

»Geh, Helenchen, geh jetzt,« sagte die Mutter, »mach deine Schularbeiten. – Sofort!« Sie sagte es streng, als das Kind noch zögerte.

Die Tür fiel zu hinter der hübschen Mädchengestalt. Nun war er allein mit ihr.

»Hermann,« sagte die Frau. Es war eine Mahnung darin und eine Bitte.

Er sagte nichts; es war ihm ganz scheußlich zumute. Wenn er in letzter Zeit einmal mit der Frau zusammengetroffen war, hatte sie ›Herr Henze‹ gesagt und er ›Frau Schehle‹ – und jetzt auf einmal so?! Ihm wurde ganz kalt.

Sie stand und drehte an den beiden Eheringen, die sie zusammen auf den Goldfinger der linken Hand gesteckt hatte. Ihre Rechte war wieder frei, und ringlos wie eine Mädchenhand.

Sollte er etwas sagen? Ihm fiel gar nichts ein. Der sonst so selbstsichere Mann fühlte sich auf einmal nicht mehr sicher.

Er hätte nicht Angst zu haben brauchen, sie sagte nicht noch einmal ›Hermann‹ so bittend weich. Ihr Blick, in dem es aufgeleuchtet hatte bei seinem Eintritt, verschleierte sich wieder. Ihre Stimme klang ruhig, fast geschäftsmäßig. Das Trauerjahr war um, sie hatte sich die Sache reiflich überlegt und machte ihm nun folgenden Vorschlag: sie selber hatte genug zum Leben, es war ihr eine jährliche Rente ausgesetzt von – von – ein feines Rot war ihr ins blasse Gesicht gestiegen und blieb da, solange sie sprach – nun, von einem reichen Verwandten. Die bekam sie immer prompt ausgezahlt. Und für Helenchen hatte derselbe liebe Onkel auch reichlich gesorgt. Sie brauchte sich nicht zu kümmern um Verdienst oder Nichtverdienst. Sie war ja mit ihm als Geschäftsführer äußerst zufrieden – aber, die Schmiede, die Schmiede! Es war zu lästig für eine alleinstehende Frau, solcher Betrieb. Sie wollte verkaufen. Dem Wunsch des Verstorbenen entgegen, dennoch verkaufen. Was sollte sie rechnen und rechten, sich immer plagen mit Sachen, die sie eigentlich gar nicht nötig hatte! Und von denen sie auch nicht das Geringste verstand. »Ich hoffe, es wird sich bald ein Käufer finden. Nur einen irgend annehmbaren Preis, und ich schlage zu!«

Also das, das war's –?! Er starrte sie an, vollständig benommen von dem eben Gehörten. Das hatte er nicht erwartet.

Sie war jetzt wieder blaß geworden, sehr blaß. Sie hielt den Blick zu Boden gesenkt.

»Und ich – ich –?! Dann kann ich ja gehen,« stieß er heraus. Es war ihm auf einmal, als ginge sein Glück in Trümmer. Die Schmiede verkauft – o, die würde sich schon verkaufen, diese Goldgrube – er wieder Geselle irgendwo?! Er keiner mehr, der etwas zu sagen hatte, der schaffen konnte, wie's ihm beliebte?! Er rang nach Luft. Er wollte sagen: ›Ja, ganz wie Sie wollen‹ – aber er sagte: »Nein!« Er schrie dieses »Nein!« Nein, das konnte er nicht ertragen, daß die Schmiede in andere Hände kam! Nein, das gab er nicht zu, nein, das hatte der Meister auch nicht gewollt! Es war leichtsinnig, sündhaft, dem Wunsch des Meisters so zuwider zu handeln. »Man soll die Toten ehren!«

»Und die Lebenden?!« Sie sagte das in einer über sie einbrechenden, quälenden Erinnerung, mit einem Vorwurf für sich und für ihn.

Er verstand sie nicht; das war ihm zu fein. Aber er sah das Zucken in ihrem blassen Gesicht, sah, wie sie rang, um nicht in Tränen auszubrechen, und das machte ihm Mut. Sie war ja doch nur ein schwaches Weib! Jetzt fühlte er sich wieder sicher. Die Schmiede durfte ihm nicht entgehen. Und er faßte sie an der ringlosen Hand und zog sie fast rauh zu sich heran: »Und ich – wo bleibe ich? Bin ich dir nicht mehr gut genug?«

Da sank sie ihm an die Brust. Sie schluchzte laut auf: »Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr. Da, nimm die Schmiede – was liegt mir daran?!« Sie umschlang ihn mit Leidenschaft: »Hermann, ach Hermann!« – – – – – – – – – –

Nun war er als Bräutigam von ihr gegangen, in wenigen Wochen sollte die Hochzeit sein. Er taumelte wie ein Betrunkener. Es war Feierabend, die Gesellen hatten die Schmiede verlassen, der Hof lag still. Am Pfosten der Werkstatt lehnte Hermann und sah sich um: alles nun sein. Rascher sein geworden, als er es selber gedacht hatte. Herr Gott, das mußte er doch gleich der Mutter schreiben! Was würde die alte Frau dazu sagen? Sie mußte herkommen – zur Hochzeit nicht – aber einmal später.

Seine Augen streiften das Vorderhaus, kaltblütiger geworden, zählte er die Fenster: ein großes Haus, größer als man's so denken sollte, das Grundstück hatte eine bedeutende Tiefe und wertvoll war's. Und es stieg mit der Zeit immer höher im Wert! Er zählte wieder die Fenster, verzählte sich und zählte nochmals wieder. Was die Schulzes wohl sagen würden? Ob Minne noch zu haben war? Die kleine Minne!

Eine zärtliche Erinnerung erweichte plötzlich sein hartes Gesicht.

Und was August Lehmann sagen würde? Einen Riesenrespekt würde der kriegen! Hermann lachte laut auf. Und wenn der gute Richard noch lebte, sein Richard John, wenn der ihn sehen könnte als Hofschmiedemeister! Er streckte die Hand aus – eine Hand, mächtig wie eine Tatze – und schloß sie wieder: jetzt hielt er's gepackt. Der Rummel, der Schlossermeister, dem er als Geselle nicht genügt hatte, der würde staunen: jetzt war er auch Meister. Und ein größerer als der!

An alle möglichen Leute dachte Hermann: an welche daheim im Dorf, an die er Jahre und Jahre nie mehr gedacht hatte, an die Frau, bei der er in Schlafstelle gewesen war in der Junkerstraße – zu der ging er jetzt mal hin, er würde ihre Kinder beschenken – er dachte an diesen und jenen, an diese und jene, an alle Welt. Nur an die Frau, die oben im Vorderhaus saß mit bräutlichen Wangen, an die dachte er nicht.


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