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Neuntes Kapitel

»'n janz ausgewachsener Kuhhandel,« sagte August Lehmann zu seinem Schwiegervater. »Ick möchte ihm bloß mal bejejnen, denn würde ick ihm't stecken, wie ick det finde!«

»Du bist wohl neid'sch?« Seine junge Frau gab ihm einen kleinen Schubs. Mieke war jetzt gerade so drall und lustig und resolut geworden wie die Älteste, die Male; und einen Jungen hatte sie auch schon. »Ich habe deine Freundschaft mit dem Henze nie so recht bejreifen können. Das's ja einer, der jleich aufs Janze jeht!«

»Na, un is det etwa schlimm?« Der alte Schulze schob an seinem Käppchen. »Det is unter Umständen die jrößte Tugend. Wenn man mehr Leute ufs Janze jingen – recht resolut! Wenn der Bürjer im Alljemeinen mehr Mumm hätte, un der König ooch, denn hätten wir jetzt nich so 'ne susige Zeit. Keen Mensch weiß, wo er eejentlich dran is!«

»Sieh mal Vatern an, er wird polit'sch!« sagte Miele, die Jüngste. Die andern lachten.

Aber Christian brummte: »Heinemann sagt et ooch, un der versteht doch wat, det werd't ihr zujeben, er is en feiner Mann und Tierarzt – die Schmiede kann sich jratelieren, det se so einem in de Finger jekommen is!«

»Ob die Frau sich auch so gratulieren kann?« Die jüngste Schulze war recht naseweis.

Das konnte keiner sagen, man hatte nichts darüber gehört. Lange waren sie ja auch noch nicht verheiratet. Ein Jahr. Ungefähr so lange wie Minne.

»Det er die so rasch verjessen hat,« sagte August nachdenklich. »Un er tat doch, als könnte er nich leben ohne ihr. Un jetzt die Schehle! Na, ich danke, der Unterschied!«

Henze selber empfand den Unterschied, wenn er auch nicht gerade Minne zum Vergleich heranzog. Er hatte unbewußt eine gewisse Scheu, an Wilhelmine Schulze zu denken. Es gab ja auch noch andere Mädchen, Mädchen, die sich keinen Augenblick bedachten, dem schönen Schmied ihre Liebe zu schenken, wenn der auch jetzt ein verheirateter Mann war. Da war die Mieze zum Beispiel – ein hübsches Mädchen, drall, lustig – die kehrte sich den Kuckuck dran, daß der Meister eine Meisterin hatte. Es war oft ein großes Gelächter und ein Gejachter in der engen Schenkstube der Ritterstraße, der schwere Mann jagte die flinke Mieze um den Tisch herum.

Hier in der Ritterstraße war er ein anderer als in der Lindenstraße. Dort empfing ihn die Frau mit derselben Liebessehnsucht, mit demselben Lebenshunger, die sie in seine Arme getrieben hatten, und es war nun keine Schuld mehr dabei, der alte Meister war tot, der neue Meister war ihr Mann, aber es war etwas zurückgeblieben, das nahm ihrem Kuß die Frische, ihrer Liebe die Fröhlichkeit. Den Schmied freilich kümmerte keine vorwurfsvolle Erinnerung. »Lach doch! Laß nich den Kopf hängen wie 'ne Trauerweide, das 's ja langweilig! Was haste denn schon wieder?«

Johanna Henze zwang sich zu einer Lustigkeit, die ihr nicht von Herzen kam; sie stand ihr auch nicht. Ja, damals, damals, als sie erst ein paar Jahre mit Schehle verheiratet gewesen war, als ihr Erinnern noch blank und unbefleckt war – damals! Sie seufzte auf, ihr scheuer Blick blieb auf Helene haften: wie schnell, wie unheimlich schnell die heranwuchs! Ja, damals hatte sie für jeden Witz ein munteres Lachen, für jede Schmeichelei ein williges Ohr gehabt, damals! Sie schluckte etwas herunter, was ihr wie Tränen in die Kehle quoll. Jetzt konnte sie eben nicht mehr so unbedacht sein wie damals.

Mit verschleierten Augen starrte sie hinunter auf den Hof, den ihres Mannes Stimme laut machte; diese Stimme, die durch alles Klappern, Hämmern, Klopfen so deutlich zu vernehmen war. Wer doch so sein könnte wie er! Sie sah es ja, alles flog ihm zu. Wenn er auch mit den Leuten schalt, wenn er sie auch anfuhr, ernstlich erzürnte sich doch kein Mensch mit ihm. Man konnte ihm ja nicht böse sein. Ihr Hermann, ihr geliebter Mann! Die ganze Leidenschaft ihrer Sinne trat in den Blick der Frau, aber die Empfindlichkeit ihrer Seele zog gleich wieder den Schleier darüber.

Wenn der Meister mittags heraufkam, rußig, verschwitzt, mit gutem Appetit, gleich Essen haben wollte, um dann wieder hinunterzugehen, fand sie nicht den Ton, der ihm behagte. Sie war immer noch eine ansehnliche Frau, hätte sie jetzt nur Helene hinausgeschickt, sich ihm auf den Schoß gesetzt, sich an ihm gerieben wie eine verliebte Katze, dann wäre er nicht so rasch wieder hinuntergegangen. So war es nur die Kleine, die ihn noch für ein paar Minuten festhielt.

Er hatte tüchtig gegessen, es hatte ihm geschmeckt, in der Stube war das ganze Behagen einer guten Mahlzeit, der Lehrjunge hatte ihm eine schaumige Weiße geholt in einem großen Pokal; nun zog er das schöne Mädchen an einer ihrer goldigen Haarsträhnen zu sich heran. Er wickelte sich die seidige Locke um einen Finger.

»Au, Onkel, das ziept!« Helene kicherte.

»Au, au – ich werd dich auen,« er zupfte sie ganz kräftig. »Du sollst mich nich Onkel nennen. Weißt du denn das noch immer nich? Sag: Vater!«

»Väterchen?« Sie legte den Kopf auf die Seite und lächelte ihn schelmisch an. »Väterchen – nein, das kann ich nicht. Das mag ich auch nicht. Väterchen, haha, Väterchen – du bist doch kein Väterchen!« Sie lachte ausgelassen: »Onkelchen!« Sie warf sich ihm an den Hals. »Onkelchen werd ich zu dir sagen!«

»Helene!« Die Mutter hatte einen ermahnenden Ton. »Sei nicht so wild!«

»Nanu, laß sie doch!« Der Schmied war ganz ärgerlich; das niedliche, zappelnde, lachende Ding an seinem Hals machte ihm Spaß. Aber schon hatte die Tochter, der Mutter gehorsam, von ihm abgelassen. Ganz beschämt stand Helene da, sie war rot geworden.

Daß Johanna auch so gar kein Verständnis für so was hatte! Nicht mal das Kind ließ sie lustig sein. »Mahlzeit!« Rasch war der Schmied aufgestanden, mit hartem Schritt ging er über den Flur und die Treppe hinunter.

Und die Frau setzte sich stumm an ihren Nähtisch. Sie machte viele und feine Handarbeiten, jetzt mehr noch als zu Schehles Zeiten. Es waren Klosterarbeiten. –


Wenn Helene über die Kochstraße ging, in die feine Elisabeth-Schule, drehte sich mancher, der ihr begegnete, nach ihr um: was war das für ein hübsches Mädchen! Die Mutter zog sie sehr niedlich an, und sie hielt auch auf sich. Immer sah sie aus, als wäre sie eben von Kopf zu Fuß ganz frisch gekleidet. Mit anderen Kindern auf der Straße spielte sie nicht; nicht daß die Mutter sie davon zurückgehalten hätte, sie selber mochte es auch nicht. Sie hielt sich gerade, schlank, aufrecht, sie sprang nicht unbändig, die Frisuren der weißen Höschen, die bis auf die Knöchel hingen, waren nie schmutzig; die blonden Locken waren jetzt aufgesteckt zu einem Krönchen. Mütter, die nicht so hübsche Töchter hatten, nannten sie 'ne hochmütige Priese. Eine Schmiedstochter und dann so vornehm tun!

Eine Schmiedstochter –?! Es gab viele, die bei dieser Frage lachten. Sah man's denn nicht deutlich und immer deutlicher: 'ne Prinzentochter!

Helene Schehle ahnte von alledem nichts; sie ahnte es nicht, warum sie hochmütig war. Es lag in ihr, daß sie sich zurückhielt von der Gasse. Sie liebte auch das Haus nicht, in dem sie geboren war; sein Wahrzeichen, das Hufeisen überm Torweg, genierte sie. Und daß der Mann ihrer Mutter Schmiedefäuste hatte, das behagte ihr auch nicht. Nur nicht mit ihm ausgehen, nur nicht sich an seinen Arm hängen, wie er es gern wollte! »Dann halten sie uns für 'n Liebespaar!« sagte er.

»Bloß nicht!« Sie sagte das so erschrocken, daß Henze lachen mußte. Wäre das denn so schlimm? Sie nickte, aber dann erschrak sie: nein, beleidigen wollte sie ihn nicht, er meinte es ja gut.

Ja, gut war er doch, das sagte sich auch Johanna, wenn sie die langen Tage an ihrem Nähtisch saß und nähte, stickte, strickte, häkelte, als müßte sie damit ihr Brot verdienen. Und nachts sagte sie sich es auch vor, wenn sie auf ihn wartete. Er kam oft spät heim. Sie mochte nicht zu Bette gehen, ehe er da war: sie fühlte eine Sehnsucht nach ihm, die sie nicht zur Ruhe kommen ließ. In der Stille der Nacht, in der nichts ihre Gedanken abzog, gab sie sich dieser Sehnsucht ganz hin. Wenn er doch jetzt käme! Die Arme würde sie um ihn schlingen, so fest, daß er sich nicht von ihr losmachen konnte; sie würde ihm in die Augen sehen, so tief, daß sie darin erspähen würde, ob er sie noch liebte. Seine Augen logen nicht. Die einsam Wartende seufzte.

Nebenan in der Schlafstube schlug die Uhr auf der Kommode mit silbernem Klang die Mitternacht. ›Die Uhr schlägt zweien Glücklichen‹ – diese Uhr hatte sie zur Hochzeit bekommen, zu ihrer ersten Hochzeit mit Schehle. Es war ein wertvolles Stück aus einem schön polierten Holz, das gewachsen war fern überm Meer, da wo ewiger Sommer ist und immer heiterer Himmel. Und die Inschrift war eingelegt in Goldbuchstaben. Damals hatte sie über diese Inschrift gelächelt, jetzt lächelte sie auch, aber es war ein wehmütiges Lächeln: ihr war die Inschrift nicht zur Wahrheit geworden. Aber sie sollte – sie mußte jetzt zur Wahrheit werden!

Es war eine windstille Nacht, vom Platz her wehte kein Lüftchen. Die Frau hakte das Fenster los und leuchtete mit der Lampe hinab auf den dunklen Bürgersteig. Es kam noch kein Mensch. Nur ein Kater schlich auf Wegen der Liebe. Pfui, bald würde dieses laute Katzenkonzert wieder anheben! Das ärgerte sie jedes Mal. Auf jedem Hof waren Katzen: die Kater spazierten längs der Dachrinnen, Feuerkugeln gleich glühten ihre Augen, sie mauzten und lockten, und die Kätzinnen antworteten mit leisem Miau.

Heftig zog die Frau das Fenster wieder zu. Warum kam er nicht? Was hielt ihn zurück – wer?! Wie eine jähe Flamme lohte die Eifersucht in der Wartenden auf. Da steckte ein Frauenzimmer dahinter! Sie kannte ihn doch. Das redete er ihr nicht aus. Sie mußte es erfahren, sie mußte dahinter kommen. Aber wer half ihr dabei? Gottlieb?! Der war treu und verschwiegen, und er war ihr gut und ihm gut – ach, wenn er doch wieder sagen würde: ›Hirngespinste, Meestern!‹ Sie wollte ihm gern einen Taler geben, ach, viel mehr, wenn er ihr beweisen konnte, daß sie unrecht hatte. Aber würde sie ihm denn glauben? Hier, hier – sie drückte die Hand gegen die Brust – hier, wo es so unruhig pochte, hier fühlte sie es: er war ihr nicht treu. War sie denn immer treu gewesen? Sie sah sich scheu um, und dann verhüllte sie ihr Gesicht.

Sie fuhr zusammen: jetzt kam er! Das war sein Tritt! Vorhin hatte sie hinabgeleuchtet, in ungeduldiger Sehnsucht nach ihm ausgeschaut; nun hatte sie nicht den Mut ihm entgegen zu stürmen. Mitten in der Stube blieb sie stehen; die Arme, die ihn so zärtlich hatten umfangen wollen, hingen ihr schlaff herunter.

Er war etwas angeheitert, denn es hatte ihm doch eine zu große Freude gemacht: er hatte den August Lehmann getroffen. Auf der Straße, heute abend!


Ganz zufällig waren sie dicht aufeinander gestoßen. Einen Augenblick hatten sie gestutzt, sich fast betroffen angesehn – dann war ein Lächeln der Erinnerung über ihre Gesichter geglitten – unwillkürlich streckten die Hände sich einander entgegen: »Du?!« Die Hände hielten sich fest.

»Kommste mit?« hatte dann Hermann gefragt.

In der Kneipe bei Mieze machten sie sich's gemütlich in einer Ecke. August Lehmann hatte ganz vergessen, daß er mal so etwas gesagt wie: ›ausgewachsener Kuhhandel‹. Liebe Güte, wenn man solche Schmiede kriegen konnte, war man doch dumm, wenn man nicht zugriff bei so schlechten Zeiten!

Miserable Zeiten! Das kam alles von dem dummen Achtundvierzig. Was ging einen ruhigen Familienvater und anständigen Bürger das noch an?! Eine Schande war's gewesen! August Lehmann schüttelte den Kopf. Er wußte nichts mehr davon, daß auch er einst für die Freiheit mit Murmeln geschossen hatte.

Der Schmied sah ihn an: war das noch derselbe August? Ach ja, aber der Frühling war vorbei! Sein lachendes Gesicht wurde plötzlich ernsthaft. Er seufzte leicht: »Herrgott, wo sind die Tage hin? Schön waren sie, was August?«

»Na ja – na schon – aber –!«

»Donnerwetter, was waren wir damals für Kerle!« Die Faust des Schmieds fiel schwer auf den Tisch. »Jetzt is nischt mehr los. Nich mit uns, nich mit denen, die obenan sind!« Er gähnte laut und reckte die Arme über den Kopf: »Langweilige Zeit! Da is keiner, der Mumm hat. Vielleicht ein Einziger. Aber das is 'n Junker bis auf die Knochen, der alle Achtundvierziger aufspießen lassen möchte mit 'm Bajonett. So 'n Aas!« Er lachte wohlgefällig, und dann rief er, auf einmal wieder gut gelaunt: »Mieze, nu bring mal her – Wein – heut feiern wir Wiedersehen!«

Sie hatte keinen Wein, der wurde zu selten hier verlangt; aber einen guten Schnaps. Den tranken sie nun, stießen bei jedem Gläschen mit den kleinen Fingern aneinander und stürzten sich dann in die Weißen. Und nach jeder Weißen kam noch ›'n Warmer‹ hinterher.

So besonders gern hatte Henze den Tischler eigentlich früher gar nicht gehabt, der roch immer nach Leim, nach Leimtiegel und Alltag – der Student war ein ganz anderer gewesen – aber man durfte eben nicht vergleichen. Jetzt war's ihm doch auf einmal, als sei August Lehmann ein sehr guter, ein sehr lieber Freund von ihm. Wie ging's bei Schulzes? Stand das niedrige Haus in der Schützenstraße immer noch? Lebten sie denn alle noch?

August lachte: »Du tust ja jerade, als wär die Schützenstraße uf'm Mond, un als wär allens schon 'n Vierteljahrhundert her!«

Der Meister stützte den Kopf in die Hand: war es denn das nicht auch?! Aber dann gewann seine Fröhlichkeit wieder die Oberhand, er machte Späße, er fragte nach einem jeden. Nur nach Minne fragte er nicht.

August sagte auch nichts von ihr. Er berichtete: nun heiratete nächstens die vierte Schulze, und die fünfte war verlobt. Sie gingen ab wie die warmen Semmeln. Wie lange noch, und die Jüngste, der Naseweis, die kleine Miele, ging auch mit einem.

Wie ein Gemälde, das lange zusammengerollt gewesen, wickelte es sich plötzlich vor Henze auf: wie ewig hatte er nicht an diese Leute gedacht! Vielmehr: nicht denken wollen. Sie hatten ihn ja auch nicht gewollt. Und das war gut gewesen. Denn jetzt war er ein gemachter Mann: er hatte nichts zu bedauern. Er hatte große Pläne, bald würde er bauen. Es war schade um das Glashaus, daß darin nur Gerümpel lagerte. Er hatte schon eine Idee, wie er's herrichten wollte. »Denn mußte mich aber besuchen, Alter. Hand drauf!« –

Sie hatten noch lange gesessen. August war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, als er sich verabschiedete. Henze empfand nicht, daß er stark getrunken hatte, aber er war in einer merkwürdigen Stimmung.

Mieze leuchtete ihm aus der Wirtsstube durch den dunklen Laden zur Ausgangstür. Die Alten lagen schon zu Bett, sie allein war noch aufgeblieben. In der Ecke hatte sie ein bißchen gedruselt, die Katze auf dem Schoß. Als Henze rief: »Zahlen – den ganzen Krempel – was macht's?!« fuhr sie auf. Sie war so müde und verschlafen, daß sie kaum zusammenrechnen konnte. Der Meister rechnete laut mit; es war ihm eine Genugtuung, Lehmann freizuhalten.

Nun, da Mieze die Lampe hochhielt an der Tür – Lehmann war davongestolpert nach einem unsicheren ›Adieu‹ – zog der Schmied sie noch einmal zurück. Er klappte die Tür wieder zu. Die Lampe fiel ihr aus der Hand.

Er war wie ein Sturm, der alles fortfegt. Scherben klirrten am Boden.

»Jotte doch!« Sie stieß einen leisen Angstschrei aus: wenn das Brand gab!

Er lachte. »Brand?!« Sein schwerer Fuß trat die Flämmchen des brennenden Öles aus, ein Tritt schleuderte die Scherben zur Seite. Er hatte das Mädchen mächtig umfaßt. Sein heißer Atem schnob sie an, sein Arm war wie eine Eisenklammer.

Sonst war die Mieze sehr keck. Aber es war so dunkel hier, niemand mehr auf – nur er hier – und er war so gewaltsam: »Lassen Sie mich doch los – nee doch, nee!« Sie sträubte sich.

Da ließ er sie los. Zu sich zwingen tat er keine. Mit einem ernüchterten ›Gute Nacht!‹ ging er von ihr.

Und sie hielt die Tür noch offen und sah ihm nach; jetzt tat es ihr schon leid.

Henze erwachte am Morgen mit einem dumpfen Schmerzgefühl im Kopf; sie mußten doch mehr getrunken haben, als er gedacht hatte. Mißmutig saß er beim Frühstück, es schmeckte ihm nicht. Er war unzufrieden, er wußte selber nicht mit was.

Den August, den August Lehmann hatte er wiedergesehen! Das sommersprossige, gewöhnliche Alltagsgesicht des Tischlers hatte wirklich nichts an sich, über das man sich aufregen konnte. Aber war er denn aufgeregt gewesen? Vielleicht.

Der Meister sah heute seine Frau an, als wäre sie ihm zur Prüfung hingestellt. Sie trug eine langschößige Jackentaille, vorn herunter zugeknöpft; eine Brosche schloß das weiße Umlegekrägelchen am Halse fest zu, und das Haar war halb verborgen unter einer Spitzenbarbe. »Was ziehste dich so an wie 'ne alte Frau?!« Damit ging er hinunter.

In der Werkstatt fand er nichts gut, fand nur auszusetzen. Er fluchte. Die Lausekerle, die machten alles nicht so, wie es sein mußte! Sollte vielleicht ein Rad laufen mit solchem Reifen? Viel zu breit und krumm und schief – erbärmliche Stümper! Faul dazu. Wenn der Meister mal eine halbe Stunde später als sonst herunterkam, taten sie nichts!

Er fuhr die Leute an, daß auch sie rote Köpfe bekamen, und der Altgeselle Peter, der aus dem Rheinland Zugewanderte, protzig erwiderte: »Dann könne mir ja jehen, wann dem Meister unsre Arbeit nit mehr jut jenug is!«

Gehen, die Arbeit hinschmeißen? Oho! Das gab's nicht. Hier wurde geblieben; hier wurde gearbeitet, und zwar ganz gehörig. So! Henze packte den Hammer, er griff selber zu. Er brüllte den Lehrbuben an, der vor Angst schwitzte: »Mehr Glut – Blasebalg!«

Das mußten sie einsehen, er verstand seine Sache. Das Eisenband wurde so gleichmäßig dick, so gleichmäßig breit, besser als das ihrige gewesen war. Die Verdrossenen schwiegen.

Die Arbeit hatte den Meister in bessere Laune gebracht. Sein dunkelrotes Gesicht, glühend vom hastig getanen Werk, von der Höllenglut, die der Blasebalg anfachte, den Gesellen zukehrend, zog er die Börse. Er suchte ein Geldstück. »Da!« Er schleuderte es ihnen hin. Es war eines der Zweiguldenstücke, die der Reichsverweser noch hatte prägen lassen. »Weiter hat der nischt mehr gekonnt. Hebt 'n auf aus 'm Dreck, den Lumpigten, macht euch 'nen vergnügten Tag, ihr Jungens! Denn is der wenigstens für was gut gewesen!« Nun lachte er.

Und sie gaben schnell ihre Verdrossenheit auf. Bei dem Henze war's doch immer noch besser als bei jedem andern Meister!

Hochatmend trat der Schmied vor die Werkstattür. Für den Mittag waren ihm Pferde angemeldet vom Hippodrom an der Dorotheenstraße. Der Stallmeister kam selber mit; der sollte früher mal Offizier gewesen sein. Ja, nicht jedem glückte es! Unwillkürlich reckte sich der Meister; er warf einen Blick rundum, in dem viel Stolz lag. Seine Backen erschienen dicker, seine Brust gewölbter. Er fühlte sich ganz im Besitz.

Da kam der Briefträger auf den Hof. Mit seinen langen Beinen stelzte er auf Henze zu. »Für Ihnen!« und hielt zugleich die Hand hin: »Sechs Silber!« Der Brief war nicht freigemacht.

Ein Bettelbrief? Der Meister griff in die Tasche; er bekam öfters Bettelbriefe. Der hier war von auswärts: vier Groschen das Porto, zwei Groschen noch die Nachzahlung. Häsen?! Von der alten Frau?! Das mußte ihr aber schlecht gehen, die hätte sonst sicher das Porto aufgebracht.

Er ging ein wenig abseits. Er hatte es seiner Mutter damals übel genommen, daß sie die Geschenke, die er ihr nach seiner Heirat mit der reichen Witwe machen wollte, zurückgewiesen hatte: ›Ich brauche nischt, ich habe alles genung‹ – jetzt nahm er doch hastig den Brief in dem elenden Umschlag an sich. Ob sie ihn wohl besuchen kommen wollte? Das würde ihn freuen, sehr freuen – aber – sie hatte Augen, die alles sahen! Sein Blick streifte flüchtig das Vorderhaus. Dann riß er den Brief auf.

Aber der Brief war nicht von ihr diktiert, jemand Fremdes hatte ihn geschrieben, und er war ohne Unterschrift. Und es stand darin, daß der reiche Sohn sich kümmern solle, kümmern müsse, seiner armen Mutter ginge es schlecht. Der Winter war streng gewesen, sie war krank. Der verheirateten Tochter ging es auch schlecht – vier kleine Kinder, der Mann, der Schullehrer, hatte Bluthusten, und sie hatten die Mutter nun auf dem Halse. Die freilich würde dem reichen Sohn, der ihr von selber nichts schickte, es nie zu wissen tun. Aber Schreiber dieses, ein unbekannter Freund, habe es für seine Pflicht gehalten, dem Herrn Schmiedemeister das mitzuteilen. Der Brief schloß: ›Mit untertänigster Wertschätzung.‹

»Gottlieb!« Der Meister schrie über den Hof, daß der Lahme angerannt kam, so schnell er konnte. Henze schloß sich mit ihm im Privatkontor ein.

Der starke Mann war weich wie ein Kind: was sollte er machen, wie konnte er am schnellsten der Alten beispringen? Geld schicken? Wenn sie's aber nun nicht annahm? Sie hatte ja auch anderes nicht angenommen.

»Det kommt immer druf an, wie ihr eener det anbiet't!« Gottlieb sprach weise. »Ick würde ja sagen, mach schnell selber hin. Wenn ick 'ne Mutter hätte, un ick hörte so wat, ick wäre jleich bei ihr. Aber mir hab'n se ja untern Torweg jefunden, in'n Packpapier.«

Ja, er fuhr hin! Der Entschluß war Henze rasch gekommen, aber schon stand er fest. Seiner Mutter ging's schlecht, ein Unbekannter wagte, ihm das zu schreiben?! Bekümmernis rang mit Wut. ›In untertänigster Wertschätzung‹ – das war ja unter diesem Brief der reine Hohn!

In dankbarer Erkenntlichkeit umarmte der Meister seinen Gottlieb: der hatte einen guten Gedanken gehabt. Und was für eine Freude würde die alte Frau haben, wenn er sie so unversehens besuchte. Er würde sich auch nicht lumpen lassen, er würde mit beiden Händen streuen, sie sollten sehen, daß er kein Knauser war, alle sollten sie von seinem Besuch etwas haben. Das hatte er sich ja immer gewünscht, so einmal ins Dorf zurückzukommen, wie er jetzt kommen konnte. Ihm gehörte eine große Schmiede im großen Berlin, jetzt konnte er sich getrost da sehen lassen.

Geschäftig lief Henze hinüber ins Vorderhaus. Johanna sollte ihm rasch ein paar Sachen einpacken, noch heute fuhr er. Er pfiff sich eins. Die Reise mit der Schnellpost war angenehm, es ging schon wie Frühlingsahnen durch die Natur, draußen würden die Saaten grünen, die Lerchen wirbeln, eine Luft, wie man sie in der Stadt gar nicht kannte, würde einem die Seele weiten. Aber er dachte nicht daran zu fragen: Johanna, willst du mit? Auch nicht daran, daß sie es war, die es ihm ermöglicht hatte, so heimzukommen.


Durchs Tor hinaus fuhr er mit Extrapost. Anders hätte er heute nicht mehr bis Löwenberg kommen können. Dann nahm er sich dort wieder ein Gefährt an und fuhr morgens in aller Herrgottsfrühe bis Häsen. Gottlieb hatte ihm seine Reisetasche nach der Königstraße getragen; es war alles so schnell gegangen, er hatte dem Getreuen noch Anweisungen zu geben.

Der hörte respektvoll zu; vor den Leuten war Gottlieb ganz der Diener seines Herrn, nur wenn sie allein waren, brauchte er das freundschaftliche ›Du‹. »Jlückliche Reise – 'ne Empfehlung an die Frau Mutter – viel Verjnüjen,« dienerte der Hausknecht.

Der Schlag fiel zu, wie ein großer Herr fuhr Hermann Henze der Heimat entgegen. Er lehnte sich behaglich in eine Ecke, die Pferde trappelten. Es war angenehm so, und doch, wenn er sich's recht bedachte, ganz aufrichtig war, dann hätte er doch noch mit dem Jungen getauscht, der damals, vor vielen Jahren, in den Stiefeln des verstorbenen Vaters diesen Weg nach Berlin zu Fuß gegangen war. Den Weg nach dem Ziel. Ein Ziel, von dem er geträumt hatte mit offenen Augen. Die Füße hatten weh getan in den nicht passenden Stiefeln, er hatte sie ausziehen müssen, barfuß war er gelaufen; die Mutter hatte ihn an der Hand geführt – Gott im Himmel, wie würde sich die alte Frau freuen, wenn er ihr so wiederkam!

Es war merkwürdig, je weiter man von Berlin abkam, desto blauer wurde der Himmel. Henze steckte den Kopf zum Fenster hinaus: ha, war das eine Luft!

Der Schwager pfiff, die Pferde trabten munter. Es war noch nicht warm, es war aber auch nicht mehr kalt, in einigen Gräben am Wegrand lag noch ein Klecks Schnee, wie ein Tüchlein, das der Winter vergessen hat. Vom Ackerrain stieg die Lerche auf, wirbelte umher wie ein in die Luft geschleudertes Bällchen, fiel dann nieder in den nächsten Ackerrain und tirilierte und schmetterte und jauchzte sich aus. Wie die Saat gut stand! Solche Saatfelder hatte der Städter lange nicht gesehen.

Der Schmied war ganz begeistert: das ging wirklich auf die Dauer nicht an, daß er immer nur in seiner rußigen Schmiede steckte. Die Sonntage waren ihm jetzt auch beschnitten; mit Tempelhof war's nicht mehr so wie früher, es war zu nah, sie kannten jetzt dort den Meister. Bei Kreideweiß kam gleich der Wirt zu ihm heran; er wurde beobachtet. Und einmal die Woche wenigstens muß man sich doch ausleben, sich ausgeben ganz und gar!

Hier draußen in der Weite der Felder kam es Henze zum Bewußtsein: Höfe, Häuser, Gärten, sie waren zu eng – überall Mauern – das Berlin war zu eng. Es war kein rechter Luftzug in der Stadt, so groß sie war. Und war das ein Klatsch in dem Viertel! Man war kleinstädtischer als auf dem Dorf.

»Halt!« Er rief dem Schwager, er sprang aus der Kutsche. War das eine Wohltat, mit großen Schritten zu laufen, bald hinterm Wagen her, bald nebenher, streckenweise sogar vorauf!

Der Postillon war mehr als verwundert, daß ein Fahrgast, der so teures Geld zahlte, nun doch zu Fuß lief. Henze rannte, sprang, blieb nicht auf der Chaussee, sondern setzte über den Wassergraben in den Acker und trabte durch die aufgeweichte Erde, die sich an die Sohlen hing in Klumpen.

Erst als der Abend düsterte und sie durch finsteren Wald fuhren, stundenlang durch Heide und an sumpfigen Gründen vorbei, in denen Nebel brauten, setzte er sich wieder ein. Nicht, daß er sich gefürchtet hätte; aber der Postillon hatte so ängstlich gebeten, der Herr möge doch einsteigen. Hier in der nassen Heide war erst vorige Woche einer, der zu Fuß ging, angefallen und ausgeraubt worden; selbst zum Fahren war diese Strecke bei der Dunkelheit unangenehm.

Gutmütig lächelnd stieg der Schmied ein, dem Hasenfuß zuliebe. Nun saß er wieder in die Ecke gelehnt, saß bequem, aber mit Bedauern fast sah er draußen die großen Eichen und Kiefern – Urwaldbäume –, in deren Düster es hockte wie Unheimlichkeit und Abenteuer. Als Kind hatte ihm die Mutter erzählt von denen, die früher hier in der Mark ihre Burgen gehabt hatten. Adlige Herren, Herren, ritterlich und tapfer, aber sie hielten nicht die Gesetze, taten, wie es ihnen gefiel; und was ihnen gefiel, das nahmen sie sich. Feine Kerle! Schade, daß er zu der Zeit nicht schon gelebt hatte! Der Schmied schmunzelte. Da hätte auch er jetzt gehen mögen, da, unter jenen schwarzen Bäumen!

»Halt!« Er klopfte dem Postillon ans Auslugfensterchen, aber der hieb wie toll auf die Pferde; sie setzten sich in Galopp.


Das Gefährt rumpelte langsam. Heut gab's keine Chaussee mehr, nur elenden Landweg. Neben dem Kutscher auf dem Sitz rüttelte die gestickte Reisetasche hin und her, aber Henze war voraufgegangen. Die Ungeduld hatte ihn früh aus dem Bette getrieben; spät in der Nacht war er zwar gestern erst hineingekommen – als sie gegen elf in Löwenberg ankamen, hatte er noch bis lange nach Mitternacht mit dem Postillon gezecht – aber mit Sonnenaufgang hatte er sich wieder aufgemacht. Seine Ungeduld war fast eine Unruhe. Heute war es beinahe, als ob er Nerven hätte: so viele Jahre nicht mehr im Dorfe gewesen! Ob noch die Schmiede das erste war, das man sah, wenn man aus dem Walde heraustrat? Rußige Riesen, Feuerregen, vieltöniges Hämmern im Takt – jetzt hatte er selber eine solche Schmiede!

Eine kindische Freude erhob sich urplötzlich in dem reifen Mann. ›Der Henze ihr Sohn, der Hermann, ist gekommen, der Meister ist in Berlin!‹ so würden sie rufen im Dorf. Und er würde die Mutter am Arm führen; sie lächelte stolz. Auf das Grab des Vaters würden sie mitsammen gehen. Ein elendes Holzkreuz stand da, das war sicher längst umgeweht und vermorscht; der Sohn ließ dem Vater einen Denkstein setzen. Und abends im Krug würde er ordentlich was zum besten geben; Bier, Schnaps sollten sie trinken, soviel sie wollten. Die Mädchen von einst waren jetzt alle Frauen, ihre Gesichter verblüht, aber er würde doch mit einer jeden von ihnen tanzen. Und noch andere würde er schwenken dazu. Es war keine zu alt, keine zu jung, keine zu häßlich, keine zu hübsch, sie kamen alle an die Reihe – alle, alle!

Eine unbändige Lebenslust sprudelte in Henze auf; er vergaß ganz, was er sich angewöhnt hatte nach außen hin: den würdigen Anstrich. Wie ein Junge warf er seinen Hut in die Luft, fing ihn auf in einem Sprunge und warf ihn wieder. Er lief so geschwind, als wäre er noch barfuß.

Erst kurz vor dem Dorf, als er im Wald das Hämmern der Schmiede schon hörte, hielt er an. Er besann sich, er wartete auf den Wagen; wie ein Handwerksbursch, wie ein Schnorrer, der nichts ist und nichts hat, konnte er doch nicht heimgelaufen kommen.

Er fuhr ins Dorf ein. O, wie klein war die Schmiede! Eine erbärmliche Kabache. Und halb verloschenes Feuer, keine Riesen mehr daran. Ein einziger Mann, schon alt und schwachbeinig, stand vor dem Amboß und klopfte langsam: pink, pink.

Es war überhaupt alles anders, als er sich's gedacht hatte. Niemand kannte ihn – oder kannte er die Gesichter nicht mehr? Vorm niedrigen Krug ließ er halten. Er trank einen Schnaps; der Schnaps war schlecht, er kratzte im Halse, aber er machte wenigstens warm. Es war ihm kalt geworden.

Des Weges zum Elternhaus erinnerte er sich genau: das mußte hier abseits liegen, hier das Heckengäßchen hinunter, dem kleinen See zu! Schon blinkte der Wasserspiegel. Da hatte sein Vater immer gefischt. Da fischten auch jetzt welche, ein paar halbwüchsige Burschen. So hatte auch er selber als Junge gefischt, obgleich es nicht erlaubt war.

»Gib mal her!« Er nahm einem die Angelrute aus der verklammten Hand; in die rotaufgelaufenen Finger steckte er ein paar Groschen. Das blau-verfrorene Gesicht des Jungen guckte ihn ganz verdutzt an. Der sollte ihn nachher führen – zum Kuckuck, allein fand er das Häuschen ja nicht mehr!

Eine Beschämung kam über den Mann und zugleich etwas wie Traurigkeit: stand das Elternhaus am Ende nicht mehr, war es verfallen? Nun, dann baute er's wieder auf! Mit einem kühnen Ruck schnellte er weit die Angelschnur aus ins Wasser. Er lauerte. Wasser, das war von jeher seine Lust gewesen – zum Baden, zum Fischen, nur nicht zum Trinken. Er lachte auf: ha, da saß schon ein Fisch dran! Er hatte Glück. Nur eine Plötze war's, aber ihre Schuppen glänzten wie Silber. Er schlug den Fisch am Stiefel tot und steckte ihn in die Rocktasche: den ließ er sich braten.

Und wieder warf er aus. Er war ein Glücksfischer. Die Jungen umstanden ihn neiderfüllt, er hieß sie Würmer suchen. Noch war keine Stunde vergangen, und er hatte der Plötzen schon zehn und auch vier Karauschen. Er fühlte sich glücklich. Das war Petri Fischzug, von dem einst der Pastor gelehrt. Aber jetzt mußte er gehen, er hatte Fische gefangen, jetzt würde er Menschen fangen.

»Zur Witwe Henze – führ mich mal hin!« Der Knabe sah ihn dumm an. »Nu, los doch!« Da setzte der Junge sich stumm in einen kurzen Trott. –

Richtig, hier war das Häuschen! Eine Hütte. Herr Gott, wie niedrig! Der Sohn bückte sich tief, er stieß sonst an. Der Knabe rannte fort; er hatte sich wohl nicht noch einen Groschen vermutet, aber der Fremde schleuderte noch ein Geldstück hinter ihm drein und schrie nach: »Sag im Dorf – sag's allen – der Henze ihr Sohn ist wieder da! Der Hermann, der Meister aus Berlin!«

Er pochte an; er hätte die Mutter gern noch mehr überrascht, wäre ohne anzuklopfen vor sie getreten, aber das fiel ihm noch ein: gar so jäh durfte er sie nicht erschrecken, sie war schon alt. Und ›kümmerlich‹ hatte der in dem Wisch geschrieben. Weiß Gott ja, kümmerlich sah es hier aus! Vor dem einzigen Fenster hing der Laden windschief, die Angeln waren zu rostig, die hielten ihn nicht mehr. Das Fensterchen war nicht verhangen. Henze guckte hinein, aber man konnte nicht durchsehen, das blasige Glas war zu blind.

Nun pochte er noch einmal an. Nichts rührte sich drinnen. Er drückte gegen die Tür, sie gab nicht nach. Verschlossen?! Die alte Frau war nicht zu Haus, wahrscheinlich zur verheirateten Tochter ins Dorf gegangen. Dumm, nun war's nichts mit der Überraschung! Der dämliche Junge rannte jetzt schon durch die Gasse, schrie's aus: ›Der Henze ist da, der Henze ihr Sohn, der Meister aus Berlin!‹ Sie wußte es schon.

Ärgerlich schlug der Sohn mit der Faust noch einmal gegen die Tür. Wenn er doch wenigstens hineinkönnte, drinnen in der alten Stube so lange auf die alte Frau warten! Wo seine Schwester wohnte, wußte er nicht, er konnte sich auch kaum mehr ihrer erinnern: ein stumpfnasiges Kind mit blauen Augen und zwei strubbligen Zöpfchen.

Sein Faustschlag hatte gedröhnt wie auf leerem Faß, so dumpf, so hohl. Die Stille war groß. Die Jungen hatten sich drüben vom Wasser fortgeschlichen; er war ganz allein. Die Luft, die ihn anwehte, war noch wie frühmorgendlich scharf; er sah auf seine Uhr: und es war doch schon gegen Mittag. Er fühlte Hunger. Zum Kuckuck, wo blieb die Alte denn so lange?

Ungeduldig ging er um die Hütte herum. Hinten im winzigen Gärtchen, wo die Stengel der Sonnenblumen, noch vom vorigen Herbst her, geknickt hingen, stöberte er ein einsames Huhn auf; das schlug erschreckt mit den Flügeln und rannte dann aufgackelnd eilig zurück, von wo es gekommen war. Da stand ein Türchen spaltbreit auf, es schlüpfte hinein.

Durch die Hintertür trat der Sohn ins Elternhaus. Eine ganz kalte und doch verbrauchte Luft war darin: die Luft des Winters, in dem kein Fenster aufgemacht wird. Plötzlich erinnerte der Mann sich dieser Luft wieder; sie umfing ihn wie etwas Vertrautes. Ja, so hatte es immer hier gerochen! Aber jetzt war doch ein anderer Geruch dabei. Und wie dunkel es in dem kleinen Flur war!

Er tappte über die Ziegel. Aus der halboffen stehenden Stubentür fiel etwas Helle. Nun fand er sich wieder zurecht: da war die Stube, in der sie gewohnt, gegessen und die Eltern geschlafen hatten. Und hier das Treppchen, das so steil war wie eine Leiter, war er oft abends von seiner Dachkammer heimlich wieder heruntergekraxelt, um die Nacht draußen herumzuwildern mit seinen Kameraden; den Hasen Schlingen zu legen, Leimruten für die Vögel zu stellen, zu fischen, zu jagen, mit Ehmichs Cille zu poussieren, all das zu tun, was verboten war, und was ihn jetzt noch in der Erinnerung wie mit einem Glücksschauer überrieselte.

Es war doch merkwürdig, wenn man so auf einmal heimkam in das alte Haus, altes Gerümpel wiedersah! Ob drinnen in der Stube noch der Eckschrank stand, aus dem er das Pflaumenmus genascht hatte? Warum die alte Frau nur so lange ausblieb?! Er bückte den Kopf und trat über die Schwelle; es überkam ihn dabei, ihn, der sich nicht weichlich bewegen ließ, fast etwas wie von Andächtigkeit: hier war er geboren. Und hier lebte sie, die ihn geboren hatte – – – nein, hier war sie tot!

Er griff sich an den Kopf, er war in jähem Schrecken emporgefahren gegen die niedrige Balkendecke. Nun taumelte er. »Mutter!« Er rief laut nach ihr. Daß sie nicht schlief, hatte er gleich gesehen, aber er mußte doch rufen.

Da lag sie langgestreckt auf dem Bette, ganz platt; das Kopfkissen hatte man ihr fortgezogen. Die großen Hände hielt sie vor sich auf der Brust gefaltet. Ihr Gesicht war glatt, wie aus Holz, in dem keine Schrumpel sich eindrückt. Und friedlich war es. Die Lippen dünn, fest zusammengeschlossen. Nein, die sprachen nichts mehr! Die sagten nicht: ›Mein Sohn, der Hermänne, der Meister ist in Berlin, ist gekommen – sei willkommen derheeme!‹

Er fing an zu weinen. Er wußte gar nicht mehr, wie weinen ist; aber hier war er wieder das Kind. Schluchzend zog er sich den Schemel heran, schluchzend setzte er sich neben die Mutter hin; aber er wagte es nicht, ihre Hand zu erfassen. Sie war so streng in ihrem Frieden. Wäre er doch früher gekommen! Dann hätte er sie noch am Leben getroffen! Warum ließ man sie denn so ganz allein? In die leise Selbstbeschuldigung, die sich in ihm erhob, mischte sich der Vorwurf gegen andere: war das eine Art, die alte Frau hier so allein liegen zu lassen?!

Das Huhn, das vor ihm ins Haus geschlüpft war, kam jetzt piepend aus einer Ecke; er hatte es bis jetzt nicht bemerkt, nun scheuchte er es. Aber das Tier strebte der Hand zu, die ihm Futter gereicht hatte, flatterte auf der Toten Brust, pickte mit seinem Schnabel die starren Finger und duckte sich da nieder, als suche es Schutz.

Henze scheuchte es jetzt nicht mehr. Er blieb still sitzen. Das schwarze Huhn äugte ihn ganz dreist an, sich so sicher fühlend wie ein Kind bei der Mutter.

»Mutter,« sprach der Sohn leise, »Mutter!« Und sah sie an, wie er sie noch nie angesehen hatte. Nun sie tot war, empfand er erst, daß er sie lieb hatte; da sie lebte, hatte er das nicht so gefühlt. Er mußte plötzlich an Gottlieb denken – unterm Torweg in Packpapier – armer Teufel! Er stand auf und wischte sich die Tränen ab: lieber um eine Mutter weinen, als um keine Mutter weinen. Und dann reckte er sich: was nutzte es jetzt, sich Vorwürfe zu machen um das, was man vielleicht hätte eher tun sollen? Jetzt war er doch da, um die Mutter anständig unter die Erde zu bringen.

Sie lag in ihrem schwarzen Kirchenkleid; er kannte es, schon bei seiner Einsegnung hatte sie das getragen, nur an höchsten Feiertagen ihres Lebens legte sie es an. Unter der Sonntagshaube, derselben, die sie aufgehabt hatte unterm befransten Kopftuch, als sie bei ihm in Berlin gewesen war, hing ein wenig eisgraues Haar vor. Er strich es ihr unter die Haube. Wenn er doch Blumen gehabt hätte, seine Mutter zu schmücken! Aber hier kriegte man ja nichts zu kaufen. Und die Flur war von Blumen noch leer. Wann wurde sie denn begraben?

Er wandte sich der Tür zu, er wollte nun gehen und Erkundigungen einziehen, da erhoben sich draußen Stimmen.

»Wo, wo is er denne?«

»Ich weeß doch nich!«

»Dummer Bengel, was schreiste denne so?«

Ein Schlüssel wurde von außen ins Schloß gestoßen, zur Haustür herein kam ein blondes Weib, nicht hübsch und nicht häßlich, gealtert schon. War das die Schwester?

»Jeses, Hermann, biste 's denne wirklich?«

»Ja, ich bin's wirklich.« Er hatte sich schon wieder gefaßt. Warum fing sie denn an so loszuheulen? »Warum habt ihr mir's denn nicht zu wissen getan?! War die Mutter lange krank?« Er fuhr sie an: »Ihr seid zu dumm! Warum habt ihr mir das nicht geschrieben?«

»Nu, mein Mann hat der's ja zu wissen getan. Er hat der's geschrieben, daß –« die Frau wurde plötzlich verlegen und stockte.

Aha, also der war der Schreiber gewesen! Der Schmied krauste die Stirn.

»Biste böse?« Die Schwester sah ihn flehentlich an. »Wir trauten uns doch nich – es geht dir ja so gut. Aber nu mußten wer doch – wer hatten selber gar nischte, un nu Muttern noch uf'm Halse – ach, mein Mann is ja schon so lange krank, er hat Bluthusten. Un die Kinder sind noch kleene! Wenn's mit Muttern den ganzen Winter schon nich so schlechte gewesen wäre, wer hätten der ja auch jetzt noch nischte geschrieben!« Sie stand geduckt vor dem reichen Bruder, sie weinte ängstlich.

Er gab ihr die Hand. »Weine man nich. Hättet ihr nur eher geschrieben, ein paar Tage früher! Gestern kam erst der Brief.« Jetzt faßte ihn wieder der Schmerz. »Muß ich erst kommen, jetzt, wo sie tot ist!«

Sie entschuldigte sich. »Wer wußten 's doch alleene nich, daß es so rasch zu Ende würd sein. Ich ging alle Tage zweimal zu Muttern, uf'n Morgen, uf'n Abend und machte ihr 's Bette. Mittags brachte meine Ältste ihr 's Essen hin. Wie ich gestern früh komme, liegt se so da. Se is ufgestanden, hat sich ganz alleene so angezogen – 's schwarze Kleid, die Sonntagshaube – ich denke, ich seh nich recht: tot war se.« Die Schwester drängte sich an den Bruder. »Du wirscht doch 's Begräbnis bezahlen?«

»Selbstverständlich. Ich geh jetzt zum Pastor!« –

Als Henze aus dem Pastorat herauskam und zum Küster ging, um das Läuten zu bestellen, – läuten sollten sie bei seiner Mutter, so lange läuten, als wäre sie im Dorf die reichste Frau – standen schon welche auf der Gasse, die nach ihm gafften. »Der Henzes Hermann, der Meister, der reiche Mann aus Berlin –« das war schnell im Dorf herumgekommen. Er bekam von vielen die Hand geschüttelt, und er schüttelte wieder: das war schön, das freute ihn, daß sie ihn noch nicht vergessen hatten! Zugleich empfand er's wie einen Schmerz: es war doch zu schade, daß die Mutter das nicht mehr erlebte!

An diesem Abend saß er im Krug allein. Er hatte sich seine Fische braten lassen, und sie schmeckten ihm auch. Da kam ein Weibsbild zu ihm herein, das sagte, sie wäre Ehmichens Cilla. Von selber hätte er sie nicht wiedererkannt. Sie war schon recht ältlich; aber je länger er mit ihr sprach, desto bekannter wurde sie ihm wieder. Ja, das war die Cilla, wegen der er sich mit anderen Knaben geprügelt hatte, um deren Gunst er sich mit ihnen gestritten hatte, daß es Beulen und blaue Flecken gab.

Sie war noch immer recht anhänglich. Seine Schwester hatte ihr erzählt, daß der Bruder gern Blumen gehabt hätte für die Mutter. Nun brachte sie ihm, was sie an Blumen hatte: eine Handvoll karminroter Blüten von ihrem ›Fleißigen Lieschen‹, und auch ihren Myrtenstock hatte sie kahl abrasiert. Sollte sie nun daraus ein Kränzel winden?

Er nickte gerührt und faßte sie dabei unters spitzige Kinn: ein gutes Mädel. »Warum haste denn nich geheiratet, na?«

Da senkte sie, rot werdend, den Kopf und lachte verschämt: der Meister sollte nur 's Fragen lassen – ach, der Hermänne wußte ja schon!

Die war ihm also immer noch gut, hatte ihn nie ganz vergessen?! Zu anderer Zeit hätte er sicher gelacht: was scherte ihn noch die ältliche Jungfrau? Aber heute, in der Stimmung, die ihn beherrschte, dachte er an's Lachen nicht. Er lud sie ein, mit ihm ein Schnäpschen zu trinken, und sie nahm das gerne an. Sie faßte seine Hand und rückte neben ihn. –

Tote kann man nicht mehr lebendig machen, wenn der Sohn die alte Frau auch gern lebendig gemacht hätte. Aber er war wenigstens befriedigt: das ganze Dorf ging in Prozession hinterm Sarge her. Das hatte er doch erzwungen: seine Mutter wurde geehrt. Der Pastor konnte sich gar nicht genug tun im Preisen der Verstorbenen. Henze wußte wohl, das kam von dem Geschenk, das er dem Pastor übergeben hatte für die Armen. Aber er verstand und fand es begreiflich, daß nicht so viele Worte gemacht werden könnten, wenn man ein blutarmes Weib eingescharrt hätte, das im Tode der Gemeinde nur noch Kosten machte. Er drückte dem Manne dankbar die Hand: seine Mutter war geehrt! Das ganze Dorf war mit zu ihrer Leiche! Er bückte sich und warf ihr drei Hände voll Erde nach. Nun hatte er getan für sie, was er konnte.

Zum Abend hatte Henze die Dorfbewohner alle in den Krug geladen: es war ja das letzte Mal, daß er mit der Heimat etwas zu tun hatte. Seine Schwester, die so geweint hatte bei der Beerdigung, daß zwei Weiber sie hatten halten müssen, strahlte jetzt. Der Bruder hatte ihr versprochen, ihr jährlich etwas Bestimmtes zu geben.

Man konnte so viel Bier und Schnaps trinken, wie man wollte, und das machten sich die Häsener zunutze. Die alten Bauern waren fest davon überzeugt, daß sie dem Hermann Henze schon damals, als er noch ein unnützer Bube gewesen war, das große Los vorhergesagt hatten. Und die Jungen, die ihn heute erst kennen lernten, sahen ihn an mit stummer Bewunderung. Nicht minder die Weiber. Es hatten sich eine ganze Menge Frauen eingefunden, lauter beste Freundinnen von der alten Henze, und ihre Töchter hatten sie auch mitgebracht. Das junge Weibervolk drängte sich auf einen Haufen und starrte den Fremden an: ein schwerer Mann, ein schöner Mann! Sowie er aber nach ihnen hinsah, steckten sie kichernd die Köpfe weg.

Dumme Gänse! Und doch machten sie Henze Spaß. Sie waren so frisch, ihre Wangen wie rote Paradiesäpfel, die man blank gerieben hat. Es zuckte ihm in den Fingern, er kniff sie in die Wangen. Und sie standen stumm und hielten still vor lauter Geehrtheit.

Von der Toten sprach niemand. Selbst der Sohn vergaß nach und nach, warum er eigentlich hier war. Es hatte ihn etwas umfangen, dem er sich ganz hingab; Berlin, seine Schmiede und das, was ihm darin lebte, hatte er vergessen.

Die Häsener, die sich anfänglich steif gezeigt hatten aus lauter Anstand, wurden jetzt recht munter. Wieherndes Lachen dröhnte durch die Wirtsstube, in der die Lampe unter der niedrigen Decke nur wie ein Glühwurm ihr Licht glimmen ließ durch die dickblauen Schwaden des Pfeifennebels.

Es waren schon einige betrunken; auch die Weiber hatten wacker genippt. Man stieß immer wieder mit dem Gastgeber an, man ließ ihn hochleben.

Der Ehmichs Cille glühten die Wangen, sie brachte den Mund nicht zusammen vor eitel Glück. Sie, die sonst immer den Jüngeren nachstehen mußte, sich gar nicht mehr hintraute zu einem Tanz, sie saß jetzt auf der Bank neben dem Meister aus Berlin. Immer näher rückte sie an ihn heran; andächtig lauschte sie jedem seiner Worte, hingebend neigte sie den Kopf.

Henze hatte besonderes Gefallen an schönem Haar; er sah auf ihr Haar, das noch immer zwei dicke Zöpfe hergab, ährenblond, wie reifender Weizen. Und es war ihm, als hätte die Zeit stillgestanden.

Draußen vorm Fenster fing eine Harmonika an zu piepen, die wollte auch etwas beitragen zur Feier des Tages; eine Tanzweise war's, aber die quäkenden Töne behielten doch etwas Trauriges. Einen Augenblick dachte Hermann daran, daß nun übers Grab seiner Mutter der Nachtwind pfiff – pfui, es mußte sich kalt liegen in der kalten Erde! Unwillkürlich griff seine Hand in das reife Weizenhaar, das ihm nahe war. Ehmichs Cille lehnte sich an seine Schulter.

Es war Mitternacht, als die letzten aus dem Wirtshause heimstampften. Sie waren nicht gerade mehr gegangen. Unter der Wirtshaustür stand Henze und schaute ihnen mit Lachen nach: das mußten sie sagen, lumpen hatte er sich nicht lassen. Auch er war nicht mehr ganz nüchtern, sein Kopf war heiß. Die Nachtluft, noch schneefrostig und feucht, durchschauerte ihn. Er fühlte sich auf einmal so allein; ganz vereinsamt. Nun war seine Mutter schon über zwölf Stunden im Grab! Er hätte den Gedanken gern abgeschüttelt; es grauste ihm plötzlich davor, jetzt allein zu bleiben.

Da tappte durch die Dunkelheit etwas zu ihm heran. Ehmichs Cille war noch einmal zurückgekommen. »Hermänne,« sagte sie zärtlich.


Der Dorfschulze selber hatte sein Wägelchen anspannen lassen, um den reichen Berliner Meister bis Löwenberg zur Post zu fahren. Henze hatte dem Knecht seine Tasche aufs Gefährt gegeben und ihn damit vorausgeschickt. Bis hinter die Schmiede, in den Wald hinein, gab ihm die Cilla das Geleit. Das Frauenzimmer war gar nicht loszuwerden.

»Nu geh, geh zurück,« drängte er. Es war ihm gleichgültig, ob die Häsener ihn etwa mit ihr sahen – er hatte ja nun gar nichts mehr mit Häsen zu tun – aber ihre Tränen rührten und ärgerten ihn zugleich, und rühren lassen wollte er sich nicht. »Warum heulste denn? Na na, nu weine man nich!« Er klopfte ihr auf die Schulter. In den Arm nahm er sie heute nicht mehr, sie kam ihm in der Morgenfrühe recht grau und verkümmert vor und knochig. Selbst ihr Haar hatte heute keinen Schimmer.

Es stand keine Sonne am Himmel; auf dem Grasrain, der den Kiefernwald säumte, lag noch Reif. Aus der Schmiede tönte trübselig ein lahmes Pinkpink. Heute dachte Henze auf einmal wieder an seine Schmiede; Häsen lag bereits hinter ihm. Er war sehr ungeduldig, er mußte machen, daß er fortkam, sonst erreichte er nicht mal um Mitternacht mehr Berlin. Und morgen hatte er viel zu tun – was würde alles versäumt worden sein in seiner Abwesenheit! Ob sie die Pferde vom Hippodrom beschlagen hatten, oder ob der Stallmeister es vorgezogen hatte, zu warten bis zu seiner Rückkehr?

»Adjö, Cilla, adjö. Ich dank dir auch schön!« Er mußte sich nun doch entschließen, sie zu küssen. Er tat's mit herzhaftem Entschluß.

» Ich tu mer bedanken,« schluchzte sie. »Ach, Hermänne, tu mer nich ganz vergessen!«

»I wo werd ich! Leb wohl, bleib gesund!« Er drängte sie sanft, aber doch unwiderstehlich von sich. Sie hatte es noch einmal versucht, sich an seinen Hals zu hängen.

Laut weinte sie auf, er war schon zehn Schritte von ihr. Sein Pfiff gellte hinter dem Wagen drein, der Wagen hielt. Nun sprang er auf, nun drehte er sich noch einmal zurück nach ihr. Er nahm den Hut ab, er winkte mit der Hand.

»Vergiß mer nich!« Sie riß sich die Schürze von den mageren Lenden und winkte damit, so lange sie ihn noch sehen konnte.


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