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Drittes Kapitel

Im Viertel war noch eine Schlosserei, vielmehr eine Schmiede; mit der Schlosserei gab sich der Hof- und Kurschmied Heinrich Schehle, der geprüfte Hufbeschlagmeister, jetzt nicht mehr ab. Er stand sich besser beim Hufbeschlag. Seine Schmiede lag günstig. Nicht nur, daß sämtliche Bauern von Tempelhof, von Britz und Umgegend, und all die Fuhrleute, die von Süden her das Hallesche Tor passierten, bei ihm beschlagen ließen, die lange Markgrafenstraße herauf, die Stille mit ihrem Hufschlag belebend, kamen auch die Pferde vom Königlichen Marstall. Und von der Wilhelmstraße kam der Stallmeister mit den edlen Reitpferden, die sich der Prinz am Wilhelmsplatz hielt. Es ging alles in schnurgeraden Linien auf den Belleallianceplatz zu, und an ihm lag, da, wo die Lindenstraße sich abzweigt, die Schmiede.

Da war's oft wie auf einem Jahrmarkt. Mit Planen überdachte schwere Frachtwagen hielten vor der breiten Einfahrt, über der ein Hufeisen angenagelt war. Schief zwischen jene hatten sich Karren von Bauern eingezwängt: Holzfuhren, Kartoffelkarren, wohl auch eine altmodische Landkutsche; aber auch ein elegantes Kabriolett. Offiziersburschen führten das vorsichtig in Decken gehüllte Vollblut ihres Herrn heran, das, unruhig schnaubend die Ackergäule passierte, und ein glattrasierter Kutscher mit einer Krone auf den Knöpfen suchte vergebens durch Peitschenknallen und einen unsäglich verächtlichen Gesichtsausdruck sich Durchlaß zu erzwingen.

Hermann Henze hatte die Schmiede immer mit besonderem Interesse betrachtet, wenn er vors Tor ging, um draußen im Schafgraben ein Bad zu nehmen. Ihr Treiben sagte ihm zu. Er konnte ja schmieden. Ehe er in die Lehre gekommen war nach Berlin, hatte er ein Jahr in der Dorfschmiede geholfen, Handreichungen dort getan; das Erste hatte er da gelernt.

Die Schmiede war im Dorf das erste Gehöft. Wenn man noch nicht aus dem Walde heraus war, hörte man schon ihren taktmäßigen Hammerschlag, und trat man dann zwischen den Bäumen vor, so sah man rußige Männer wie Riesen um ein Feuer stehen, sah auf dem Amboß das Eisen weiß glühen und unterm wuchtigen Schlag des Hammers ganze Garben von Funken sprühen.

Ja, das war eine Goldgrube, solch eine Schmiede! Schade, daß er nicht Meister darin war, sondern der Schehle, der, ältlich und gelb wie Wachs auf seinem Hofe stand, selber nicht mehr mitarbeitete, sondern nur zusah; aber scharf zusah, das mußte man sagen. Es wurde allerlei gesprochen über den Mann. Der Prinz vom Wilhelmsplatz war früher oft selber in die Schmiede gekommen – er hatte damals merkwürdig oft kranke Pferde. Böse Zungen wußten es freilich besser: der kam der schönen Frau des Schmieds wegen. Und dann war der Schehle auf einmal Hofschmied geworden, gerade als ihm eine Tochter geboren wurde. Aber man merkte ihm die Freude darüber nicht an. Ein Pferd hatte ihm einstmals gegen den Leib getreten, ihm die Leber verletzt; es konnte auch daher kommen, daß er so gallig war.

Es war ein Gefühl der Bewunderung, vielleicht auch ein leises Begehren, mit dem der junge Schlosser die Schmiede betrachtete. Das hätte er auch mögen, so dastehen, sehen, wie ihm die Arbeit zuwuchs, wie die Gesellen sich zu mancher Zeit nicht genug sputen konnten, wie die schönen Pferde, die in den Boxes warteten, unruhig wurden, scharrten, schnaubten, wie sie sich dann bäumten, auskeilten, das Pflaster des Hofes schlugen und den Stallknecht, der sie vergebens mit: ›Oh oh – ohla‹ und leisem Pfeifen zu beruhigen suchte, fast über den Haufen warfen. Die Gesellen troffen von Schweiß.

Ha, das war doch noch was! Der Schlosser blieb oft draußen vor der Einfahrt stehen. Man konnte durch den Torbogen des Vorderhauses hineinsehen in den geräumigen Hof. Da war links die Werkstatt unterm tiefhängenden Dach, aus der es rasselte, fauchte und hämmerte, aus deren stets offener Tür zuckender Flammenschein tanzte. Ein paar Ambosse standen auch noch außen. Gegenüber rechts an der Mauer des Nachbargrundstückes der offene Schuppen, darunter die Pferde in ihren Boxes. Es war auch ein Brunnen da; und die ganze Rückseite des Hofes verstellte ein Quergebäude. Man sah ein paar düstere Kontorräume hinter vergitterten Fensterchen; darüber aber, hinter Glasscheiben, die groß waren wie die eines Treibhauses, waren Kisten und Kasten aufgestapelt, Eisenteile und altes Gerät. Stand zufällig einmal die Tür dieses Querbaues offen, so sah man Grün schimmern; dann konnte man einen Blick erhaschen in die ganze Tiefe des großen Grundstücks, in den Garten, der hinter dem bergenden Hintergebäude mit buschigem Grün in verschwiegenem Winkel sich auftat.

Hier mußte es schön sein zu wohnen, noch schöner, hier den Hammer zu schwingen! In des starken Mannes Augen flammte etwas auf: wenn ihm das auch alles gehören würde, er würde es doch nicht machen wie der Schehle, der nur herumschlorrte, die Nase mal hierhin steckte und dahin, nein, er würde selber tüchtig mit anpacken. Was, der Gaul wollte sich nicht beschlagen, sich nicht einmal den Huf verschneiden lassen? Nur nicht zag, die störrische Bestie fest angepackt! Was, ausschlagen will sie?! Einen Hieb mit der Faust ihr vor die Nase, und wenn das nicht hilft, ihr die Bremse gesetzt auf die Oberlippe, den Strick fest um den eisernen Knüttel gewickelt – fest, noch fester, daß der Widerspenstigen der Kopf zusammengeschnürt wird, ihr Hören und Sehen vergeht, daß sie zitternd stillsteht, daß sie wird wie ein Lamm, – wozu hat man denn Kräfte?!

Wie Sehnsucht stieg es auf in dem Mann, er fühlte seine Kraft, sie schwellte ihm die Muskeln, sie schrie in ihm, sie machte ihn unruhig. War das denn eine Arbeit für ihn, ein bißchen zu raspeln, zu feilen, übergeschnappte Schlösser mit einem krummen Draht aufzumachen, abgebrochene Schlüsselbärte herauszuholen? O, daß er sich hatte bereden lassen, zur Schlosserei überzugehen! Als Schmied war es schwerer gewesen, Arbeit zu finden. Wenn er vor Schehles Schmiede stand, faßte es ihn jetzt wie Reue.

Ein paarmal schon war Hermann Henze mit seinem Meister aneinandergeraten, und mit einem Nebengesellen hatte er Streit gehabt. Es war sonst nicht seine Art, zu zanken, jetzt aber war er oft gereizt. Es kränkte ihn zu sehr, daß er die Minne nicht kriegen sollte. Warum entzogen sie ihm das Mädchen? Das Haus konnten sie ihm nicht verbieten, dafür hatten sie eben Gastwirtschaft, aber er wurde schlecht behandelt, von allen Gästen am wenigsten gut bedient, wenn das August Lehmann auch leugnete. Er fühlte es ja: die wollten ihn nicht. Und er ballte die Fäuste.

Die Stille hielt er nicht mehr aus, diese Lahmheit, die in den Wintertagen kroch, die so früh dämmerten, so lange Abende hatten, an denen man nicht wußte, was man anfangen sollte, an denen man an seinen Nägeln kauen konnte und warten. Warten als einzige Beschäftigung. Der Schlosser hatte früher diese Stille nie drückend empfunden; andere Winter waren eben anders gewesen, da hatte er gepfiffen, gesungen, war hübschen Mädchen nachgestiegen – vielleicht auch häßlichen, bei Nacht sind alle Katzen grau – jetzt hatte er dazu keine Lust. Er wunderte sich selber darüber. Immer sah er die kleine Minne vor sich; so wie die, war doch keine andere. Aber sie versteckte sich vor ihm. Und wenn er sie einmal erwischt hatte, dann war's nur ein flüchtiges Blicken, ein verstohlenes Augenzuwinken, ein Nicken, ein Lächeln – kein herzhafter Kuß. Einrennen hätte er das Haus in der Schützenstraße mögen, sich die Kleine herausholen trotz Zetergeschrei und Mordio. Er gewöhnte sich jetzt das Wirtshaussitzen an: was sollte er denn sonst machen?! –

Und wie Henze erging es noch vielen; es lastete eine drückende Stille auf diesem Winter, es lag ein Verlangen in der Luft der Zeit. Man sehnte sich nach dem Frühling; aber nicht nach jenem Frühling, der an Baum und Busch neues Grün zeitigt und die Veilchen blühen läßt – ein anderer Frühling mußte kommen. Mit Brausen mußte er die alte Welt erfüllen, aufrütteln, umstürzen, eine neue Welt erstehen lassen, in der man ledig war der ärgerlichen Bevormundung und der Versprechungen landesväterlicher Huld.

Schwache Hoffnungen waren einstmals aufgegrünt, aber sie waren bald abgefallen wie Keime an krankem Baum.

Der König, dem man entgegengejubelt hatte bei seinem Regierungsantritt, der als König hatte der erste Bürger sein wollen, der an die Stelle des schweigenden Vaters als redender Sohn getreten war, der statt des gewohnten, nüchternen Verstandes Geist zu bieten schien, Schwung und Begeisterung, der eine Amnestie erließ für jene, die in den Festungen saßen – dieser König war doch nicht der Reiter, den der Renner braucht, der Morgenluft und Freiheit wittert.

Einen König, zu dem man wie zu Gott beten, aber von dem man nichts zu fordern haben sollte, der nur aus Gnaden gewähren wollte und alles selbst und ganz alleine schaffen wie Gott Vater, diesen König verstand sein Volk nicht. Und man war der mittelalterlichen Maskeraden, der Rede-Akte, der Huldigungsfeierlichkeiten müde.

Die, die es verstanden, erklärten es denen, die es nicht verstanden, was die Rede des Königs zu bedeuten hatte, die er gehalten hatte bei der Eröffnung des vereinigten Landtags.

»Ich werde es nun und nimmer zugeben, daß sich zwischen Mich und dieses Land ein beschriebenes Blatt eindrängt.«

Das hieß einfach: ›Eine Verfassung kriegt ihr nicht. Ich regiere, ihr habt stille zu sein.‹

Leute, die sich bis dahin herzlich wenig um Politik gekümmert, die um nichts anderes gesorgt hatten als ums tägliche Brot, waren jetzt die Allerinteressiertesten. In den Weißbierstuben, wo sonst ruhige Spießbürger verkehrten, denen es ans Leben gegangen wäre, hätten sie nicht zur bestimmten Stunde, auf dem bestimmten Platz ihre Weiße trinken und dann friedlich heim zu Muttern gehen können, saßen jetzt erregte, gekränkte, aus ihrer Ruhe aufgestöberte Männer.

Also der ehrsame Bürger, der immer pünktlich seine Steuern gezahlt, dem König gegeben, was des Königs ist, und Gott, was Gottes ist, der sollte ein freches Spiel mit dem Christentum getrieben, die Religion mißbraucht haben zu einem Mittel des Umsturzes?! »Nanu!« Herr Krause, der alle Sonntag zur Kirche ging mit seiner Gattin in dem Schal aus Persien, war empört. »Weil wir nicht 'ran wollten an die Jeschichte mit dem Bistum in Jerusalem, darum! Da schlag doch einer lang hin. Wozu solln wir denn Jottes Wort aus Jerusalem kriejen durch jeweihte Bischöfe? Det können wir hier bequemer haben. Und überhaupt –!«

»Na, und denn das mit dem Heiligen Rock,« fiel ihm Herr Pieseke in die Rede und fingerte nervös an seinen Vatermördern, die nicht modisch hoch, sondern behaglich schlapp über die schwarze Halsbinde heraushingen, »ist so was erhört in unserm aufjeklärten Jahrhundert?! Nie und nimmer hätte ich zujejeben, daß sie den ausstellen – ich, Jottlieb Pieseke!«

Selbst Herr Rosentreter und der Kammergerichtsaktuarius äußerten Unwillen: wofür war man denn Berliner und helle, man hatte auch ein Selbstbewußtsein, man brauchte sich nicht vorschreiben zu lassen, was und wie man denken sollte.

Und in den Destillen der Königstadt, in den Kellerkneipen, wo der Arbeiter und Nante Strumpf sich einen hinter die Binde gießen, war jetzt eine Unruhe, ein bewegtes Durcheinander, wie bei dem Kampf vor Bäckertüren. Was hatte Er gesagt?

»Mein Volk will gar nicht das Mitregieren von Repräsentanten. Der Vollgewalt seiner Könige allein verdankt es seine Freiheit, seinen Wohlstand.«

Schöner Wohlstand das! War es einem je so erbärmlich gegangen wie jetzt? Wenn man auch arbeiten wollte, war denn Arbeit zu kriegen? Für alles war Geld da, nur für den armen Mann nicht. Man wollte gar keine Volksvertretung, sagte er? Hatte der eine Ahnung! Natürlich wollte man. Nur einer, der selber aus dem Volke ist, weiß, was das gebraucht. Und war kein solcher da, der für das Volk redete, oho, so würde das selber laut und vernehmlich-fordernd schreien!

Wie ein Strom, der über die Ufer tritt und die Dämme durchbricht, so breitete der Volksunwille sich aus.

Auch Hermann Henze wurde von diesem Unwillen mit fortgerissen. Ganz recht hatten sie, der Arme war zu übel daran: das Mädchen, das er liebt, kriegt er nicht, ewig Geselle bleiben muß er auch, nie wird er Meister! Er murrte.

Aber der Student, Richard John, der bei denselben Leuten, bei denen Henze in Schlafstelle lag, das Vorderzimmer bewohnte, belehrte ihn: es kam nicht auf das Schicksal des einzelnen an. Auf das Volk als Ganzes, auf das Preußen, das sich in den Freiheitskriegen durch sein vergossenes Blut das Anrecht auf die Freiheit erworben hatte, die ihm jetzt so elend verkümmert wurde. »Preßfreiheit, Redefreiheit, freies Versammlungsrecht, das wollen wir!« Der hübsche Junge glühte. »Verstehen Sie das, Henze? Die Zensur ist ein unwürdiger Zustand für uns!«

Der Schmied nickte. Er bewunderte den Studenten, weil er fühlte, daß der hatte, was ihm selber abging: Bildung.

»Und dann gleiche politische Berechtigung aller, ohne Unterschied der Religion und des Besitzes!«

Donnerwetter noch mal, ja, so mußte es sein! Der Arbeiter schlug mit harter Faust auf den Tisch. Das verstand er vollkommen: gleiche Berechtigung, ohne Unterschied des Besitzes. Er lachte dröhnend: das müßte schön sein! In Hermanns Seele kam es wie ein Jubel, seine Augen lachten mit.

Aber der Student blieb ernsthaft. »Amnestie für alle politischen und Preßvergehen, Geschworenengerichte, Unabhängigkeit der Richter, Verminderung des stehenden Heeres, Volksbewaffnung, allgemeine deutsche Volksvertretung – ach, lieber Henze, wir haben so viel zu wünschen!« Seufzend stützte der Student den Kopf in die, wie bei einem Mädchen wohlgepflegte und schmale Hand.

»'n bißchen viel is et ja!« Der Schmied nickte, und dann betrachtete er nachdenklich seine beiden groben Fäuste: ohne die würde es wohl nicht abgehen. Gewichtig legte er dem andern die Hand auf die Schulter: »Hören Sie, Herr Student, wenn's losgeht, denn sagen Se mir man Bescheid!« –

Henze fühlte eine gewisse Befriedigung: nun würde doch etwas los sein. Er studierte die Zeitungen, die ihm der Student zusteckte.

Das hätte sich Richard John früher auch nicht träumen lassen, als ihn sein Vater, der Pastor in Meseritz, ans Graue Kloster nach Berlin brachte, daß er, der Theologie studieren sollte, so bald zur Medizin umsatteln würde. Wenn sein Alter das wüßte! Aber kann ein freier Mensch Theologie studieren? Nur ein Heuchler kann das, oder ein ganz und gar subalterner Geist. Und das hätte der junge Student auch nicht geglaubt, daß ihm so viel daran liegen könne, diesen einfachen Arbeiter an sich zu fesseln. Es war eben jetzt alles anders geworden; alles, was jung war, gehörte zusammen.

Der Student, der in der Zeitungshalle, in Stehelys Konditorei am Gensdarmenmarkt und bei Spargnapani alles las, was es zu lesen gab, rief oft den Schlosser zu sich herein, wenn er dessen schweren Schritt abends auf der Treppe hörte.

Da saßen die beiden dann bei der kleinen Lampe in der kahlen Studentenbude. Der Student hatte Butter und Wurst von Hause bekommen, und er brühte von dem russischen Tee auf, den die Mutter verehrt bekommen hatte von einem ihrer Brüder, der Großhändler war in Lübeck. Der Tee war stark, der Student machte ihn noch stärker, er goß Rum zu; und je mehr er sich ereiferte, desto mehr Rum goß er. Der junge John war ein gewandter Redner; er hatte das ererbt, er konnte reden ohne Punkt, es floß ihm nur so.

In einem naiven Staunen lauschte der Schlosser. Er, der Ältere, fühlte sich jetzt dem Jüngeren untertan. Sie schwitzten beide vor Rum und Begeisterung, sie mußten ans Handtuch gehen, das nahe dem Schellenzug an der geblümten Wand hing, und mußten sich die betränten Gesichter abwischen.

Draußen ging der Sturm durch die Straßen. Sie hörten ihn pfeifen und pusten, tuten und heulen, rauschen und brausen, mit Dachziegeln poltern, mit Läden klappen, umstürzen, was nicht niet- und nagelfest war, ungestüm die Schornsteine fegen, mit Sausen um alle Ecken tosen, mit Jauchzen an alten Mauern rütteln.

Und sie sahen sich an mit leuchtenden Augen. Durch die dämmergraue, kahle, winterlich-frostige Studentenbude zog es kündend mit froher Verheißung. Und sie nickten sich zu: das brachte den Frühling! – – –

Hermann Henze hatte in seinem Leben noch nicht viel Zeitungen gelesen. Es stand ja auch nur darin, was die Zensur gestattete, und das Erlaubte hatte ihm nie viel Spaß gemacht. Jetzt aber bekam er Flugblätter in die Finger. Sie kamen aus Süddeutschland nach dem Norden geflogen, und er las sie mit rotem Kopf. An den Karikaturen, die von Hand zu Hand gingen, hatte er seinen Spaß, und doch fuhr er oft nachts aus dem Schlaf und ballte zornig die Faust – er hatte geträumt. Es war ihm noch, als hörte er die Glocken läuten, die Sturmglocken der Stadt, die sich sonst nur hören ließen bei großen Feuersbrünsten. Sie läuteten und läuteten, sie dröhnten in seinen Ohren, er wurde ganz wirr davon.

Und wenn er an solchem Morgen auf dem Weg zur Arbeit durch die Schützenstraße ging und spähte, ob er vielleicht einen Blick mit dem geliebten Mädchen tauschen könne, und das Schulzesche Häuschen noch mit geschlossenen Läden dalag, von Minne nichts zu sehen war, dann ballte er wiederum die Faust.

Und wenn er abends nach Arbeitsschluß nochmals vorbeischlich, alles finster und stumm lag, über der Schulzeschen Tür nur eine winzige Laterne brannte, dann fühlte sein Herz eine bis dahin nie gekannte Erbitterung.

Jetzt konnte er den Studenten so gut verstehen, den er neulich, als er an seine Tür geklopft hatte, um ihm Zeitungen wieder zurückzubringen, in Hemdärmeln gefunden hatte, mit offener Brust, ein Rapier in der Hand, in seiner Bude für sich ganz allein zum Stoß auslegend und parierend, mit einem Ernst, als ginge es ans Leben. Nach gedonnertem ›Herein!‹ war er auf der Schwelle stehen geblieben; der Student aber hatte das Rapier hingeworfen, war auf ihn zugesprungen, hatte ihn an der Hand bis mitten in die Stube gerissen und blitzenden Auges herausgestoßen: »Man will uns unser Höchstes nehmen, das lassen wir uns nicht gefallen – Schlosser, Mensch, was?! Kommen Sie morgen abend mit nach den Zelten. Wir versammeln uns da – eine Menge Kommilitonen. Und alle möglichen Leute: Künstler, Bürger, Gelehrte, Handwerker – alle Welt. Wir sind jung. Die Jugend hat zu fordern – und sie fordert. Sollen wir uns von den Franzosen etwa beschämen lassen? Und von den kleinen deutschen Staaten, die bereits all das erlangt haben, wonach wir noch seufzen? Eine Schande für uns! Aber morgen, warten Sie nur, Henze, da werden wir's formulieren. Eine Adresse an den König wird aufgesetzt. Er muß, wenn wir nur wollen


Und ein Frühling war gekommen, so früh, wie Berlin noch keinen hatte kommen sehen. Fast war dieser März der sandigen Mark wie sonst ihr Mai. Alles trieb, sproßte, grünte. Heller Sonnenschein alle Tage, so golden und wärmend, daß einem die Stube verhaßt wurde.

Unter den Linden, wo sonst von elf bis eins nur die feine Welt promenierte, auf den Bänken die geputzten Ammen mit den Kindern der Reichen saßen und den Tönen der Militärmusik lauschten, die von der königlichen Wache herüberflogen, spazierten jetzt auch eine Menge anderer Leute: Studenten, Handwerker, Bürger, Bummler. Bewegt ging's auf und ab. Gruppen fanden sich zusammen und sprachen leise; kam ein Schutzmann in Sicht, so stoben sie auseinander, verteilten sich, um sich an anderem Platz wieder zusammenzufinden.

Manch einer wischte sich den Schweiß ab: war das ein Frühling!

Draußen vorm Brandenburger Tor trieben die alten Bäume des Tiergartens Blätter, blühten unter den dichten Büschen die blauen Veilchen und die weißen Sterne der Anemonen, und auf den Wiesen Tausende von rotgeränderten Gänseblümchen. Da ließen die schwarzen Amseln unablässig aus ihren goldenen Schnäbeln vollen, warmen, verführenden Lenzruf erschallen. Überall Leben und Farbe, Lockung und Hoffnung.

Unter den Zelten, wo auf dem großen Platz die Sandsteinfigur aus der Zeit des großen Königs steht, drängten sich Weiber mit sauren Gurken und warmen Knoblauchwürsten, mit Schnaps und Schrippen, und dreiste Jungen schrieen sich heiser: »Zigarro! Zigarros mit avec die fö! Freiheit un Jleichjiltigkeit un Roochen in'n Dierjarten!«

Eine ungeheure Menge hielt den Platz besetzt. Das war ein Meer von Köpfen, ein summendes Gewoge von blonden und dunklen Häuptern, von hohen Zylindern und kühn gekrempten Schlapphüten, von den Mützen der Studenten und den abgeschabten Bedeckungen der Proletarier. Aber wenn ein Redner auf die Tribüne trat, auf der sonst ein Orchester harmlose Weisen in den Wald des Tiergartens hinausgespielt hatte, dann verstummte das Summen. Es wurde totenstill.

Wie ein Mann lauschte die Versammlung der Tausende. Wie bei Meeresstille glätteten sich all die Wellen, sie erstarrten gleichsam. Man lauschte, lauschte den Reden, die nicht überall in der weiten Runde verstanden werden konnten, von denen nur einzelne Sätze jedes Ohr erreichten. Mahnworte, Weckrufe, Vorschläge, Forderungen – Trompetenstöße hinaus geschmettert in die linde Luft dieses Frühjahrs.

Die Hüte und Mützen flogen von den Köpfen, aber die heißen Stirnen kühlte der feuchte Waldhauch des Abends nicht, sie glühten wie vor einer entscheidenden Schlacht. In die Meeresstille hatte der Sturmwind geblasen, die Wellen fingen wieder an, auf und ab zu wogen, sich zu kräuseln, sich zu bäumen, hin und her zu schlingern, zu rollen und zu grollen. In weiter Ferne, bis spät in die Nacht hinein, hörte man das Brausen dieses bewegten Meeres.


In der stillen Schützenstraße hörte man von diesem Brausen nichts. Christian Schulze merkte nur, daß wo anders etwas los sein mußte, daran, daß weniger Gäste bei ihm einkehrten in letzter Zeit. Was war denn los? In der Zeitung, die er zu Gesicht bekam, stand nicht viel, und die Jugend, von der er sonst immer etwas zu hören bekommen hatte, die kam jetzt nicht; auch der Schlosser nicht mehr. Das war ihm eigentlich lieb, und doch ärgerte er sich: na, mit dem seiner Liebe zu Minne war's auch nicht weit her! Jakob hatte um Rahel ein bißchen länger gedient. Hoffentlich machte das dumme Mädel sich nichts daraus. Sie war jetzt oft so blaß – ach was, das machte das Frühjahr! Wo der verfluchte Kerl bloß stecken mochte?!

Schulze stand vor seiner Tür und sah nach dem verfluchten Kerl aus. Sonst war der doch abends immer da drüben entlang geschlichen und hatte herübergeschielt – jetzt schob da bloß die Witten. Ei, und in ihrer Sonntagskapotte!

Er beäugte die Nachbarin kritisch. Mit der hatte er seit dem Herbst nicht mehr viel im Sinn. Daß die auf ihre alten Tage noch so verrückt werden konnte! Ihre Jungens gingen gar nicht zur Arbeit mehr, liefen morgens fort auf den Bummel, kamen spät abends erst wieder – sieh, sieh, da kamen sie ja jetzt auch hinter der Mutter her! Die Küchlein hinter der Glucke. Wie die Alte schob! Die Jungens, die langen Bengels, konnten kaum Schritt mit ihr halten.

»Na, Witten,« schrie Schulze über die Straße, »wo klappert der Storch denn?«

Sie machte eine abweisende Handbewegung. »Ick jeh nach die Zelten.« Nahm ihren Karl rechts, ihren Albert links und eilte mit ihnen davon.

»Verrückt und dreie macht neune!« Christian Schulze trat kopfschüttelnd in seine Tür zurück. In die Zelten –? Hm – da hielten sie Versammlungen ab. Kam nichts Gescheites bei raus! – – –

Eine Stunde, nachdem die Mutter Witte mit ihren Söhnen fortgegangen war, verließ auch die Tochter das Haus.

Jetzt dämmerte es. Der lange Frühlingstag hatte sich seinem Ende geneigt; Fledermäuse flatterten im Zickzackflug über die vereinsamte Straße und huschten in ihre Verstecke unter die Dachrinnen. Und wie solch ein schattenhaftes, lautloses Tier huschte Luise. Sie hielt sich immer dicht an den Häusern. So war sie manchen Abend schon ausgeflogen, Straße auf, Straße ab im Zickzackflug, hatte ihn ausgekundschaftet, ihm nachspioniert, ihn beobachtet, ihn, nach dem ihr Herz verlangte. Hatte mit einem Gefühl von Teilnahme und zugleich mit einem Brennen der Eifersucht gesehen, wie er vergebens nach Minne spähte, und war ihm dann nachgeschlichen bis an sein Haus. Aber ihn anzureden, hatte sie, die sonst so Dreiste, nicht den Mut gefunden. Ihr Herz widersetzte sich, sie fühlte, wie es sich krampfhaft zusammenzog: ihn wieder nur nach Minne fragen hören, ihm wieder nur von Minne erzählen? Nein, das konnte sie nicht mehr! Sie litt. Ihr Witz hatte sie verlassen, es war ihr oft, als wäre auch ihr Verstand davongegangen. Sie wußte es ja, er machte sich nichts aus ihr; und doch gab es Stunden, in denen ihr einsames Herz mit seinem Schrei alle Vernunft übertönte. Es könnte doch sein, daß er sich ihr zuwendete! Wenn er die Minne nicht kriegte, kam er dann nicht vielleicht zur Luise?

Wenn Minne sie einmal so wie beiläufig fragte, aber mit errötenden Wangen, mit unsichrer Stimme: »Haste den Henze gesehen?« sagte sie jedesmal: »Nee. Was jeht mich der Henze an?!« Daß sich's die Minne nur nicht etwa einfallen ließe, ihr eine Botschaft an den aufzutragen! Sie trug keine Botschaft – nein, nein, nein! Mochte Minne alleine sehen, wie sie fertig wurde, die Luise war nicht mehr so dumm wie ehedem, als sie den Ball aus der Gosse holte. Nein, nein, jetzt tat sie nichts mehr für Minne!

Luise stampfte den Boden, Eifersucht loderte in ihr: hatte die denn nicht schon so viel, so viel mehr als sie? Ein friedliches Elternhaus, Schönheit, Wohlstand. Und was, was hatte sie?! Nichts als diese schmerzhafte und doch beseligende Sehnsucht, an die sie sich gehängt hatte mit aller Kraft.

Einen Kuß hatte er ihr gegeben – einen Kuß! Viele Küsse! Und in den Arm hatte er sie genommen!

Sie hatte den kargen Winter davon gezehrt. Oft wenn der Vater angetrunken tobte und schimpfte, die Mutter sie auf die Arbeit hetzte, die Brüder ihr abbettelten, abnötigten, was sie für sich behalten durfte von ihrem kleinen Verdienst, drückte sie die Augen zu, ließ die anderen reden. Sie hörte das nicht, sie sah das gar nicht. Sie saß wieder auf der dunklen Bank, von seinem Arm umschlungen, sie empfing seinen Kuß – oh, war das ein Schmerz, war das eine Wonne! Sie mußte beide Hände gegen das ungestüm pochende Herz drücken. Es war ihr oft, als müßte es springen. Und Stunden saß sie dann nachts wach im Bett, halb aufgerichtet, den Kopf auf den Knieen und dachte und dachte. Und was sie dachte, wünschte und hoffte, das beängstigte sie doch. Sie kam sich schlecht vor: Minne, ihre liebe Minne, ihre gute Minne! Immer tiefer duckte sie nieder, sie schämte sich vor sich selber. Aber dann, aufschnellend, warf sie sich zurück, stieß mit den Füßen gegen die Bettstatt, daß die krachte, und brach in ein ungeduldig-trotziges Weinen aus. Wenn nur der Frühling erst da wäre!

Nun war er da, aber sie schlich an diesem lauen Abend doch einsam durch die Straßen. Das hatte sie herausgebracht: der Schlosser war wieder mit dem Studenten ausgegangen – auch gestern abend waren sie zusammen fortgewesen. Erst gegen Mitternacht waren sie heimgekommen. Arm in Arm wie Brüder; aber bezecht waren sie nicht, sie gingen ganz aufrecht. Sie hatte in der Junkerstraße, gegenüber von seinem Hause, in einer Türnische gestanden; sie hörte drüben die Haustür schließen, sie sah oben in der Stube des Studenten die Lampe sich entzünden, sie wartete und wartete: wenn er noch einmal herunterkäme?! Dann wollte sie – ja, was wollte sie dann?!

Sie war endlich nach Hause geschlichen, todmüde, frierend, trotz der linden Nacht. Ob es heute wieder so spät werden würde? Sie waren wohl auch bei der Versammlung im Tiergarten, zu der die Mutter gegangen war mit den Brüdern. Wenn sie sich aufstellte am Brandenburger Tor, konnte er ihr nicht entgehen; da mußten sie alle durchkommen. – – –

Sie hatte es sich leichter gedacht, ihn herauszufinden, sie hatte geglaubt, seine große breitschulterige Gestalt nicht übersehen zu können, aber es waren der Menschen gar so viele. Nun hatte sie schon Stunden gewartet. Menschen, Menschen, Menschen. Noch immer strömte es in die Stadt zurück.

Was mußte das für ein Gefühl sein, das diese vielen bewegte! Luise fühlte ein Zucken im eigenen Herzen. So wie ihr, war wohl auch denen zumute: so froh und bang, so ängstlich und doch triumphierend. Es mußte ja gelingen, sie mußte ihn kriegen, sie und nicht die Minne! Ja – ein verzweifelter Entschluß jagte plötzlich über ihr jäh erblassendes Gesicht, ihre Stirn krauste sich in einem finsteren Nachdenken – so würde es ihr auch gelingen!

Luise starrte vor sich hin, sie hatte ganz vergessen, daß sie hier aufpassen wollte. Ihre Blicke blieben gesenkt; ihre blonden, sonst so ausdruckslosen Brauen zogen sich zusammen in einer leidenschaftsvollen Düsterkeit – dann erschrak sie plötzlich. Wie aus einer Kehle und doch tausendstimmig ertönte Gesang, stark, gewaltig, schier beängstigend in seiner Fülle. –

Es war keine Unordnung in den Massen, die sich singend jetzt durchs Tor auf die Linden schütteten. Wie zum Zuge geordnet, marschierten sie ein, zu zweien, zu dreien und vieren. Aber in diesem Singen mußte doch etwas Herausforderndes sein, denn plötzlich kam Kavallerie angeritten: »Zurrrück!«

Schrille Pfiffe gellten, Geschrei erhob sich, Kommandorufe, Schimpfen, Drohworte – wie ein Spuk jagten die Pferde mit ihren Reitern vorüber.

Auseinandergetrieben waren die Ruhestörer; dahin, dorthin. Der schwarze Klumpen der Masse zerteilte sich und streckte lange Arme nach rechts und links in die Seitenstraßen.

Luise wurde mit fortgerissen, auch sie lief flüchtend; erst in der Wilhelmstraße weit oben hielt sie wieder an. Hier war es still. Jetzt ärgerte sie sich, daß sie gelaufen war. Bange sein?! Oh nein, nun erst recht kehrte sie noch einmal um. Wer durfte ihr's wehren, ihn zu suchen, wenn sie ihn suchen wollte?!

Sie lief zurück, wieder nach den Linden hin, aber sie kam jetzt nicht mehr durch. Wie eine Mauer, wie Stein bei Stein fest eingerammt, standen da Menschen. Mochte die Kavallerie ihre Pferde spornen, der Anführer sein »Zurrr–rück!« schreien! Jetzt hatten sie sich gesammelt, jetzt waren sie wieder zu sich selber gekommen; sie wichen nicht.

Und wie zum Hohn stieg voll und rein und unbeirrt der Gesang empor zu dem Sternenzelt, das sich erhaben, goldflimmernd, unendlich klar heute über der Siegesgöttin wölbte. Brausend wie von einer Orgel, auf der alle Register gezogen sind, tönte es durch die Nacht:

»Freiheit, die ich meine,
Die mein Herz erfüllt ...«


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