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Wie ein Traum lag hinter Hermann Henze die Schützenstraße. Sein Weg führte ihn nicht mehr dorthin. Er wohnte jetzt bei Meister Schehle. Im Glashaus, in dem Quergebäude, darinnen unten das dunkle Kontor war und oben hinter den breiten Treibhausscheiben Gerümpel lagerte, war nach dem Garten zu eine kleine Kammer; die war ihm eingeräumt. Über der Werkstatt zu schlafen, in dem Verschlag, darunter der Blasebalg fauchte und der schwarze Kohlenstaub, je nachdem mit Schnee oder mit Regen vermischt, aufs Bett wehte, hätte Schehle dem neuen Gesellen nicht zugemutet.
Er sah Henze an mit günstigen Augen; die Körperkraft des starken Mannes imponierte ihm. Je weniger er selber noch zupacken konnte, desto höher schätzte er die Faust des andern. Das war doch noch mal einer, der mit seinen Kräften nicht geizte, der sich nicht an einer Arbeit vorbeidrückte und so langsam heranschlorrte, als wäre jeder Schritt schon eine Leistung. Zuweilen stand der Meister hinter den Eisenstäben am kleinen Fensterchen seines Privatkontors und sah dem Gesellen zu. Der schwang den schweren Schmiedehammer so leicht.
Hermann arbeitete besonders gern auf dem Amboß, der draußen vor der Tür der Werkstatt stand: da bestrich ihn die Luft. Und er pfiff mit dem Star um die Wette, den der Lehrjunge in einem Käfig an die Wand gehängt hatte. Was er vergessen hatte in seiner Zeit als Schlosser, das hatte er nun bald wieder gelernt, denn seine Lust und sein Können waren eins. Und er setzte seine Ehre darein, dem Meister, der ihn so aufs Geratewohl genommen, der sich auch nicht daran gestoßen hatte, daß das Zeugnis von Meister Rummel nicht gerade glänzend ausgefallen war, zu genügen.
Es war Wohlgefallen in dem Blick, mit dem der wortkarge Meister den Gesellen beobachtete – vielleicht war auch ein wenig von Neid beigemischt –, so in der Vollkraft war auch er einst gewesen! Der Alternde seufzte. Da war ihm keine Arbeit zu schwer, der Tag nie lang genug. Und die Nacht erst recht nicht. Verschlafen hatte er sie nur zum geringsten Teil – wofür war man denn jung?! Jung, jung! Der Einsame nickte: das waren vergnügte Zeiten gewesen. Ein grämlicher Zug zog ihm die nach unten hängenden Mundwinkel noch tiefer herab. Jetzt war's nicht mehr so! Aber er gönnte dem, der da draußen schaffte mit Emsigkeit, dem von der offenen Brust eine Dampfwolke aufstieg, wie Rauch des nackten, schwitzenden Fleisches, seine Jugend und seine Genußfähigkeit. Warum sollte so ein Mensch, so ein Kerl, nicht des Nachts sich vergnügen, wenn er tags doch seine Schuldigkeit tat? Mochte Johanna sagen, was sie wollte! Die sollte nur schweigen! Das vergilbte Gesicht wurde noch gelber. Die hatte wahrlich kein Recht, Tugendrichterin zu sein, sie, die als Mädchen ihn nur genommen hatte der Versorgung wegen, und die ihn als Frau – – –!
Der Hofschmied kniff die Lippen so fest zusammen, daß sie wurden wie ein schmaler Strich. Eine große Verbitterung verschärfte seine Züge. Er trat vom Fenster zurück.
Da war seine Frau eben aus dem Vorderhaus heruntergekommen, um auszugehen; nur für einen Augenblick trat sie auf den Hof. Sie rief nach dem Lehrjungen; sie gab ihm einen Auftrag. Dem dort arbeitenden Gesellen schenkte sie keinen Blick. Sie raffte ihr Kleid zusammen, als fürchtete sie, es hier zu beschmutzen; sie rauschte wieder ab in ihrer Spitzenmantille und dem modisch-weiten Rock. Die Kleine führte sie an der Hand, die war ausgeputzt wie ein Engel.
Oder wie eine Prinzessin! Der Hofschmied stieß einen Laut des Unwillens aus. Es war etwas Böses in dem Blick, mit dem er der Frau nachsah. Dann trat ein deutlicher Zug des Leidens in sein mageres Gesicht. Wenn nur die Schmerzen nicht wären, die verdammten Schmerzen! Und die wurden jedesmal stärker, wenn er an Vergangenes dachte. Hofschmied – Hofschmied! Er lachte verbissen in sich hinein. Und dann unterdrückte er ein »Au!« und stemmte die Hand gegen die Leibseite: da saß die Leber, die dumme Leber – oder war es die Galle? »Au!«
In dem alten Ohrenlehnstuhl im dunkelsten Winkel des dunklen Privatkontors krümmte der Meister sich zusammen und wartete da den Anfall ab.
Auch der Geselle ärgerte sich, wenn er die Meisterin in Sicht bekam. So eine Hochmütige! Er war es nicht gewohnt, daß ein Weib an ihm vorbeisah. Diese Nichtbeachtung war das einzige, über das er zu klagen hatte bei Meister Schehle. Es war im Grunde ja ganz gleichgültig, ob diese Frau, die mit ihm weiter gar nicht in Berührung kam, die auf ihrem Zimmer aß mit dem Kinde, nicht mit dem Meister und den Gesellen, die für seinen Geschmack viel zu mager war, die ihn weder sonderlich jung noch schön dünkte, wenn sie auch gekleidet ging wie eine feine Dame – ob diese Frau ihm einen Blick schenkte. Aber weil sie eine Ausnahme machte von vielen, gerade darum wurmte es ihn. Oh, er wollte sie schon zwingen. Ja, er würde, er mußte sie zwingen, es ging ihm wider die Ehre – ansehen sollte sie ihn!
Nun jährte es sich bald, daß Henze beim Hofschmied war. Er hatte Fortschritte gemacht in des Meisters Gunst. Der zweite und dritte Geselle, der Lehrjunge und Gottlieb, der Hausdiener, begegneten ihm mit der Höflichkeit, die nur dem Bevorzugten widerfährt. Er dachte sich nichts weiter bei ihrer Unterwürfigkeit. Er fühlte fast einen Schreck, als der lahme Gottlieb eines Tages, gerade als er sich ereiferte über eine Dummheit, die der Lehrjunge gemacht hatte, an ihm vorbeihinkte und mit Grinsen sprach: »Junge, Junge, wenn du erst hier Meester bist!«
Was sollte das heißen, was wollte der lahme Gottlieb damit sagen? Er hielt den Grinsenden fest mit starker Faust.
Gottlieb war das Faktotum im Schehleschen Haus. Er leistete mehr als ein Mädchen für alles. Er putzte die Stiefel, er bürstete die Kleider, er reinigte den Hof vom Pferdemist, er führte die Kleine spazieren, wenn die Madam ihre Nerven hatte, er holte den Gesellen Bier und nähte ihnen die abgerissenen Knöpfe an, er half dem Meister beim Rechnen, er leimte, er hämmerte, er bastelte, er schälte der Köchin die Kartoffeln und trocknete ihr das Geschirr ab, er grub den Garten um und pflanzte die Blumen, er rannte Botengänge; er ging als Letzter zu Bett, er war als Erster auf, und er stand dem Meister bei, wenn der seine Anfälle kriegte. Niemand wußte damit so gut Bescheid; Schehle hätte auch keinen anderen zu sich hereingelassen.
Gottliebs Gesicht, das häßlich war mit dem breiten Maul und der platten Nase, wurde ganz blaß, als die Faust des Gesellen ihn packte: ach, das war ihm ja nur so unversehens herausgefahren! Henze hatte ihn in eine Box gezogen, da drückte er ihn gegen die Wand, daß ihm die Rippen krachten: »Dummer Bengel, was foppste mich!«
Gottlieb wand sich, er wäre dem starken Griff gern entwischt, aber es gelang ihm nicht. Verlegen stotterte er: »Nanu – was soll's denn sein – lassen Se mir doch los, Henze!«
»Nee, Männeken!« Der Geselle lachte. »Du kommst mir gerade recht. Das war mir doch schon neulich mal so, als ob ihr was zu tuscheln hättet hinter mir, da, als der Meister mich zu sich reinrief in sein Kontor!«
»Nu ja, nu ebend!« Gottlieb grinste wieder. »Det zeigt doch ooch von 'n jroßet Vertrauen. Wen hätte der Meester denn sonst je in sein Kontor rinjelassen?! Da komme ick nur rein. Aber bei Sie is det eben janz wat anderes: Sie jehn da nich rein wie einer, der die Stiebeln putzt, un vor den man sich nich scheniert, weil er nischt bedeut't – passen Se uf, Ihnen nimmt der Olle sich noch als Kompanjohn!«
»Unsinn, quatsche nich!« Hermann wollte laut auflachen, aber es mischte sich ein so fremder Klang in sein Lachen, daß er es selber hörte, ihm das Lachen auf den Lippen abbrach. Der Gottlieb wußte ja überall Bescheid – warum sollte er nicht auch hierin Bescheid wissen?! Der Alte war kränklich – der bevorzugte ihn – erst neulich hatte er zu ihm gesprochen: »Henze, ich überlasse Ihnen das, machen Sie's« – Der Alte hatte keinen Sohn – wenn er ihn, ihn –?!
Es wurde Hermann heiß. Er schluckte, der Hals wurde ihm eng, und dann stieß er heraus, um nur irgend etwas zu sagen: »Gottlieb, wie lange biste eigentlich hier im Haus?!«
»I, so lang als ick lebe!«
»Biste denn hier im Haus geboren?«
»Det weeß ick nich!« Der Bursche lachte pfiffig. »Kann sind, kann ooch nich sind. Ick kann mir nich erinnern an dazumal. Is ooch schonst 'n bißken zu lange her – an die Fünfunzwanzig. Da unterm Torweg hab'n se mir jefunden. Injewickelt in'n Stücksken Packpapier. ›Torweg‹ haben se mir taufen lassen. Jottlieb Torweg – i ja, der jute Jott muß mir mächtig lieb haben, sonst hätte er mir doch krepieren lassen unter 'n Torweg!« Er lachte mißtönend. »Was die Eltern vom Meester waren, bet waren jute Leute, die wohnten dazumal noch hier; aber die Dochter, unserm Ollen seine eenzigste Schwester, det war'n Aas. Die wollte mir partuh nich in'n Hause leiden: ›wat sollten die Leute wohl denken, en ledijet Kind unter ihrem Torweg?!‹ Na ja, die hatte et ja ooch nötig, vorsichtig zu sind, se jing dazumal mit eenem, un ick« – er schluckte etwas herunter und lachte dann. »Na, se hat sich ja denn doch noch verheirat't! Nach Magdeburg. Da hat se trotzdem 'nen reichen Frachtfuhrherrn mitjekriegt. Nu fragt se den Deibel noch nach mir. Aber hier oben in de Dachkammer wohnten dazumal schon die Majunkes – er jing als Orjeldreher, sie sang bei die Moritat –, die haben mir allens erzählt. Was unser Oller is, der hat jesagt: ›Ick würde mir schämen, 'n Kind, was doch nischt dafür kann, zu verstoßen‹; un hat seine Schwester dabei anjesehen, daß die blaß jeworden is wie 'ne Leiche auf Urlaub. Spinnefeind is se seitdem mit ihm. Se is nie mehr von Magdeburg hier in'n Hause jewesen. Mag se wegbleiben!« Er stieß einen durchdringenden Pfiff aus. »Ick habe keene Bange nach ihr!« Er starrte geradeaus in die helle Luft.
Hermann fühlte sich von eigenen Gedanken abgezogen. Das hatte er schon gehört, der lahme Hausknecht stand in irgendwelchen Beziehungen zum Schehleschen Haus. Er wollte ihn gerade weiter ausfragen, da machte Gottlieb: »Sst!«
Unter dem Torweg der Einfahrt stand die Meisterin, sie war eben vom Spaziergang zurückgekommen. Es war ein Frühlingstag. Und wie der leibhaftige Frühling hüpfte das blonde Kind in Weiß und Rosenrot neben ihr. Sie selber aber war dunkel gekleidet. Ihre schwarzen Augen irrten über den Hof.
Seit einem Jahr sah Hermann ihre Augen zum erstenmal; sie hatte sie immer niedergeschlagen gehalten. Nun sah er sie großoffen – schöne Augen. Sie hatten einen unruhigen Blick, etwas Begehrendes. Was – wen suchten sie? Er trat unwillkürlich etwas tiefer zurück in die Box – so konnte sie ihn nicht sehen. Er hatte wahrlich nicht Lust, wieder zu merken, daß sie über ihn hinwegsah mit Absichtlichkeit. »Hochmütige Hexe!« Er schimpfte hinter ihr her.
Die Frau hatte den nicht gefunden, den ihr Blick suchte, sie stieg in ihre Wohnung hinauf; man hörte auf der Treppe ihre tiefe Stimme und das helle Plappern des kleinen Mädchens.
Es überkam Hermann plötzlich, er mußte es fragen: »Ob wohl das schöne, kleine Mädchen von ihm is?« Er winkte mit dem Kopf nach dem Privatkontor hin.
Gottlieb kniff die hellgrauen Äugelchen zu; er tat, als habe er die Frage nicht gehört.
Hermann wiederholte sie, wie drängende Neugier hatte es ihn erfaßt: »Du, Gottlieb!« Er schüttelte den Burschen.
Da machte Gottlieb die Augen auf, aber sie waren undurchdringlich: »Junge, Junge, wat du dir denkst! Sie sehn et ja selber, Henze, alle Dage – die schmeißt sich nich weg!« Und als Hermann schwieg, setzte er noch zur Verstärkung hinzu: »Un Sie kennen doch ooch unsern Ollen. Der hat die Augen überall, der merkt allens – et wäre denn jrade, det er nischt merken will!«
»Nu, man hört doch manchmal so reden, daß –«
»Laß se reden,« unterbrach Gottlieb rauh. »Wie allens zujeht, kann keener wissen. Un denn hernach – wenn eens mal uf der Welt is, wen jeht et an, wo et is herjekommen?!« Er wurde heftig. »Un überhaupt, keen Mensch uf der Welt kann wissen, ob sein Vater ooch sein richtijer Vater is!«
»Nanu!« Hermann fing an, laut zu lachen; die plötzliche Wut des Humpelbeins belustigte ihn. Ihm fielen sein eigner Vater und seine Mutter ein, die giftigen Reden des Hausknechts kamen ihm fast wie eine Beleidigung gegen diese beiden vor. »Ich weiß, daß mein Vater auch mein richtiger Vater war!«
»Na, man sachte!« Gottlieb setzte eine Miene des Zweifels auf. »Können Sie det beeidijen, Henze? Ick for mein Teil beeidje bloß det, wo ick bin mit beijewesen.« Er setzte sich auf einen Hauklotz, stemmte beide Ellenbogen auf die Kniee und starrte verloren ins Blaue. Sein sonst immer freundliches Gesicht hatte einen bösen Ausdruck bekommen; er sah aus wie ein Hund, der beißen will.
Hermann sah ihn verstohlen von der Seite an: was hatte denn der Gottlieb? Es tat ihm leid, dem guten Kerl, ohne es zu wollen, die Laune verdorben zu haben. Er legte ihm den Arm um die Schultern. »Na, Gottlieb! Was is denn bloß los? Was gehn dich der schwarzen Hexe ihre Hühner und Gänse an?«
»Nee, das is es ooch nich – nee, das nich!« Gottlieb blieb trübselig. »Ick dachte man bloß – ick –« Aber dann schüttelte er sich wie der Spatz im Regen: »Faule alte Jeschichten! Wenn ick bloß nich det Humpelbein als Andenken hätte!«
»Laß gut sein, Gottlieb, zu brauchen biste doch!« Des großen Gesellen Arm drückte freundschaftlich herzlich.
Da haschte der andere nach seiner Hand, und sie fest pressend mit dankbarer Inbrunst, flüsterte er: »Auf mich können Se sich verlassen, Hermann. Zu Ihnen jehör ick mit Haut un Haar. Aber det sage ick Ihnen: Wenn Se hier bleiben wollen, voran kommen wollen hier ins Haus, denn« – er drückte den Finger an die Lippen und machte ein ernstes Gesicht – »denn hören Se nischt, denn sehen Se nischt. Denn fragen Se ooch nischt!«
Sollte es wirklich einstmals so kommen, wie Gottlieb prophezeit hatte? In Hermanns Seele war seit jenem Tage, an dem er mit dem Lahmen in der Box verborgen gestanden hatte und die Frau auf dem Hof hatte herumsuchen sehen mit ihren schwarzen Augen, eine beständige Erwartung.
Wie alt war die Frau eigentlich? Mitte Dreißig, sagte Gottlieb. »Donnerwetter, erst?!« Es war Hermann so entsetzt herausgefahren, daß der andere lachte. Da war der Schehle ja an die zwanzig Jahre älter. Und fast noch älter sah er aus. Er hielt sich jetzt immer gebückt, ein wenig nach vornüber; seine hagere Gestalt schien kleiner geworden in dem einen Jahr. Und sie hatte noch eine Figur wie ein junges Mädchen.
Eines Tages war Hermann hinter ihr hergegangen auf der Straße, er war absichtlich zurückgeblieben, denn wenn er an ihr vorbeikam, mußte er doch die Mütze ziehen, und sie – würde sie ihn grüßen, oder würde sie, wie schon so oft, nach der anderen Seite sehen? Dem wollte er sich nicht aussetzen. So verlangsamte er seinen Schritt, obgleich er es eilig hatte. Nicht nur ihre Gestalt war noch wie die eines jungen Mädchens, auch ihr Gang. Der war leicht. Sie trug Zeugstiefeletten, an der Seite geschnürt; er sah, daß sie einen zierlichen Fuß hatte. Und um den schmalen Gürtel trug sie die Uhrkette geschlungen, eine schöne Uhr baumelte daran herunter. Die Vorübergehenden drehten sich um nach ihr; hier in der Halleschen Torgegend war die Frau des reichen Schmieds wohlbekannt. Ein Offizier ritt vorbei, er grüßte artig, und die Frau verneigte sich dankend. Donnerwetter, die hatte aber eine Benehmigung, einen Anstand, wie eine geborene »von«! Hermann staunte; die Meisterin war ihm ein Rätsel.
Sie sollte ihm noch ein größeres werden, denn plötzlich, hundert Schritt von der Einfahrt, wendete sie sich um, schloß den Stocksonnenschirm und sagte mit einem Lächeln, das ihr ein wenig düsteres Gesicht unter der grünen Seidenkapotte erhellte wie Mondaufgang eine dunkle Nacht: »Guten Tag, Herr Henze!«
Er riß die Mütze vom Kopf, er wurde ganz verlegen; darauf war er nicht vorbereitet gewesen.
Sie aber sprach mit ihm, als hätten sie bisher alle Tage miteinander gesprochen; ein freundliches Lächeln spielte um ihren Mund, sie gingen nebeneinander bis zur Einfahrt, dann sagte sie ihm Adieu. Und er stand in seinem alten Schlosserkittel, in dem rußigen Lederschurzfell, das er sich nicht die Zeit genommen hatte, abzubinden, war er doch nur auf einen Sprung zu einem Frühstücksschluck fortgewesen, und sah ihr seiden-kariertes Kleid um die Ecke der Treppe verschwinden, hörte noch das Rascheln ihrer Röcke und verwunderte sich.
Das hätte er nie geglaubt, daß sie so freundlich sein könnte! Eigentlich war sie eine sehr gut aussehende Person! Frauen in ihrem Alter waren sonst für den Schmied nicht mehr Gegenstand der Beachtung gewesen – je jünger, desto lieber. Auch etwas mehr Fülle liebte er, ein bißchen »durchwachsen«, aber ihre Schlankheit machte sie vornehm. So mager war sie gar nicht! Er dachte über das nach, was die Leute von ihr sagten; viel Freundliches war es nicht. Das war natürlich, nur wenigen hier im Viertel ging es so gut; die reiche Frau, die sich so ganz für sich hielt, hatte Neider und Neiderinnen genug. Sie tat ihm fast leid: was führte die für ein Leben! Immer allein, oder mit dem grämlichen Mann, der den Mund nicht zum Lächeln verzog, geschweige denn einmal recht herzhaft lachte. Das mußte schrecklich sein für ein Weib, so ein ältlicher, kranker Mann – für eine, die noch lieben kann und lieben möchte! –
In dieser Nacht lag Hermann eine ganze Weile noch wach in seiner Kammer. Es war sehr heiß, obgleich er das Fenster weit offen stehen hatte. Hinten im Garten sang ein Vogel, er zog und lockte.
Was war das für einer? Er sang wie eine Nachtigall und konnte doch keine sein; Paarungszeit war auch schon längst da. Der Schmied hörte zu. Der Schweiß brach ihm aus, es wurde ihm seltsam beklommen und eng.
Wie kam dieser Vogel in den Garten? Er hatte ihn noch nie hier gehört. Er sprang aus dem Bett ans Fenster: »Ksch, ksch!« Der Vogel schwieg. Aber kaum lag der Mann wieder, fing der Vogel aufs neue an. Der narrte ihn. »Verwünschtes Vieh!« Schimpfend klappte der Schmied das Fenster zu. Dabei sollte nun einer schlafen! Aber dann war es so heiß, so unerträglich, daß er wieder aufsprang und es aufriß.
Der Vogel sang, der Mann stand am Fenster – halb nackt – und ließ sich den brennenden Leib von der Brutwärme des Gartens umstreicheln. Und brennende Wünsche stiegen auf in ihm. Was nutzte es, daß er sie sich selber nicht klar machte, nicht ihrer deutlich bewußt war? Sie lauerten doch auf ihn. Was nutzte es, daß der Vogel jetzt ängstlich schirpte, seine Stimme erhob zu langgezogenem Warnungsruf? Verflixter Vogel! Verwünschter Garten!
Wie verzaubert lag der verschwiegene Winkel um die Mitternacht. Kein Luftzug stieg über die hohe Mauer; durch die dichten Wipfel der Bäume, die nie gestutzt wurden, lugte kein Mondstrahl. Nur ganz oben, hoch am gewitterschwangeren Himmel stand ein matter Stern. Gottlieb hatte Blumen gepflanzt; solche, die viel Luft und Freilicht liebten, gediehen hier nicht, die zog er hier auch nicht. Aber es war recht der Platz für kletterndes Geißblatt, für die Mirabilis Jalapa, die unscheinbar am Tage steht, aber nachts ihre Kelche öffnet und stark duftet. Jetzt roch es so süß, daß es fast betäubte.
Es war ein schwerer, unruhiger Schlaf, in den Hermann verfiel; am Morgen hatte er einen dicken Schädel, einen dickeren, als wenn er sieben Weiße getrunken hatte und die nötigen Schnäpse dazu.
Er stand vor der Werkstatt, unlustig zur Arbeit. Die Glieder waren ihm wie aus Blei, und er konnte kaum denken. Alles war ihm lästig. Der Lehrjunge pumpte Wasser; aus dem Rohr des grüngestrichenen Brunnens, der vorm Schuppen stand, schoß der silberhelle Strahl in den Eimer. Da kam ihm plötzlich ein Einfall. Der Lehrjunge hatte den Eimer voll, langsam schlorrte er mit ihm ab; Hermann warf einen raschen Blick rundum: niemand in Sicht. Im Vorderhaus waren die Gardinen noch vorgezogen. Er streifte den Kittel ab und dann alles übrige.
»Gottlieb!«
Der war gleich bei der Hand.
»Plump mich mal ab!« Hermann bückte sich unter das Rohr, lachend setzte Gottlieb den Schwengel in Bewegung – auf, nieder, nieder, auf – kalt wie Eis rieselte das Wasser aus tiefem Brunnen über den glühenden Menschen. Der schauerte vor Wollust.
»Kalt, was?« sagte Gottlieb. Ihm klapperten schon beim Zusehen die Zähne; für viel Wasser am eigenen Leib war er nicht. Aber der starke Mann schüttelte sich vor Behagen. Er richtete den schlanken Rücken, über dessen Bronzefarbe es noch rieselte wie weiße Perlen, gerade auf, er dehnte die gewölbte Brust, er reckte die sehnigen Arme hoch über dem Kopf: ah, das tat gut! Es erfrischte ihm Leib und Seele. Hell sahen auf einmal seine Augen – da – da, oben im Vorderhaus – die Gardine bewegte sich – da hatte jemand heruntergesehen! Eine Hand ließ rasch den Vorhang wieder fallen.
Schnell war der Geselle in seiner Hose: das würde doch nicht der Meister gewesen sein?
»Nee, der schläft da nich!« Gottlieb prustete hinter der vorgehaltenen Hand.
Hermann fühlte, wie ihm eine Röte den Nacken überzog und immer höher stieg bis in die Stirn. Aber dann schüttelte er die Verlegenheit ab: wer es auch gewesen sein mochte, ihm war es gleich. Was brauchte sie in aller Herrgottsfrühe schon auf den Hof zu spähen!
Den ganzen Tag pfiff er herausfordernd, er wollte zeigen, wie wenig es ihn genierte. Überhaupt, war er denn nicht ein Kerl, der sich sehen lassen konnte?!
Ja, das war er. Die Augen der Frau, die so lange Jahre zu Boden geblickt hatten, verdüstert von der Eintönigkeit des Daseins, von einer um sie aufgerichteten Einsamkeit, in der die einst so Lebenslustige täglich, stündlich den Vorwurf, das Mißtrauen, die Galle des Ehemannes spürte, sahen jetzt öfter auf. Johanna Schehle war nicht leichtsinnig mehr: jetzt wußte sie recht gut, was sie sich schuldig war. Höher richtete sie den Nacken auf, wenn der Blick des Gesellen dem ihren begegnete. Ein dreister Mensch! Aber was sollte sie machen? Vor den Kopf stoßen durfte sie den Menschen ja nicht, denn Schehle wurde immer abgängiger, der neue Geselle hatte sich vorzüglich eingearbeitet, Schehle, der sonst mit niemandem freundlich war, zog ihn immer mehr heran.
»Der Henze is dem Meester seine rechte Hand,« versicherte Gottlieb. »Wenn's mal schief jehen sollte, Meester'n, der fährt Ihnen die Karre aus'n Dreck!«
Gottlieb meinte es gut mit dem alten Meister, gut mit der Frau, und gut mit jenem, in dem er durch die Schlauheit seiner Zwitterstellung – halb Dienstbote, halb zur Herrschaft gehörig – den neuen Meister witterte. Aber gut war es nicht, daß er der Meisterin so viel von dem Gesellen sprach und dem Gesellen von der Meisterin. Früher hatte Gottlieb sich kaum getraut, mit der Frau zu sprechen – sie war zwar immer freundlich zu ihm gewesen, er hatte immer seine richtige Anzahl Schrippen bekommen und abends die Schmalzstullen auch noch belegt – aber jetzt wagte er es, mit ihr zu schwatzen. Die einsame Frau öffnete ihm ihr Ohr.
»Du, sie hat mir neulich jefragt, ob du 'ne Braut hätt'st,« erzählte Gottlieb. Er nannte jetzt Hermann Henze ›du‹. Seinen Hermann!
Der Geselle war nicht hochmütig gegen den Hausknecht, er mochte Gottlieb gern leiden, er lachte über dessen Bemerkungen; vor allem hatte er ein Gefühl des Mitleids für den Hinkenden. Ihn, der sich selber im Vollbesitz seiner Kräfte fühlte, dauerte der Bursche, der jünger als er selber war und doch von seiner Jugend nichts hatte. Gutmütig forderte er Gottlieb auf, Sonntags einmal mit ihm zu kommen. Bei Kreideweiß in Tempelhof war Tanzmusik, da fand man die Dorfschönen und die hübschesten Berliner Dienstmädel, da konnte man sich einmal recht austollen; man konnte mit den Mädels ins Grüne gehen. Blieb man zu lange aus, so schmetterte einer von der Musik auf seiner Trompete die Melodie des Walzers zum Fenster hinaus.
Aber Gottlieb schüttelte trübselig den Kopf: mit so einem Hinkebein ging keine ins Grüne, und tanzen konnte er nicht. Er blieb zurück und hütete das Haus, während die Gesellen, selbst der Lehrjunge, zum Vergnügen fort waren. Auf dem Hof, der am Sonntag verödet lag, doppelt ausgestorben erschien nach dem Leben des Alltags, hatte er sich den Hauklotz in die Sonne gerückt, saß da und spielte seine Ziehharmonika.
»Unterm Mühlendamm,
da sitzt 'n Mann mit Schwamm –«
»Juter Mond, du jehst so stille –«
»So leben wir, so leben wir,
So leben wir alle Dage« ...
Gottlieb war ein Meister auf der Harmonika. Er sang auch dazu, wie er es oben von der alten Majunken, der Freundin seiner Kindheit, die, wenn's auf Jahrmärkten nichts zu tun gab, mit einer Harfe auf die Höfe gezogen war, gelernt hatte.
»Was soll ich in der Fremde tun?
Es is ja hier so schön!
Sie reichte mir die zarte Hand
Und sprach: Nun kannst du jehn!«
Das war auch des Gesellen Lieblingslied. Oft nach Feierabend, wenn die Schatten düsterten, der Hof still war, nur oben durchs Graublau des Abends noch ein Schwalbenschrei schrillte, ließ er es sich von Gottlieb vorsingen. Der Lahme hatte eine angenehme Stimme, hoch und doch weich; wenn er das
»Nun ka–a–annst d–u–u–u gehn«
so recht lang zog und dabei die Stimme vibrieren ließ vor Gefühl, dann konnten einem wohl die Tränen in die Augen kommen.
An diesem Sonntagnachmittag hörte es nur der Meister, der in seinem düsteren Kontor im Winkel saß und dort versuchte, eine halbe Stunde Schlaf zu erringen. »Und sprach, nun kannst du gehn« – das berührte ihn eigentümlich; es war, als würde es zu ihm gesagt.
Er fühlte sich nicht wohl. Reiche Leute reisen bei solchen Beschwerden nach Karlsbad, der Doktor hatte auch ihm das vorgeschlagen – nun ja, vielleicht nächstes Frühjahr – wenn er den Winter noch überdauerte! Schehle schüttelte den Kopf. Jetzt war es erst Herbst. Ein Ausdruck müder Verdrossenheit legte sich auf sein verfallenes Gesicht: nein, er mochte nicht mehr nach Karlsbad reisen. Dieses durfte er nicht, und jenes nicht, ein Kind hatte er auch nicht, für wen, für was wollte er sich denn noch am Leben erhalten? Er hatte keine Freude mehr davon. Auch die Arbeit machte ihm jetzt keine Freude mehr; und das war das Ärgste. In der Arbeit hatte er alles andere vergessen können. Er konnte zwar schon lange nicht mehr selber mit Hand anlegen, aber nun war ihm auch das Interesse an der Arbeit vergangen. Das ahnten sie alle noch nicht, noch hatte er die Willenskraft, mit finster zusammengezogenen Brauen und spähenden Augen in die Werkstatt zu treten, auf dem Hof herumzugehen, dazustehen, als kommandiere er alles – aber nicht lange mehr, und der erste Geselle, der im Grunde jetzt schon die Seele der Arbeit war, leitete auch nach außen hin das Geschäft!
Es stieg etwas Galliges auf im Meister gegen den Gesellen: hatte der ein Glück, kam hier hereingeschneit und legte sich gleich ins gemachte Bett! Aber er war zu gerecht, um das Gallige nicht herunterzuschlucken. Der Henze verdiente sein Glück; er war tüchtig und fleißig. Und gerade, daß er so ein Kerl war, wie er einer war, einer, der nichts anbrennen ließ, das gefiel Schehle.
Das Gesicht des kranken Mannes heiterte sich ein wenig auf. Wenn er den strotzenden Menschen ansah, trat die Zeit eigener Manneskraft vor ihn hin. Auch er hatte dazumal nichts anbrennen lassen, auch er hatte verstanden, zu arbeiten, aber auch zu genießen. »Oh Gott!« Er stöhnte auf und griff sich mit der Hand an den mager gewordenen Wangen, am spitzen Kinn herunter. Wo war jetzt die Manneskraft hin? Zum Teufel!
»Hör auf mit dem Gequäke!« Er klopfte hart gegen das Kontorfensterchen und drohte.
Die Harmonika schwieg und der Gesang. Aber Gottlieb war nicht eingeschüchtert; er kannte den Meister, der war nur nach außen so und kriegte nur zuweilen den Koller, im Grunde gönnte er jedem sein bißchen Freude. Traurig für den Alten, daß der so gar nicht mehr mittun konnte!
Noch war keine Viertelstunde vergangen, und die Harmonika quiekte wieder, und elegischer noch als zuvor erklang der Gesang:
»Was soll ich in der Fremde tun,
Es is ja hier so schön!«
»Sehr schön,« sagte bitter der Meister; aber er klopfte nicht mehr ans Kontorfensterchen. Warum dem armen Hinkebein sein bißchen Pläsier nehmen? Und dann, wenn er auch Ruhe gebot, sie würden ja doch nicht lange darauf hören. Alt – abständig! Er stöhnte wieder. Er fühlte sich beiseite geschoben, schon tot bei lebendigem Leibe. Jetzt war's Zeit, daß er sich bald mal den Henze kommen ließ und anfragte, ob der – ach was! Gereizt schnellte der Kranke im Ohrenlehnstuhl auf; er fuhr aus dem dunklen Winkel heraus wie ein Löwe aus seiner Höhle: noch war es nicht Matthäi am letzten, noch stand er selber seinem Kram vor. Das Weitere würde sich dann schon finden!
»Sie reichte ihm die zarte Hand
Und sprach: Nun kannst du gehn!«
Ja, ja, Johanna kriegte den ganzen Krempel – die Blamage tat er sich selbst im Tode nicht an, daß er den bösen Zungen des Viertels, den Klatschbasen zu erkennen gab, wie er mit ihr stand. Sie trug seinen Namen, sie beerbte ihn. Es blieb bei dem Testament, das er gemacht hatte bald nach seiner Verheiratung – da gab's keine Änderung dran. Und er hatte sie ja auch einstmals lieb gehabt. Sehr lieb gehabt. Arme Frau! In einer plötzlichen Weichheit und in einer Erkenntnis aller schwachen Menschlichkeit senkte der Meister den Kopf auf die Brust. Sie war jung, er über zwanzig Jahre älter als sie – warum hatte er ihr denn nie verzeihen können?! – –
Und noch jemand lauschte dem Gesange Gottliebs. Das war die Meisterin, die saß an ihrem Nähtisch im Vorderhaus. Das Kind war mit der Magd vors Tor auf die Schlächterwiese gegangen; die Tine spielte dort mit Helenchen Federball. Einsam saß die Frau in ihrer geräumigen Wohnung. Die war jetzt noch geräumiger als früher, denn der Meister hatte sich vollständig ausquartiert mit seinen Siebensachen. Schon lange hatte sie ihr Bett für sich allein gehabt, Jahre – so lange, als Helenchen auf der Welt war; aber jetzt war er ganz hinübergezogen ins Kontor. Da brauchte er keine Treppe zu steigen, war gleich zu ebener Erde draußen auf dem Hof, konnte viel besser kontrollieren, und nachts schlug sich Gottlieb sein Lager in dem Vorraum des Privat-Kontors auf.
Sie hörte zu mit düster-sinnenden Augen. »Nun kannst du gehn« – immer und ewig wiederholte der dumme Bursche da unten diesen Refrain, jedesmal zum Schluß jeder Strophe, so viele Strophen das Lied auch hatte. Es konnte einen verrückt machen! Sie stützte den Kopf, eine lange Locke gedrehten Haares fiel ihr über die weiße Hand. Wenn er gehen würde – gegangen war – dann – ja dann –! Sie erschauerte – was würde sie dann machen?!
In einem plötzlich ausbrechenden Ungestüm warf sie die Arme lang vor sich über den Nähtisch und legte weinend ihren Kopf darauf. So einsam, so furchtbar einsam! Was halfen ihr die Kleider, die sie sich anschaffte – es war ihr bis jetzt noch immer ein gewisses Vergnügen gewesen, sich gut anzuziehen –, was nutzten ihr die teuren Lumpen, wenn keiner da war, der sie darin bewunderte? Oder bewunderte sie am Ende doch einer?!
Sie hob den Kopf von den Armen auf, in ihren weinenden Augen fing es an zu leuchten: wenn Schehle wirklich sterben müßte, verlassen wäre sie darum nicht. Da war der erste Geselle, der Henze, dem konnte sie ruhig die Führung des großen Geschäftes übertragen. Der verstand es, und – weiter dachte sie nicht, wollte sie nicht denken.
Als sei die große Stube ihr zu eng, so lief sie unruhig darin auf und ab. Es quälte sie etwas, sie stieß tiefe Seufzer aus. Dann stand sie still vorm Spiegel. Der war aus zwei Stücken Glas zusammengefügt; die Fuge ging gerade mitten durch ihr Gesicht, teilte es in zwei Hälften. Die Augen sprachen: wir haben viel geweint – der Mund sprach: aber ich möchte noch lachen, und – die feuchten Lippen hoben sich von den Zähnen und zeigten deren Schmelz – ich möchte noch küssen. Arme Frau! Hatte sie es zu sich selber gesprochen, hatte sie so laut gedacht? Sie war verwundert über sich, sie lief ans Fenster, hob die Gardine und lauschte dahinter hervor.
Er war jetzt nicht unten, nur der lahme Gottlieb saß da auf dem Hauklotz in der Sonne. Man konnte es einem jungen Mann auch nicht verdenken, daß er zum Vergnügen ging; es war ja traurig hier. Wo er wohl hingegangen sein mochte? Der Sporn der Eifersucht stachelte sie: er war ansehnlich, er fiel jedermann auf, er hatte ein freies Wesen – die Frauenzimmer hatten heutzutage nicht Sitte, noch Anstand, sie würden sich an ihn heranmachen – und er – er – würde er die Zudringlichen von sich abschütteln?!
Es flimmerte ihr vor den Augen. Sie seufzte zittrig und rieb ihre Handflächen aneinander, bis sie ihr brannten, brannten wie ihre Wangen, deren beständiges Blaß sich jetzt rot färbte. Und plötzlich warf sie sich in die Ecke des Kanapees und verhüllte ihr Gesicht mit dem fein gehäkelten Antimakassar: was ging es sie an, was dieser Mensch trieb? Sie war die Meisterin, er der Geselle – schämte sie sich denn gar nicht?!
Jetzt war es wieder die stolze, die eingebildete Madame Schehle, die das Fenster öffnete und mit scharfer Stimme auf den Hof hinunterrief: »Aufhören – sofort!«
Das Harmonikaspiel verstummte und ließ sich auch heute nicht wieder hören.
»Sie war schlechter Laune,« erzählte Gottlieb, als er gegen Morgen Hermann einließ. Sie hatten das Zeichen verabredet, einen leisen Pfiff auf zwei Tönen »tüt, tüt«, dann hörte der Getreue sofort. Er schlich dann auf bloßen Füßen, damit der Meister nichts merkte, öffnete dem spät, vielmehr früh Heimkehrenden die Glashaustür und geleitete ihn bis in seine Kammer.
Nicht jedesmal legte sich Hermann noch nieder: wozu schlafen? Der Schlaf war nur da für die Faulen oder die Unglücklichen; er brauchte ihn nicht. Es tat ihm leid um jede Stunde, die er so versäumte; eine Unrast hatte er jetzt im Blut, eine Unruhe, die fast ebenso groß war wie dazumal, als die Glocken Sturm geläutet hatten und es hieß: »Voran, auf!« Da war er mitten hineingesprungen in den Kampf der Zeit, da hatte es nicht an ihm gelegen, daß es so kläglich ausgegangen war.
Aber jetzt – jetzt?! Wieder war in ihm dasselbe Verlangen und Treiben, das gleiche Hoffen und Drängen. Sei es um die Freiheit, um die Braut, um ein Mädchen, das man liebt, oder um ein Weib, das einen begehrt – kämpfen, erlangen!
»Paß auf, du wirst noch mal sein Kompagnon,« hatte Gottlieb gesagt; daran hatte er schon manches Mal wieder gedacht. Aber wann – wie?! Der Alte hatte noch nichts davon gesagt. Ob er überhaupt jemals etwas davon sagen würde? Den einen Tag schien es Hermann ganz nahe daran, den andern Tag wieder ganz weit davon. Die Ungeduld quälte ihn. Der Alte konnte ja gar nicht mehr, wollte der denn immer noch kommandieren? Es war dem Gesellen, als müsse er dem Meister das Kommando abnehmen, abfordern. Er war der Junge, der Kräftige, ihm kam das Regiment zu, was zögerte denn der Schehle immer noch?
Wahrhaftig, dem Meister gönnte er das Leben, der hatte ihm nur Gutes getan – der arme Mann! – wer sagte ihm denn auch, ob die Meisterin damit einverstanden sein würde? Die Frau war die Erbin – wenn die sich nun einen anderen Geschäftsführer nahm?!
»Sie hat'n Auge uf dir,« sagte Gottlieb. Das Herz stand dem Gesellen still, als der Bursch das sagte; er konnte nichts anderes darauf erwidern als: »So.« And dann fuhr er Gottlieb an: »Halt's Maul!«
Aber ein Nachhall der Worte war geblieben. Und dieser Nachhall war stark. Hermanns Eitelkeit war geschmeichelt: die Meisterin hatte ein Auge auf ihn, die Meisterin! Jetzt glaubte er's selber zu bemerken. Am Sonntag, wenn er fort war, zeigte sie schlechte Laune. Am Alltag, wenn sein Pfeifen unten auf dem Hofe ertönte und sein Hammerschlag so recht lustig im Takt, sah sie öfter aus dem Fenster, kam mit der Kleinen wohl gar auf den Hof herab, was sie früher niemals getan hatte. Sie ging hinüber ins Kontor ihres Alten, kam aber gleich wieder heraus, ging dann langsam, erklärte dem Kind dies und jenes, sah wohl zu, wenn ein Pferd beschlagen wurde, zeigte überhaupt Interesse an dem, was geschah. Eine kluge Frau und geschäftstüchtig – ach was, klug? Geschäftstüchtig?! Da mußte Hermann laut lachen.
Die kam seinetwegen. Was kümmerte die sich ums Geschäft? Seinetwegen! Und er fing an, den Blick ihrer Augen zu suchen. Er zwang sie, ihn anzusehen. Er ließ den zwingenden Blick nicht von ihr. Und sie drehte langsam den Kopf nach ihm, und ihre Augen, die so dunkel waren wie eine finstere Nacht, in der man sich nicht zurechtfinden kann, sahen ihn seltsam an.
Er wußte nicht, ob liebend, ob hassend.
Die kleine Helene hatte blonde Haare, ganz andere als die Frau: sie glich der nicht. Nur die schwarzen Augen hatte das Kind von der Mutter; die waren das Schöne an der Meisterin. Das Kind aber war sehr schön, weil es heiter war; es war wie Sonnenschein mit seinen goldigen Haaren, die ihm alle Abend in Papilloten gewickelt wurden und morgens noch um ein Holz, damit sie in langen, gedrehten Locken auf die Schultern fielen.
»Von's Jesicht 'n Engel, den Deibel im Leib,« sagte die alte Majunke, die in der Dachwohnung hauste. Schehle litt die alte Frau dort aus Barmherzigkeit, und weil die Majunkes schon oben gewohnt hatten, als seine Eltern noch hier im Hause lebten. Damals hatten die Majunkes pünktlicher die Miete gezahlt, jetzt haperte es oft damit bei der Alten, die von ein bißchen Armenunterstützung lebte und von dem, was mildtätige Verwandte ihr zukommen ließen. Schehle hieß sie nicht gehen; und überdies war's ihm gleichgültig, ob er die paar Groschen für die Mansarde bekam oder nicht. Die Majunke dankte es ihm nicht einmal: ei ja, er war ganz rechtschaffen und gut zu ihr, aber sie mochte ihn doch nicht leiden. Ihr seliger Majunke hatte oft gesagt: »Was nutzt alle Rechtschaffenheit im Herzen, wenn die Benehmijung nich ämabel is.« Wäre der Schehle nicht ein solcher Griesgram gewesen sein Leben lang, wer weiß, ob es mit der Frau nicht auch anders gekommen wäre!
Die Majunke wußte genug zu erzählen, von damals, als die Meisterin noch so hübsch gewesen war wie eine Puppe und sich gern die Redensarten anhörte von den feinen Offizieren und von hohen Herren – von sehr hohen Herren – die sich herabließen, selber ihre Pferde auf den Hof zu bringen. »Un als dann der Prinz« – sie schlug sich auf den Mund – »ick habe nischt jesagt! Ick will nischt jesagt haben!« Ängstlich sah sie auf Gottlieb, der bei ihr saß. »Sonst schmeißt er mir raus, der Olle!«
Gottlieb lachte gutmütig: da konnte sie ruhig sein, reden, was sie wollte, er verriet sie nicht.
Seit seinen frühesten Kindertagen kam er hier herauf; als er noch nicht laufen konnte, denn lange hatte er die englische Krankheit gehabt, war er auf allen Vieren die Treppe hinaufgekrochen. Sein welkes Händchen kratzte an der niedrigen Tür.
Hier war das Paradies seiner Kindheit gewesen, hier hatte er das gefunden, was er unten nicht fand. Die Majunke, die selbst keine Kinder hatte, nahm ihn auf den Schoß. Sie kam abends oft ganz heiser gesungen heim; wenn Stralauer Fischzug gewesen war, konnte sie den ganzen August und noch den September nicht mehr laut reden, so hatte sie sich abgeschrieen bei der Moritat, die ihr Majunke beorgelte, und die sie mit dem großen Stock erklärte. Aber für das Kind, das auf ihrem Schoß saß und sich an sie schmiegend, entzückt horchte, hatte sie immer noch Stimme. Sie sang den kleinen Gottlieb liebkosend ein:
»Kommt, Menschen, hört dies traur'ge Lied,
Mit Tränen muß ich's singen.
Hört, was in Amsterdam geschehn,
Was Böses kann gelingen!
Die Nacht bricht an, man ruhet sanft,
Man ahnet keine Leiden.
Ein Sohn wählt's Messer, geht voran,
Schneid't Vatern, Muttern, beiden
Im Schlafe, ach! die Gurgel ab –
Er findet weiter noch Pläsier,
Mordet noch seiner Schwestern vier!«
Herr Majunke war nun seit fünf Jahren tot; er drehte seinen Leierkasten nicht mehr und sang nicht mehr auf den Höfen:
»Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?
Sie kämpfen zwischen Finsternis und Licht!
Daß für die Freiheit meine Väter starben,
Das merkte man bis heute wahrlich nicht ...«
Dafür hatte es stets viele Dreier, sogar Sechser aus den Fenstern geregnet; mehr noch, als wenn er zu seinem Pudel sagte: »Mohrchen, jib 'ne Prise her,« und dem Hund, der sich auf die Vorderpfoten stellte und das Hinterteil hob, mit Daumen und Zeigefinger unter den Schwanz faßte und dann so kräftig nieste, daß der enge Hof erdröhnte.
Herr Majunke mit dem Stelzbein und dem Ehrenzeichen von Bautzen her, mit Mohrchen, dem klugen Pudel, war nicht mehr. Nur sein Orgelkasten, der so ausgeleiert war, daß niemand ihn hatte kaufen wollen, stand noch da, war mit Wachstuch überdeckt und diente als Tisch für alles.
Jetzt saßen seine Witwe und Gottlieb zum Kaffee daran. Die Zichorienbrühe duftete herb; mit dem sauren Pflaumenmus aus der zerbrochenen Tasse waren ein paar Schnitten Brot bestrichen, und Gottlieb strahlte vor Genuß. Über dem Orgelkasten steckten sie die Köpfe zusammen.
»Aus is's bald mit ihm,« sagte die Majunke, »da is nischt mehr bei zu wollen!«
»Er hat's an die Leber,« sagte Gottlieb.
»I wo!« Die alte Frau schüttelte den Kopf; ihre Nase, die lang und spitz unter der Fladdrusche der Haube vorstach, wurde noch spitziger. »Det is et nich. Damals der Schkandal mit dem Prinzen und der Frau, un det er's Maul halten mußte dabei un denn den Hofschmiedstitel instecken un noch Danke schön sagen, det frißt ihm wie'n Wurm in der Jalle. Det zehrt'n uf!«