Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt. Erster Band
Jules Verne

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Vierundzwanzigstes Kapitel

In welchem dem Kapitän Servadac und Leutnant Prokop endlich die Lösung dieses kosmographischen Rätsels gelingt.

»Formentera!« riefen Graf Timascheff und Kapitän Servadac fast gleichzeitig aus.

Es war dies der Name einer kleinen Insel aus der Gruppe der Balearen im Mittelländischen Meere. Der Ort, an dem sich der Urheber jener wiederholt aufgefangenen Schriftstücke befand, ward hierdurch hinlänglich genau bezeichnet. Was trieb aber dieser Franzose daselbst und war er jetzt auch noch am Leben?

Von Formentera aus hatte jener Gelehrte offenbar die verschiedenen Notizen abgesandt, in welchen er nacheinander die Positionen des von ihm »Gallia« genannten Bruchstückes der Erde angab.

Jedenfalls bewies das von der Taube überbrachte Dokument durch sein Datum des 1. April, daß jener vor vierzehn Tagen dort noch anwesend war. Die letzte Depesche unterschied sich von den früheren vor allem durch das Fehlen jedes Ausdrucks der Befriedigung des Verfassers. Sie schloß nicht mit »Va bene«, »All right« oder »Nil desperandum!«. Dagegen enthielt die nur in französischen Ausdrücken abgefaßte Depesche mehr einen Hilferuf, da auf Formentera die Lebensmittel auszugehen anfingen.

Diese Bemerkungen äußerte Kapitän Servadac in kurzen Worten.

»Meine Freunde«, setzte er hinzu, »wir werden diesem Unglücklichen natürlich sofort zu Hilfe eilen . . .«

»Oder diesen Unglücklichen«, verbesserte Graf Timascheff. »Ich bin bereit, mit Ihnen aufzubrechen, Kapitän.«

»Ganz sicher ist die Dobryna«, bemerkte Leutnant Prokop, »nahe bei Formentera vorübergekommen, als wir nach der Balearengruppe suchten. Wenn wir dabei kein Land entdeckten, mag das daher rühren, daß nur ein sehr beschränktes Eiland, ganz wie in Gibraltar und Ceuta, von diesem Archipel übriggeblieben ist.«

»Und wäre es noch so klein, wir müssen es wiederfinden!« entgegnete Kapitän Servadac. »Wie weit mag es von Warm-Land bis Formentera sein, Leutnant Prokop?«

»Ungefähr hundertzwanzig Lieues (76 Meilen) Kapitän. Darf ich Sie aber fragen, wie Sie dahin gelangen wollen.«

»Nun, zu Fuß natürlich«, antwortete Hector Servadac, »da das Meer nicht fahrbar ist; das heißt, auf unseren Schlittschuhen! Nicht wahr, Graf Timascheff?«

»Reisen wir ab, Kapitän«, sagte der Graf, der einer Frage der Humanität gegenüber niemals indifferent oder unentschlossen war.

»Vater«, fiel da Leutnant Prokop ein, »ich möchte mir einen Einwurf erlauben, nicht um Sie an der Erfüllung der Menschenpflicht zu hindern, sondern nur um deren Erfüllung auch zu sichern.«

»Sprich, Prokop.«

»Kapitän Servadac und Sie wollen diese Reise wagen. Die Kälte ist schon sehr streng geworden; das Thermometer zeigt zweiundzwanzig Grad unter Null, und diese Temperatur wird bei der herrschenden steifen Brise aus Süd nahezu unerträglich. Angenommen, Sie legten zwölf Meilen täglich zurück, so wären sechs Tage nötig, um Formentera zu erreichen. Dazu bedarf es eines Lebensmittelvorrates, nicht allein für Sie selbst, sondern auch für diejenigen, denen Sie zu Hilfe springen wollen . . .«

»Wir reisen mit dem Futtersack auf dem Rücken, wie zwei echte Soldaten«, erwiderte schnell Kapitän Servadac, der nur die Schwierigkeit, nicht aber die Unmöglichkeit einer solchen waghalsigen Fahrt begriff.

»Zugegeben«, antwortete Leutnant Prokop sehr ruhig. »Sie werden unterwegs aber notwendigerweise mehrmals ausruhen müssen. Das Eisfeld nun ist völlig eben; Sie werden keine Gelegenheit haben, etwa nach Art der Eskimos eine Hütte in einem Eisberge herzustellen . . .«

»Wir reisen Tag und Nacht weiter, Leutnant«, entgegnete Hector Servadac, »und statt sechs Tage brauchen wir nur drei, nur zwei, um Formentera zu erreichen.«

»Auch das mag sein, Kapitän Servadac. Ich will einmal – was übrigens so gut wie unmöglich ist – annehmen, Sie kämen in der kurzen Frist von zwei Tagen dort an. Was beginnen Sie mit den etwaigen Bewohnern des Eilandes, die vielleicht nahe daran sind, vor Hunger und Kälte umzukommen? Wollten Sie diese sterbend mitnehmen, so dürften Sie nur Leichname nach Warm-Land bringen.«

Leutnant Prokops Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Unmöglichkeit einer unter solchen Umständen unternommenen Schlittschuhreise leuchtete endlich allen deutlich ein. Es lag auf der Hand, daß Kapitän Servadac und Graf Timascheff, denen auf dem ungeheuren Eisfelde kein schützendes Obdach winkte, zusammenbrechen würden, um nie wieder aufzustehen, wenn sie nur ein Schneesturm überfiel und unter seinen Flockenwirbeln begrub.

Nur Hector Servadac, den ein übertriebenes Gefühl von Edelmut und der Gedanke an die Erfüllung einer Pflicht verblendete, verschloß sich noch jeder Einsicht. Er widersetzte sich trotzig den kühlen Vernunftgründen des Leutnant Prokop. Sein getreuer Ben-Zouf unterstützte ihn eher noch darin, indem er sich bereit erklärte, mit dem Kapitän sofort seine Marschroute zu unterzeichnen, im Fall Graf Timascheff zögern sollte, mit abzureisen.

»Nun, Herr Graf?« fragte Hector Servadac.

»Ich bin zu allem, was Sie beschließen, bereit, Kapitän.«

»Wir können unseresgleichen unmöglich ohne Lebensmittel, ohne Obdach lassen!«

»Nein, das dürfen wir nicht«, bestätigte Graf Timascheff.

Dann wendete er sich gegen Prokop.

»Gibt es kein anderes Mittel, Formentera zu erreichen, als das, welches du verwirfst«, sagte er, »so werden wir uns doch dieses einzigen bedienen, Prokop, und Gott wird uns seinen Beistand leihen!«

In seine Gedanken vertieft, gab der Leutnant auf diese Äußerung des Grafen keine Antwort.

»Oh, hätten wir jetzt nur einen Schlitten!« rief da Ben-Zouf.

»Ein Schlitten wäre wohl leicht genug herzustellen«, antwortete Graf Timascheff, »woher aber nehmen wir Hunde oder Rentiere zu seiner Bespannung?«

»Haben wir nicht unsere beiden Pferde, die man mit geeigneten Hufen für das Eis versehen könnte?« rief Ben-Zouf.

»Sie würden diese strenge Kälte nicht aushalten und unterwegs stürzen«, erwiderte der Graf.

»Einerlei«, fiel Hector Servadac ein. »Hier gilt kein Zaudern. Laßt uns einen Schlitten bauen . . .«

»Der wäre schon vorhanden«, bemerkte Leutnant Prokop.

»Desto besser, so bespannen wir ihn . . .«

»Nein, Kapitän. Wir besitzen einen weit verläßlicheren und schneller fördernden Motor als Ihre Pferde, welche den Strapazen einer solchen Fahrt nicht widerstehen würden.«

»Und das wäre? . . .« fragte Graf Timascheff.

»Nun, der Wind«, belehrte ihn Leutnant Prokop.

Ja gewiß, der Wind! Die Amerikaner verstehen schon seit langem, ihn für ihre Segelschlitten mit großem Vorteil zu benutzen. In den endlosen Prärien der Union wetteifern diese Vehikel mit den Eilzügen der Eisenbahnen und erreichen manchmal eine Schnelligkeit von fünfzig Metern in der Sekunde oder hundertachtzig Kilometer (24 geogr. Meilen) in der Stunde. Eben jetzt wehte der Wind aus Süden recht frisch. Er konnte einem solchen Fahrzeuge wohl eine Schnelligkeit von sechs bis neun Meilen in der Stunde verleihen. Es erschien also möglich, in der Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen auf der Gallia die Balearen, oder richtiger das einzige Eiland zu erreichen, welches der allgemeinen Zerstörung entgangen war.

Der Motor also stand zum Arbeiten bereit. Gut, Prokop hatte aber gesagt, auch der Schlitten sei zur Abfahrt fertig. Und wahrlich, war nicht der gegen zwölf Fuß lange und fünf bis sechs Personen fassende You-You (ein kleines Reserveboot) der Dobryna ein ganz ausgezeichneter Segelschlitten?

Genügte es nicht, diesem zwei falsche eiserne Kiele anzusetzen, welche ebenso die Seitenwände stützten, wie sie als Schlittschuheisen für das Fahrzeug dienten? Wieviel Zeit brauchte der Mechaniker der Goëlette wohl, um diese beiden Kufen herzurichten? Höchstens wenige Stunden. Mußte das leichte Boot über das vollkommen ebene Eisfeld, das kein Hindernis, keine Erhöhung, keine in schiefe Lage gedrängten Schollen zeigte, mit dem Wind im Rücken nicht unvergleichlich schnell dahinfliegen? Dabei konnte man den You-You auch noch mit einem Bretterdache versehen und dieses mit starkem Leinen bedecken. So versprach es nicht nur die zu schützen, die es bei der Hinfahrt steuerten, sondern auch diejenigen, welche es bei der Rückfahrt mitbringen sollte. Ausgerüstet mit Pelzen, verschiedenen Nahrungsmitteln und Herzstärkungen, sowie mit einem kleinen, tragbaren, mittels Spiritus zu heizenden Ofen müßte es die günstigsten Bedingungen vereinigen, um jenes Eiland zu erreichen und die überlebenden Bewohner Formenteras hierher zu führen.

Etwas Besseres und Praktischeres war gar nicht zu ersinnen. Nur ein einziger Einwurf stand ihm entgegen.

Der Wind wehte jetzt günstig, um nach Norden zu segeln, doch wenn es dann darauf ankäme, nach Süden zu steuern . . .

»Das tut nichts«, erklärte Kapitän Servadac, »jetzt denken wir nur an die Hinfahrt! Wie wir zurückkehren, wird sich später finden.«

Vermochte der You-You nun auch nicht so scharf gegen den Wind zu segeln, wie ein vom Steuerruder regiertes Boot, und mußte man auch annehmen, daß er bei etwaigem Wechsel des Windes ein wenig abwiche, so erlaubten ihm seine in das Eis etwas einschneidenden Kufen doch, auch bei Seitenwind noch zu segeln. Selbst wenn der Wind also zur Zeit der Rückfahrt nicht umschlagen sollte, so war es möglich, gleichsam zu lavieren und auf diese Weise nach Süden vorwärts zu kommen. Doch davon konnte ja erst später die Rede sein.

Der Mechaniker der Dobryna ging, von einigen Matrosen unterstützt, sofort ans Werk. Gegen Abend war der You-You, der mit einer doppelten Armatur am Vorderteile aufgebogenen Eisens, einem leichten Dache in Form eines Roof (Deckschlafstätte der Schiffsmannschaft) und mit einem langen eisernen Bootsriemen versehen war, der ihn möglichst vor zu großer Abtrift bewahren sollte, zur Abfahrt bereit. Es versteht sich, daß man auch hinreichende Provision, Werkzeuge, Decken u. dgl. darin untergebracht hatte.

Jetzt meldete sich aber Leutnant Prokop, um an Graf Timascheffs Stelle neben Kapitän Servadac Platz zu nehmen. Einerseits durfte der You-You nur zwei Passagiere aufnehmen, wenn man etwa in die Lage käme, mehrere Personen mit sich zurückzuführen, andererseits verlangte die Handhabung des Segels und die Sicherung der einzuhaltenden Richtung die Hand- und Fachkenntnis eines Seemannes.

Graf Timascheff bestand zunächst zwar auf seinem Vorsatze, mußte sich aber Kapitän Servadacs dringendem Ersuchen, für ihn während seiner Abwesenheit als Stellvertreter zu fungieren, zuletzt doch fügen. Gewiß war die Reise eine gewagte zu nennen. Den Passagieren des You-You drohten tausenderlei Gefahren. Schon einem mäßigen Sturme konnte das schwache Gefährt ja kaum standhalten, und sollte Kapitän Servadac vielleicht überhaupt nicht wiederkehren, so konnte nur Graf Timascheff der natürliche Chef der kleinen Kolonie sein. Er stimmte also endlich bei, zurückzubleiben.

Seinen eigenen Platz hatte Kapitän Servadac ihm auch nicht abtreten wollen. Unzweifelhaft war der Hilfesuchende Franzose; ihm, als französischen Offizier, kam es also zu, jenem beizuspringen und zu helfen.

Am 16. April schifften sich, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, Kapitän Servadac und Leutnant Prokop mit Tagesanbruch auf dem You-You ein. Sie sagten ihren Gefährten Lebewohl, deren Erregung nicht gering war, als sie die beiden fertig sahen, bei einer Kälte von fünfundzwanzig Grad in die grenzenlose, weiße Ebene hinauszugleiten.

Die russischen Matrosen und die Spanier, alle wollten dem Kapitän und dem Leutnant noch einmal die Hände drücken. Graf Timascheff zog den edelmütigen Kapitän an seine Brust und umarmte seinen braven Prokop. Ein herzlicher Kuß der kleinen Nina, deren große Augen die hervorquellenden Tränen nur mühsam zurückhielten, beschloß diese rührende Abschiedsszene. Einige Minuten später war der You-You, den seine Segel wie ein großer, mächtiger Flügel pfeilschnell entführten, schon jenseits des Horizontes verschwunden.

Das Segelwerk des You-You bestand aus einer Brigantine und einem Klüversegel. Diese wurden so eingestellt, um mit dem vollen Rückenwind fahren zu können. Die Geschwindigkeit des leichten Fahrzeugs war eine ganz erstaunliche und schätzten sie dieselbe zu mindestens zwölf Lieues (etwas über 7 geogr. Meilen) in der Stunde. Eine am hinteren Ende des Deckes ausgesparte Öffnung gestattete Leutnant Prokop, den wohl verhüllten Kopf nach außen zu stecken, ohne sich mehr als nötig der Kälte auszusetzen, und mit Hilfe des Kompasses die gerade Linie nach Formentera einzuhalten.

Der You-You bewegte sich ungemein sanft vorwärts. Er zeigte nicht einmal jenes unangenehme Erzittern, welches man beim Fahren in den Waggons selbst der bestgebauten Eisenbahn empfindet. Leichter auf der Oberfläche der Gallia, als er auf der der Erde gewesen wäre, glitt der You-You ohne Rollen und Stampfen dahin und gleichzeitig zehnmal so schnell, als es in seinem gewöhnlichen Elemente der Fall gewesen wäre. Kapitän Servadac und Leutnant Prokop glaubten manchmal in die Luft gehoben zu sein und von einem Aerostaten oberhalb des Eisfeldes dahingeführt zu werden. Und doch blieben sie stets auf dessen Fläche, deren oberste Schicht die eiserne Armatur des Segelschlittens pulverisierte, so daß eine endlose Wolke von Schneestaub hinter ihnen herzog.

Hier überzeugte man sich nur sehr bald davon, daß das Aussehen dieses gefrorenen Meeres überall dasselbe war. Kein atmendes Wesen belebte diese Einöde, die einen recht niederschlagenden Eindruck hervorbrachte. Dennoch fehlte dem meist eintönigen Bilde nicht ein gewisser poetischer Reiz, der auf beide Reisegefährten je nach ihrem Charakter verschieden einwirkte. Leutnant Prokop beobachtete mehr als Mann der Wissenschaft, Kapitän Servadac als ein für alles Neue empfänglicher Künstler. Als die Sonne dann zur Ruhe ging und ihre schräg auf den You-You fallenden Strahlen zur Linken desselben die langgezogenen Schatten seiner Segel zeichnete, und endlich die Nacht fast ohne Dämmerung den Tag verdrängte, da rückten die beiden Männer, wie von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, näher zueinander und drückten sich verständnisinnig die Hände.

Da seit dem vorhergehenden Tage Neumond war, wurde die Nacht vollkommen dunkel, nur die Sternbilder leuchteten desto herrlicher an dem schwarzen Himmelsgewölbe. Beim Mangel eines Kompasses hätte Leutnant Prokop sich ebenso leicht nach dem Polarsterne richten können, der sehr nahe dem Horizonte glänzte. Man begreift ja leicht, daß, so groß auch die Entfernung zwischen Gallia und Sonne wurde, diese doch im Vergleich zu der unermeßbaren Entfernung der Fixsterne eine völlig verschwindende blieb.

Der jetzige Abstand der Gallia war schon ein sehr beträchtlicher. Die letztempfangene Notiz gab darüber deutliche Auskunft. Hiermit beschäftigen sich vor allem Leutnant Prokops Gedanken, während Kapitän Servadac, einem anderen Ideengange folgend, nur an den oder die seiner Landsleute dachte, welchen er zu Hilfe eilte.

Entsprechend dem zweiten Keplerschen Gesetze hatte sich die Geschwindigkeit der Gallia in ihrer Bahn vom 1. März bis zum 1. April um zwanzig Millionen Lieues (= 12 Millionen Meilen) verringert. Ihr Abstand von der Sonne war in demselben Zeitraume um zweiunddreißig Millionen Lieues (= 191/5 Millionen Meilen) gewachsen. Sie befand sich demnach jetzt nahezu in der Mitte der teleskopischen Planeten, welche zwischen den Bahnen des Mars und des Jupiter kreisen. Hierdurch erklärte sich auch die Entführung jenes Satelliten, nach der letzten Nachricht, der Nerina, d. i. einer der erst jüngst entdeckten Planetoiden.

Die Gallia entfernte sich also nach einem ganz bestimmten Gesetze immer weiter von ihrem Mittelpunkte der Anziehung. Konnte man wohl hoffen, daß es dem Verfasser jener Dokumente gelingen werde, ihre Bahn zu berechnen und mit mathematischer Sicherheit den Zeitpunkt anzugeben, an dem der Asteroid sein Aphelium erreichen würde, wenn er überhaupt eine elliptische Bahn beschrieb? Dieser Augenblick fiel dann mit dem größten Sonnenabstande zusammen, von da ab mußte er sich dem Tagesgestirn wieder nähern. Dann ließ sich sowohl die Dauer des Gallia-Jahres, als auch die Anzahl der Tage desselben genau berechnen.

Leutnant Prokop grübelte über alle diese beunruhigenden Probleme, als ihn der plötzliche Tagesanbruch überraschte. Kapitän Servadac und er berieten sich. Da sie die seit ihrer Abfahrt in schnurgerader Linie zurückgelegte Entfernung auf mindestens sechzig Meilen schätzten, beschlossen sie, die Schnelligkeit des You-You zu vermindern. Die Segel wurden also etwas eingezogen und die beiden Männer sandten, trotz der bitteren Kälte, ihre Blicke, ruhig und sorgsam prüfend, über die weiße Ebene.

Diese erwies sich noch immer vollkommen öde. Nicht ein Berg oder Felsen unterbrach ihre tadellose Gleichförmigkeit.

»Befinden wir uns nicht etwa im Westen von Formentera?« fragte Kapitän Servadac, nachdem er die einschlägige Karte gemustert.

»Das mag sein«, antwortete Leutnant Prokop, »denn wie bei einer Seefahrt achtete ich auch jetzt darauf, mich unter dem Winde der Insel zu halten. Jetzt werden wir besser auf diese zusegeln können.«

»O tun sie es, Leutnant«, drängte Kapitän Servadac, »lassen Sie uns keine kostbare Minute verlieren!«

Der Kurs des You-You wurde nach Nordosten verändert. Hector Servadac stand trotz des scharfen Windes immer auf dem Vorderteile. Alle seine Kräfte konzentrierten sich in seinen Augen. Dabei suchte er in der Luft nicht etwa eine Rauchsäule zu entdecken, die ihm den Zufluchtsort des unglücklichen Gelehrten verriete, dem es an Brennmaterial wahrscheinlich ebenso wie an Nahrungsmitteln fehlte. Nein! Er bemühte sich nur den Gipfel eines über das Eisfeld emporragenden Eilandes aufzufinden, das die immer gerade Linie des Horizontes unterbräche.

Plötzlich leuchtete Kapitän Servadacs Auge auf und er wies mit der Hand hinaus in die Ferne.

»Dort! Dort!« rief er.

Er zeigte dabei nach einer Art Holzgerüst, das sich von hier aus gesehen in der kreisförmigen Verbindungslinie zwischen Himmel und Eisfeld erhob.

Leutnant Prokop ergriff das Fernrohr.

»Ja wahrlich«, sagte er, »da . . . da . . . das ist ein Holzturm, der zum Zwecke irgendwelcher geodätischen Arbeiten errichtet erscheint.«

Hier war kein Zweifel möglich. Die Segel wurden wieder völlig entfaltet und der You-You, der sich nur gegen sechs Kilometer von dem bezeichneten Punkte befand, schoß mit wunderbarer Schnelligkeit darauf zu.

Kapitän Servadac und Leutnant Prokop vermochten, von ihren Gefühlen überwältigt, kein Wort zu sprechen. Das Holzgerüst wuchs für ihre Augen zusehends, und bald nahmen sie auch einen Haufen niedriger Felsen wahr, auf welchen jener Holzbau stand und die mit ihrem Fuß die weiße Ebene des Eisfeldes berührten.

Wie es Kapitän Servadac vermutet, wirbelte hier keine Rauchsäule empor. Angesichts dieser überaus strengen Kälte schwand die Illusion. Sicher war es nur noch ein Grab, auf das der You-You mit vollen Segeln zueilte.

Zehn Minuten später, etwa ein Kilometer vor dem Ziele, zog Leutnant Prokop die Brigantine ein, da die einmal erlangte Schnelligkeit des Fahrzeuges hinreichen mußte, es bis nach den Felsen zu treiben.

Kapitän Servadac fühlte, wie die Beklommenheit seines Herzens unter der wachsenden Erwartung zunahm.

An der Spitze des Turmes flatterte im Winde ein Stück blaues Fahnentuch . . . das letzte Überbleibsel einer französischen Flagge.

Der You-You stieß gegen die ersten Felsenstücke. Das Eiland hatte kaum einen halben Kilometer Umfang. Von Formentera, überhaupt von dem ganzen Archipel der Balearen, war keine weitere Spur zu sehen.

Am Fuße jenes Turmes erhob sich auch eine unscheinbare, hölzerne Hütte mit dicht geschlossenen Fensterläden.

Mit Blitzeseile schwangen sich Kapitän Servadac und Leutnant Prokop auf die Felsen, erklommen die glatten Steine und erreichten die Hütte.

Mit wuchtigem Faustschlage donnerte Hector Servadac an ihre von innen verriegelte Tür.

Er rief. Keine Antwort.

»Hierher, Leutnant!« sagte Kapitän Servadac.

Beide stemmten die Schultern ein und hoben die halb wurmstichige Tür aus den Angeln.

In dem einzigen Räume der Hütte herrschte tiefe Finsternis und vollständige Ruhe.

Entweder hatte der letzte Inwohner das Gemach schon verlassen oder er war noch darin, aber – als Leiche.

Die Läden wurden aufgestoßen; es ward hell in dem Zimmer.

Auf dem Kaminherde fand sich nichts, außer etwas längst erkaltete Asche.

Da, in einer Ecke stand ein Bett; auf ihm lag ein menschlicher Körper.

Kapitän Servadac trat hinzu, und unwillkürlich entrang sich ein Schrei seinen Lippen.

»Tot vor Kälte! Tot vor Hunger!«

Leutnant Prokop beugte sich über den Körper des Armen.

»Er lebt noch!« rief er.

Schnell entkorkte er ein Fläschchen mit einer kräftigen Herzstärkung und wußte dem Sterbenden einige Tropfen derselben zwischen den Lippen einzuflößen.

Da ließ sich ein schwacher Seufzer vernehmen und bald darauf noch wenige kaum hörbar hingehauchte Worte.

»Gallia?«

»Ja . . . jawohl! . . . Gallia! . . .« antwortete Kapitän Servadac, »das ist . . .«

»Das ist mein Komet, der meine, mein Komet!«

Nach diesen Worten sank der Halbtote in tiefe Betäubung zurück, während Kapitän Servadac murmelte:

»Aber ich kenne doch diesen Mann! Wo in aller Welt bin ich ihm früher wohl begegnet?«

An Hilfe und Rettung vom Tode war in dieser Hütte, der es geradezu an allem fehlte, von Anfang an nicht zu denken. Hector Servadac und Leutnant Prokop kamen schnell zu einem Entschlusse. In wenigen Augenblicken wurde der Sterbende nebst seinen physikalischen und astronomischen Instrumenten, Kleidungsstücken, Büchern und einer alten Tür, die ihm als Rechentafel gedient hatte, in dem You-You untergebracht.

Der Wind war zum Glück um drei Viertel umgesprungen und fast günstig zu nennen. Man machte sich ihn zu Nutze, setzte Segel bei und verließ das einzige von den Balearen übriggebliebene Felseneiland.

Am 19. April, sechsunddreißig Stunden später, wurde der erstarrte Gelehrte, ohne daß er jemals ein Auge aufgetan oder den Mund geöffnet hätte, im Hauptraume des Nina-Baues niedergelegt, wo die Kolonisten ihre kühnen Gefährten, auf deren Rückkehr sie schon sehnsüchtig harrten, mit lautschallendem Hurra begrüßten.

 


 


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