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Viertes Kapitel

Bei Wilhelmine Schulze war Luise Witte. Mit gefalteten Händen saß Minne auf dem Schemel vor ihrem Bett, hing den Kopf auf die Brust, und eine Träne nach der andern rollte langsam über ihre Wangen. Daß der Schlosser, dieser nette Mensch, der sie doch gern zu seiner Frau haben wollte – er hätte sie lieb, August Lehmann hatte das zu Mieke gesagt, und sie, ja, sie hatte das auch immer geglaubt – daß dieser Mensch so einer war! Anfänglich hatte sie widersprochen: nein, das konnte nicht sein! Das wollte sie doch nicht glauben.

Aber Luise hatte gesagt: »Denkste noch dran, wo wir ihn zuerst jesehen haben? Da drehte er sich auch hinter der Böhmischen rum, da, vor dem Haus, da, wo – na, du weißt ja schon! Da hat er sie jedenfalls jrade besuchen wollen, wir kamen nur damals zwischen. Und wenn ich dir sage: ich hab ihn reinjehn sehn – ich – ich schwör es dir – jlaubste es mir nu?«

»Dann soll er gehen! Ich will nichts mehr von ihm wissen!« In beleidigtem Mädchenstolz sprang Minne auf, die Röte des Unwillens färbte ihr Gesicht, die Tränen hörten auf zu rinnen. Aber gleich darauf brach sie in Schluchzen aus, und sich an den Hals der Freundin klammernd, klagte sie: »Oh, wie schrecklich, wie schrecklich ist das!«

Ja, schrecklich war es! Luise preßte die zuckenden Lippen aufeinander. Das hätte sie doch nicht gedacht, daß es Minne so nahe gehen würde! Auch ihre Augen fingen an sich zu feuchten, ihr Herz krampfte sich in Mitgefühl – aber sie mußte ja dabei bleiben, mußte, mußte. Es schrie in ihr: Lügnerin, Verleumderin! Es drängte sie, sich vor Minne niederzuwerfen: da, tritt mich, ich bin nichts Besseres wert, ich hab dich ja belogen – aber sie blieb hochaufgerichtet stehen, eisig stumm, und löste die Arme der Schluchzenden sich vom Halse.

Es war still im Zimmer, im ganzen Haus. Kein Gast war da. Unten in der Küche saßen die Töchter um die Mutter gedrängt: man sollte nicht auf die Straße.

»Es wird den Hauswirten in Erinnerung gebracht, bei entstehendem Auflauf ihre Häuser zu schließen. An Eltern, Schullehrer und Herrschaften ergeht die Aufforderung, ihre Kinder, Zöglinge und Gesinde im Hause zurückzuhalten.«

Wer nach der Aufforderung des kommandierenden Offiziers, nach dem dreimaligen Trommelschlag nicht augenblicklich nach Hause ging, der wurde mit Gefängnis bestraft. Das war gestern bekanntgegeben worden.

Vater Schulze war in die Stadt gegangen, obgleich ihn seine Lene himmelhoch gebeten hatte, daheim zu bleiben. »Jotte doch, Vater, wat willste bloß da, misch dir nich mang!«

»In de Schützenstraße sitzt man ja wie aufs Dorf – der Mensch muß doch mal sehen – der Mensch muß doch ooch mal wissen!« Christian Schulze hatte auf einmal das Gefühl, auch mit dabei sein zu müssen.

Heute am frühen Morgen war sein Schwiegersohn, der Kürschnermeister, angekommen und hatte die Male und den Jungen gebracht. Es war ihm in seiner Spandauerstraße nicht mehr recht geheuer. Seit dem gestrigen Abend machten sie in der Königstadt Radau.

»Nanu,« hatte Schulze gesagt und sein schwarzes Tuchkäppchen mit der gestickten Bordüre aus goldgelber Seide nach hinten geschoben: »Und wenn schon, Siebert, ick bitte Ihnen, Sie werden doch vor so'n paar Schreier nich jleich Bange kriejen?!«

Bange?! Das wies der ehrsame Meister, der noch dazu recht groß und stark war, weit von sich, jedoch er wollte seine Male und seinen kleinen Schreier für alle Falle in Sicherheit bringen. Auf den Mittag erschien aber auch er. An seinem Ladenfenster hatte allerlei Gesindel gelehnt und mit begehrlichen Blicken nach den Muffen gestiert. Da hatte er geschlossen. Was sollte er auch in der verödeten Wohnung? Seine Bibel hatte er mitgebracht; er gehörte zu den Stillen im Lande. »Den Friedfertigen gibt Gott Gnade,« wollte er vorlesen, aber die jungen Schwägerinnen fingen an zu kichern, und die dralle Male bekam einen roten Kopf, nahm ihm das Buch aus der Hand und klappte es zu und sagte ein wenig ungeduldig: »Na ja!«

Nun aber hatte ihn der Schwiegervater ins Schlepptau genommen. Auf dem Schloßplatz sammelte sich schon seit Tagen, sobald es dunkelte, eine Menge Menschen an. Sie lärmten und schrieen. Was wollten sie eigentlich? Die Polizei kam nicht zu Rande mit ihnen, sie wurde ausgelacht. Auch an die Soldaten kehrte sich kein Mensch. Die sperrten wohl ab nach der Breiten- und Brüderstraße zu, aber während sie dies taten, kam man einfach über die Lange Brücke von der Königstraße her. Wenn der alte Kurfürst nicht so fest gestanden hätte, man hätte ihn mit umgerissen. Man ließ sich das Ansammeln eben nicht verbieten.

Ein paar Schutzleute hatten schon Steinwürfe bekommen, und die Bürger, die sich wichtig machen wollten mit ihren weißen Armbinden, mit dem weißen Stabe in der Hand herumzogen und Ruhe geboten, hatten bald ihren Spitznamen weg: ›Leichenbitter‹.


Die Stadt war wie ein Ameisenhaufen, in den ein unbedachter Knabe mit seinem Stöckchen gestökert hat. Weh dem, dem die aufgescheuchten Tiere ankriechen! Sie beißen.

Schon hatte man einen Waffenladen gestürmt, sich einfach herausgenommen, was an Waffen zu finden war. Ruhig hatte der Inhaber mit ansehen müssen, wie seine Flinten, seine Pistolen, seine Säbel, seine Degen, seine Dolchmesser unter Jubelgeschrei verteilt wurden. Wenn man sie nicht mehr gebrauchte, würde er sie wiederkriegen. Er konnte ja auch seine Rechnung beim König einreichen – bezahlen würde der schon. Von jetzt an war das Volk die bewaffnete Macht. Fort mit dem Militär!

Es kam etwas Drohendes in die Massen. Jeder kleine Knäuel von Menschen schwoll bald an zur Lawine, zu einer Lawine, die sich mit unbestimmtem Getöse durch die Stadt wälzte.

»Freiheit – Militär zurück – zum König, er soll unsere Forderungen hören – wir sind keine Knechte – zum König, zum König!«

»Man keene Bange nich,« sagte Christian Schulze und strich seiner Lene, die bis zum späten Abend auf sein Nachhausekommen hatte warten müssen, beruhigend über den prallen Oberarm. »Radau machen se jenug, aber Hunde, die bellen, beißen nich!«

»Die Witten war hier,« sagte die Frau ganz ängstlich, »ob du nich 'ne Flinte hättst? Weißte, du hast doch die Flinte überm Bett zu hängen, sie hat se sich einfach runterjelangt.«

»Bist du des Deibels?« Schulze schrie seine Frau an: wie konnte sie zugeben, daß das tolle Weib mit der Flinte, mit seinem alten Vorderlader, den er Anno dreizehn getragen hatte, davonlief?!

Er rannte hinüber, die Witten war nicht zu Haus, keiner von den Männern, nur die Luise war da. Aber die mußte geschlafen haben, die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, ihre Augen waren rot und ganz dick verquollen. Von der Flinte wußte die dumme Gans natürlich nichts. Empört kam Schulze zurück: wenn sie ihn noch drum gebeten hätte! Dann hätte er ja am Ende nicht nein sagen können, obgleich er nicht einsah, warum das Weibsbild sich bewaffnen mußte. »Det soll se man hübsch uns Männern überlassen!«

»Vater, willste dich denn auch bewaffnen?« fragte seine Jüngste, die Miele, die ihre flächsernen Zöpfchen in Kringeln über den Ohren trug.

»I wo,« sagte Mutter, »frag nich so dumm!«

Aber der Vater wandte sich dem Kinde zu und sprach mit Nachdruck: »Wenn alle losjehn, kann ick mir da ausschließen? Se sagen alle: wenn der König das Militär nich ruhig in die Kasernen beläßt, wenn er vor allem die Potsdamer Jardefüsiliere, die er sich hat kommen lassen, nich wieder retur schickt, denn –« Er nahm sein Käppchen ab und wischte sich über die heißgewordene Stirn. »Un ick sage ooch: muß da nich selbst 'nem ruhigen Bürger die Jalle hochkommen? Wozu braucht der König Soldaten ums Schloß? Hat er so'n Bammel? Nee. Aber er hört auf zu viele. Se wer'n ihm schön zusetzen, dem armen Mann! Was der Prinz, sein Bruder, der Wilhelm, is, der is natürlich für die Soldaten. Aber det is jrade falsch. Soldaten weg! Nirgends is der König so sicher wie in die Mitte von seine Bürger. Da soll mal eener kommen!«

Christian Schulze war aufgesprungen vom Abendtisch, in einer ganz kriegerischen Haltung stellte er sich hin – Bauch rein, Brust raus – den Arm krümmte er, als hielte er ein Gewehr, und dann ging er mit so dröhnenden Schritten auf und ab, daß alles in der kleinen Küche zitterte. »Ein Hundsfott, wer seinem König was zu leide tun läßt!«

»Ach ja« sagte Frau Lene und faltete die Hände. »Na ja, du hast ja ooch Anno dreizehn schon mitjemacht!«

Der Schwiegersohn räusperte sich, er hätte gern jetzt eine passende Bibelstelle vorgetragen, aber seine Male sagte resolut: »Morjen früh jehn wir wieder nach Haus. Is ja lächerlich, daß wir ausjekratzt sind!« Und darüber entsetzte sich Siebert so, daß er nur herausbrachte: »Das muß sich doch erst zeigen!«

Aber die Muntere lachte ihn aus, und ihre jüngeren Schwestern lachten auch: »Mach man lieber jleich zu Muttern nach Perleberg, wenn du so bange bist!« Und die Kleinste mit den flachsblonden Kringeln um die Ohren fing an, ganz ausgelassen um den Tisch zu hüpfen und abzuzählen:

»Eene kleene Kaffeebohne
Wollte jern nach Engelland,
Engelland war zujeschlossen
Un der Schlüssel abjebrochen.
Icks, acks, u,
Raus bist du!«

Aber der Vater gebot: »Ruhe doch!« nahm sein Käppchen herunter, drehte es gedankenvoll zwischen den Fingern und sagte dann ernsthaft: »Wenn der man selber wüßte, wat er zu duhn hätte! Aber det is ja det Malhör, er weeß et nich!«

»Meinste Sieberten, Vater?« fragte Lene.

»Ach was, den doch nich,« sagte ärgerlich Vater Schulze und setzte sein Käppchen wieder auf. »Macht jetzt alle, daß ihr zu Bette kommt!«


Die Nacht war herabgesunken auf Berlin. Es wurde nach und nach leer auf den Straßen. Zu merken war es nicht mehr, daß vor wenigen Stunden noch Tumult geherrscht hatte. Ruhig lagen jetzt die Häuser, unerhellt, grau und farblos in der bleichen Mitternacht. Friedliche Stille. Kein Gröhlen, kein Johlen. Nicht mehr das Trappeln und Stampfen der vielen Menschentrupps, die am Abend noch in geschlossenen Kolonnen die Straßen durchzogen hatten. Selbst die Bierkneipen, in denen es die letzten Tage immerwährend aus- und eingegangen war, hatten heute früh geschlossen. Eine große Ermüdung lag über der Stadt, ein bleierner Schlaf der Ermattung wie bei einem Menschen, der sich über Gebühr angestrengt hat. Oder war es der Schlummer eines, der da weiß: du mußt Kräfte sammeln, morgen gilt's Taten?

Das Militär war in die Kasernen zurückgezogen worden; scheinbar verlassen lag der graue Koloß des Königlichen Schlosses, nur schwacher Fackelschein, der aus den Höfen fiel, ließ merken, daß da noch die Kaiser-Franzer biwakierten und die Potsdamer Garde.

Auf der Kurfürstenbrücke stand einsam der große Ahne, der Mann von Erz; kein Pöbel drängte mehr an ihm vorbei. Es war so still, er hörte in seinem ewigen Schlaf das leise Rauschen der Spree, die in langsamen Wellen ihre trüben Wasser aus der Stadt herauswälzte.

Scheinbar war alles zur Ruhe gegangen. Die milde Frühlingsnacht wandelte auf leisen Sohlen, um keinen Schläfer zu stören; aber da waren doch noch welche, die wachten.

Im Königlichen Schloß wachte der Mann, der sein Volk beglücken wollte, dessen ›liebe Berliner‹ nur Fremde, Bösewichter, Verführer aufgereizt hatten, und den doch sein Volk nie verstand.

Es wachten die Stadtverordneten und der Magistrat im Köllnischen Rathaus; man bestimmte die Deputation, die morgen beim König vorstellig werden sollte: Entlassung des Ministeriums, freisinnige Verfassung, Abzug des Militärs, Bürgerbewaffnung.

Es wachten die Offiziere: gab denn der König noch immer nicht Befehl, auf den Pöbel zu schießen? Man würde schießen, und gern.

Es wachte ein Mädchen, das seiner verlorenen Liebe nachweinte, und ein anderes, das voll fiebernder Ungeduld der Zukunft entgegensah.

Es wachten auch die beiden jungen Männer in der Junkerstraße. In der Stube des Studenten saßen sie. »Ich kann nicht schlafen,« sagte Richard John, »das Herz klopft mir. Wir stehen jetzt endlich vor der Entscheidung. Das Volk ist in Waffen. Es muß sich nun zeigen, ob er bewilligt, was wir wollen, oder ob es wieder nur leere Versprechungen sind, an deren Köder wir hängen bleiben sollen. Keine Versprechungen, wir glauben ihnen nicht mehr! Taten, Erfüllungen! Überall in den Provinzen Aufstand, die Rheinlande machen sich frei von Preußen. Was die am Rhein können, können auch wir! Mensch, Henze,« – er packte den Schlosser an beiden Schultern – »wache mit mir, ich kann nicht schlafen!«

Und dem Schlosser erging es ähnlich, auch er hatte fiebernde Unruhe im Blut. Nicht umsonst hatte der Student ihn überall mitgeschleppt; er hatte Reden gehört, die entzünden sollten und die auch entzündet hatten. Es empörte ihn, zu sehen, wie man friedlich ihres Weges Gehende behandelte; anständige Bürger hatte man angehalten, Frauen und Kinder mit dem Kolben beiseite gestoßen. Und ihn hatte heute so ein elender Kerl, ein Affe im bunten Rock, abführen lassen wollen, ihn, weil er nur die blaue Arbeiterbluse trug und sich vor dem Schloß aufgestellt hatte unter die andern! Aber er hatte sich gerächt; sich hoch aufrichtend, hatte er mit starker Stimme angestimmt:

»Kadett, Kadett, Kaldaunenschlucker,
Tragen Hosen ohne Futter,
Gestickte Kragen, nischt im Magen –«

Er war nicht zu Ende gekommen mit dem:

»Goldne Tressen, nischt zu fressen.«

Der blutjunge Leutnant war totenblaß geworden, er hatte den Degen aus der Scheide gerissen, er hätte ihm den in den Leib gerannt, wäre nicht ein Haufe Volks dazwischengeflutet und hätte mit seiner Welle die blaue Bluse weggespült von dem bunten Rock.

Wenn Hermann Henze daran dachte, flog ihm noch der Atem. Nicht aus Furcht, aber aus Mut. Was erfrechte sich so einer, der um zwei gute Groschen, vielleicht um ein bißchen mehr, herumlief in der Affenjacke, aufs Wort parierte, sonst aber dem Herrgott den Tag abstahl und aufgeblasen war wie ein leerer Windbeutel?!

Er fühlte sich ganz im Recht: hatte er denn etwa mitgeschrieen, als die anderen schrieen? Er hatte nur zugesehen, wie die Deputationen ins Schloß eilten und wieder herauskamen, und hatte selbst da nicht seine Stimme erhoben, als alles rund um ihn her mit Pfeifen und Johlen den Sechspfünder begrüßte und die Haubitze, die im Lustgarten aufgefahren wurden.

Aber nun ballte er die Fäuste: das war keine Behandlung, die sich ein ehrlicher Arbeiter gefallen ließ! Jetzt wußte er, was es heißt, nach Recht und Freiheit verlangen. Das war keine Freiheit gewesen, die man bis jetzt gehabt hatte; man hatte es nur all die lange Zeit nicht so schwer empfunden, weil man's nicht besser wußte. Der Vogel, der im engen Bauer aus dem Ei gekrochen ist, der weiß eben nicht, was es heißt, frei flattern; aber wenn er einmal zwischen den Stäben hindurchgeschlüpft ist, dann will er nicht mehr in den Käfig.

Henze hob seine mächtigen Arme, ließ die Fäuste niederfallen, als hielten sie einen Schmiedehammer. »Wenn's man losginge! Wenn es man morgen losginge!« Die Ungeduld sprühte aus seinem Ton. Er konnte es kaum noch erwarten. Und wenn dann der Sieg errungen war, die Freiheit, wenn der arme Geselle ebensoviel galt, wie der reiche Meister, dann –! Einen Augenblick flogen seine Gedanken zu Minne.

Er hatte jetzt nicht mehr so viel an sie gedacht wie sonst, er war auch nicht mehr an ihrem Hause vorbeigeschlichen, er hatte keine Zeit mehr dazu gehabt. Er wußte es selber nicht, daß die Gestalt der Freiheit, wie er sie sich vorstellte, und wie er sie begehrte mit einer Begeisterung, die aus dem Ungestüm seiner Sinne etwas Höheres, Reineres, Edleres machte, die Züge seines Mädchens trug. Die Freiheit – Minne! Minne – die Freiheit! Das waren die Bilder, die im späten Schlafe nach Sonnenaufgang an ihm vorüberzogen.

Der Student schnarchte auf dem Bett, der Schlosser lag auf dem eingesessenen Kanapee, das ihm viel zu kurz war, und ließ die Beine über die untere Lehne hängen.

Sie waren beisammen geblieben. Es war, als ob ein jeder es nicht tragen könne, allein zu sein. Sie hatten im trüben Morgengrauen am geöffneten Fenster gestanden und noch auf die Sonne gewartet. Langsam kam sie, zögernd malte sie ein schüchternes Rosenrot an den Himmel, erst nur ein Fleckchen, nicht größer als das Taschentuch eines Kindes, umzirkelte sie mit Gold. Über die Häuserfirste der gegenüberliegenden Straßenseite kletterte sie dann und blendete die überwachten Augen mit Licht. Die jungen Männer waren blinzelnd zurückgetaumelt ins noch dämmernde Zimmer, ganz übernächtig. Dann überwältigte sie der Schlaf. –

Durchs offene Fenster kam das unbestimmte Brausen der großen Stadt.

Berlin erwachte.

Schon am frühen Morgen sammelten sich die Bürger, aus allen Stadtgegenden, aus allen Straßen; in großem, gemeinsamem Zuge wollte man hin zum Schloß. Man wollte es vom König selber hören, was er bewilligte. Den Gerüchten, die umgingen, traute man nicht. Man würde ihn rufen. Er sollte herauskommen auf den Balkon, selber zu seinem Volke sprechen; Vermittler brauchte und wollte man nicht. War es denn wirklich und gewiß wahr, daß er seinem Volk die begehrten Freiheiten geben wollte? Die freisinnige Verfassung? Preßfreiheit? Daß er das Militär würde abziehen lassen und die Bürger bewaffnen?

Ja, ja! Ein Strom von Menschen, der vom Schloß zurückflutete, verkündete es denen, die noch Unter den Linden und auf den anderen Straßen in der Nähe des Schloßplatzes harrten: der König war auf dem Balkon erschienen, er hatte mit dem Tuch gewinkt, er hatte gesprochen. Man hatte ihn nicht gut verstehen können, aber der Bürgermeister war neben ihn getreten, und der hatte es dann für ihn gesagt. Auf einem Hause gegenüber dem Schloß hatte sich eine Fahne entfaltet, schwarz-rot-gold.

Was ist des Deutschen Vaterland? – – Das ganze Deutschland soll es sein!

Ein langhallender Jubel stieg ins Frühlingsblau: der König wollte an die Spitze Deutschlands treten, eines freien Deutschlands! Der König hatte es eben selber gesagt. Er hatte sein Wort zum Pfande gegeben, daß er alles gewährte, was sein Volk von ihm forderte!

Ein Herr sprang auf einen Wagen, er schwenkte ein Extrablatt der Allgemeinen Preußischen Zeitung hoch in der Hand: hier, hier stand es auch drin!

»Hin zum König! Danket dem König! Ein Vivat dem König!«

Ein furchtbares Getöse entstand, das Getöse der Tausende. Der Märzstaub wirbelte auf unter eiligen Füßen, er verfinsterte schier den Sonnenschein.

»Hin zum König! Danket dem König! Er soll leben – hoch, hoch, hoch!«

Da waren welche, die lachten, und welche, die weinten – beides vor Freude. Alles, alles wurde gewährt! Man fiel sich in die Arme, man küßte sich im seligen Freudenrausch. Die Not der Zeit war vorbei, jetzt erst würde man leben. In goldener Sonne, in der Sonne der Freiheit.

»Hoch, hoch, hoch!«

Von einer jauchzenden Menschheit waren die Straßen überfüllt; nie hatte Berlin so viele Menschen auf einem Haufen gesehen, nie gleich trunkenen Jubel vernommen.

Wie Donner, der den Himmel durchrollt, die Erde durchrüttelt, pflanzte der Ruf sich fort: »Zum König! Zum König!« Alles andere ward lautlos dagegen, hatte nicht zum Übertönen die Kraft. Berlin, das große Berlin, war ein einziges Brausen, ein brausender Sturm, ein stürmender Ruf: »Zum König! Zum König!«


Auch die dörfliche Schützenstraße war heute großstädtisch belebt. Leute rannten eilig über sie hin. Alles strömte der Stadtmitte zu. Vater Schulze gedachte auch auszugehen, aber seine Lene bat ihn flehentlich, daheim zu bleiben, die Witten hatte ihr so graulich gemacht. Und Male und ihr Mann waren wieder zurückgekommen; Male hatte durchaus nach Hause gewollt, aber sie mußten umkehren, man konnte nicht durch.

Die Mutter machte sich Sorge: mit Minne war's gar nicht recht. Die lag jetzt gegen Mittag noch oben im Bett, hielt die Gardine zugezogen und wollte nicht aufstehen. Wenn man sie fragte: »Was fehlt dir denn?« fing sie an zu weinen. War das Mädchen krank?

Wilhelmine Schulze war nicht krank, aber traurig; so traurig, wie man nur mit siebzehn Jahren sein kann, wenn man noch keine Enttäuschungen erfahren hat, wenn man noch glaubt, daß jede Blume, die man sich gepflanzt hat, auch wachsen und blühen muß.

Ihr Glück war dahin! Minne versteckte ihr verweintes Gesicht immer tiefer ins Kissen. Für sie gab's auf dieser Welt keine Freude mehr. Daß er auch so einer war! Und sie hatte so fest an ihn geglaubt, auf ihn gehofft, gewartet den langen Winter – ach, sie wußte es ja, die Eltern würden es doch zugegeben haben zu guter Letzt. Er war es nicht wert, daß sie weinte um ihn! Und doch weinte sie. Sie konnte sich gar nicht trösten.

Auf der Straße war es jetzt ganz ruhig. Minne fühlte sich einsam, ihr war traurig und bang: ach, wie sollte noch alles werden?! Mit einem Seufzer faltete sie die Hände auf der Brust; sie war so müde, in der Nacht hatte sie gar nicht geschlafen, vielleicht, daß sie jetzt ein bißchen druseln konnte am helllichten Tag. Die Augen sanken ihr schon zu – ach, wie gut das tat, so still, so still! Sie schluchzte noch einmal auf, die Schlußworte ihres allabendlichen Gebetes fielen ihr ein, sie flüsterte sie – immer stockender – immer leiser:

»Kranken Herzen sende Ruh,
Nasse Augen schließe zu,
Alle Menschen – groß und klein –
Sollen – dir – be–fohlen – –«

da fuhr sie auf aus dem Einschlummern. Ein Schrei gellte von der Straße herauf.

War das der Witten Stimme?!

Der Schrei klang wie ein Trompetenstoß; er kreischte förmlich in Schrecken und Wut:

»Sie schießen aufs Volk! Sie schießen! Sie schießen!«


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