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Welches den Leser veranlaßt, Kapitän Servadac beim ersten Ausfluge in sein neues Gebiet zu begleiten.
Erinnert man sich des abenteuerlustigen Charakters unsers Kapitän Servadac, so begreift man auch leicht, daß er sich angesichts so ganz außergewöhnlicher Ereignisse doch keineswegs bestürzt zeigte. Nur wollte er, da er weniger indifferent als Ben-Zouf beanlagt war, gern die letzte Ursache der Dinge kennenlernen. Die Folgen berührten ihn weit weniger, wenn die Ursache einer Erscheinung ihm klar vor Augen lag. Die Aussicht, von einer Kanonenkugel zerrissen zu werden, hätte ihm keinen Kummer gemacht von dem Augenblick an, da er wußte, nach welchen Gesetzen der Ballistik und in welcher Flugbahn sie gerade die Mitte der Brust treffen mußte. Das war so seine Art, die Dinge in der Welt anzusehen. Ohne sich also weiter, als sein Temperament das zuließ, um die Konsequenzen des vorliegenden Phänomens zu kümmern, dachte er an nichts anderes als an die Ergründung der Ursache desselben.
»Donnerwetter!« rief er, als es so plötzlich Nacht wurde, »das muß man hier bei vollem Tageslichte sehen . . . in der Voraussetzung, daß es überhaupt wieder mehr oder weniger hell wird, denn mich soll doch der erste beste Wolf verschlingen, wenn ich weiß, wo die Sonne hingekommen ist.«
»Herr Kapitän«, begann da Ben-Zouf, »ohne Ihnen Vorschriften machen zu wollen, was beginnen wir aber nun?«
»Wir bleiben vorläufig an Ort und Stelle und morgen, wenn's überhaupt ein Morgen gibt, kehren wir nach dem Gourbi zurück, nachdem wir die Küste im Westen und Süden in Augenschein genommen haben. Das Wichtigste ist, zu wissen, wo und woran wir sind, solange wir uns nicht über das ganze wunderbare Ereignis Rechenschaft geben können. Dann nach Untersuchung der Küste im Westen und Süden . . .«
»Wenn es überhaupt noch eine Küste gibt!« fiel Ben-Zouf ein.
»Und wenn noch ein Süden vorhanden ist!« vervollständigte Kapitän Servadac.
»Also kann man nun schlafen?«
»Jawohl, wer das fertigbringt!«
Fußend auf diese Autorisation, verkroch sich Ben-Zouf, dessen Gleichmut auch so viel wunderbare Ereignisse nicht zu erschüttern vermochten, in einer Ausbuchtung des Ufers, legte die Hand über die Augen und schlief den Schlaf des Nichtswissers, der manchmal noch tiefer ist als der des Gerechten.
Kapitän Servadac dagegen irrte an der Küste des neuen Meeres umher und quälte sich mit unzählbaren Fragen ab, die vor seinem inneren Auge schwirrten.
Welche Wichtigkeit mochte zunächst der ganzen Katastrophe beizulegen sein? Beschränkte sie sich nur auf einen gewissen Teil Afrikas? Waren Algier, Oran und Mostagenem, jene so nahe beieinanderliegenden Städte, jetzt voneinandergerissen worden? Sollte Hector Servadac glauben, daß seine Freunde und Kameraden von der Subdivision zugleich mit den zahlreichen Einwohnern der Küste jetzt verschlungen waren, oder daß das durch irgendeine Erderschütterung aufgewühlte Mittelmeer nur diesen Teil des algerischen Gebietes neben der Mündung des Cheliff überdeckt habe? Diese Annahme würde zwar das Verschwinden des Flusses bis zu einer gewissen Grenze erklären, verbreitete aber über die anderen kosmischen Erscheinungen keinerlei Licht.
Eine andere Hypothese. War vielleicht anzunehmen, das afrikanische Küstengebiet sei plötzlich unter die Äquatorialzone versetzt worden? Damit erklärte sich sowohl der neue, von der Sonne beschriebene Tagesbogen, als auch das totale Fehlen der Dämmerung, wiederum aber nicht, warum die Tage jetzt nur zwölf Stunden lang zu sein schienen, noch wie es zuging, daß die Sonne jetzt im Westen auf- und im Osten unterging.
»Nichtsdestoweniger steht es fest«, wiederholte sich Hector Servadac mehrmals, »daß wir heute nur sechs Stunden lang Tag hatten und daß die Kardinalpunkte des Himmels jetzt Steven gegen Steven gewechselt haben, wie der Seemann sagen würde, mindestens bezüglich des Sonnen-Auf- und Unterganges. Nun, wir werden ja morgen sehen, wenn die Sonne wiederkommt – ja wenn sie überhaupt wiederkommt!« Kapitän Servadac war sehr mißtrauisch geworden.
Wirklich, abscheulicherweise blieb der Himmel bedeckt und das Firmament zeigte nicht seine gewöhnliche Illumination durch die Sterne. Obwohl wenig bewandert in der Kosmographie, kannte Hector Servadac doch die hauptsächlichsten Sternbilder. Er hätte also sehen müssen, ob der Polarstern an seiner Stelle war, oder ob ein anderer Stern diese eingenommen habe, was unwiderleglich bewiesen hätte, daß die Erdkugel um eine neue Achse und vielleicht in entgegengesetztem Sinne rotierte, wodurch sich über viele Erscheinungen Licht verbreitet hätte. Aber keine Öffnung entstand in den Wolken, welche dick genug schienen, um eine ganze Sintflut zu enthalten, kein Sternlein zeigte sich dem Auge des verzweifelten Beobachters.
Auf den Mond war jetzt nicht zu hoffen, denn zu dieser Zeit des Monates war gerade Neumond, und jener mußte also zugleich mit der Sonne unter dem Horizonte verschwunden sein.
Wer mißt aber das Erstaunen Hector Servadacs, als er nach anderthalbstündiger Promenade am Horizonte einen hellen Schein bemerkte, der auch den Rand der Wolken beleuchtete.
»Der Mond!« rief er. »Doch nein, der kann es ja nicht sein. Sollte die keusche Diana auch ihrerseits Torheiten machen und im Westen aufstehen? Nein, der Mond ist das nicht. Er könnte kein so intensives Licht verbreiten, er müßte sich denn der Erde ganz über die Maßen genähert haben.«
In der Tat erglänzte das Licht dieses Gestirns, mochte es nun sein, welches es wollte, so stark, daß es den Schirm von Dünsten durchbrach und sich eine halbe Tageshelle über die Umgebung verbreitete.
»Sollte es wohl die Sonne sein«, fragte sich der Offizier. »Aber sie ist ja kaum seit zehn Minuten im Osten verschwunden! Doch wenn es weder der Mond noch die Sonne ist, was ist es dann? Eine ungeheure Feuerkugel vielleicht? Ei, tausend Teufel, wollen denn diese verwünschten Wolken niemals zerreißen?«
Dann begann er mit einem Rückblick auf seine Vergangenheit:
»Es wäre doch wohl besser gewesen, ich hätte einen Teil der manchmal so töricht verschwendeten Zeit darauf verwendet, etwas Astronomie zu treiben. Wer weiß? Vielleicht ist alles das, worüber ich mir hier den Kopf zerbreche, etwas ganz Einfaches?«
Die Geheimnisse dieses neuen Himmels blieben in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Der enorme Lichtschein, der offenbar von einer hellglänzenden Scheibe mit ungeheuren Dimensionen ausging, strömte etwa eine Stunde lang auf die obere Fläche der Wolkendecke nieder. Nachher aber – wiederum eine erstaunliche Seltsamkeit – schien die Scheibe, statt nach dem entgegengesetzten Horizonte hinabzusinken, sich in einer zur Ebene des Äquators perpendikulären Linie zu entfernen und das dem Auge so angenehme Halbdunkel, welches in der Atmosphäre schimmerte, mit sich fortzunehmen.
Alles versank wieder in Dunkelheit, und das Gehirn des Kapitän Servadac war davon nicht ausgeschlossen. Der Kapitän wußte sich nach keiner Seite Rat. Die elementarsten Regeln der Mechanik waren hier verletzt, die Himmelskugel glich einer Uhr, in der die Feder außer Ordnung gekommen ist; die Planeten entzogen sich den Gesetzen der Gravitation und es lag somit gar kein Grund für die Annahme vor, daß die Sonne jemals wieder über irgendeinen Punkt des Erdhorizontes aufsteigen werde.
Drei Stunden später jedoch ward das Tagesgestirn ohne vermittelnde Dämmerung im Westen wieder sichtbar; das Morgenlicht erhellte die Wolkenbank, der Tag folgte wieder auf die Nacht, und Kapitän Servadac überzeugte sich durch Vergleichung seiner Uhr, daß die Nacht genau sechs Stunden gedauert hatte.
Sechs Stunden reichten für Ben-Zouf freilich nicht aus; der unerschrockene Schläfer mußte geweckt werden.
Hector Servadac rüttelte ihn ohne Umstände munter.
»Allons, steh auf, und vorwärts!« rief er.
»Ah, Herr Kapitän!« antwortete Ben-Zouf, sich die Augen reibend, »mir scheint, ich habe meine Ration noch nicht. Ich war doch eben erst im Einschlafen.«
»Du hast die ganze Nacht verträumt.«
»Eine Nacht! Das wäre . . .«
»Ja, freilich nur eine Nacht von sechs Stunden, aber du wirst dich an solche Nächte gewöhnen müssen.«
»Das wird auch noch geschehen.«
»Vorwärts denn, es ist keine Zeit zu verlieren. Wir wollen schnellstens nach dem Gourbi zurückkehren und sehen, was aus den Pferden geworden ist und was sie über das alles denken.«
»Sie werden sich wundern«, antwortete die Ordonnanz, »daß ich sie seit gestern nicht gefüttert habe. Ich werde ihnen dafür eine ordentliche Mahlzeit vorsetzen.«
»Schon gut, aber mach's nur schnell ab, und sobald sie gesattelt sind, beginnen wir unsere Rekognoszierung. Mindestens müssen wir doch in Erfahrung bringen, was aus den anderen Teilen Algiers geworden ist.«
»Und dann?«
»Und dann – nun, sollten wir Mostagenem im Süden nicht erreichen können, so werden wir uns im Osten bis Tenez durchschlagen.«
Kapitän Servadac und seine Ordonnanz folgten wieder dem Fußwege längs der Küste, um nach dem Gourbi zu gelangen. Da sie einen tüchtigen Appetit verspürten, so machten sie sich kein Gewissen daraus, unterwegs Feigen, Datteln und Orangen zu pflücken, die ihnen eben handrecht hingen. Auf diesem jetzt gänzlich verlassenen Teil des Territoriums, aus dem neuere Anpflanzungen einen reichen, ausgedehnten Fruchtgarten gemacht hatten, brauchten sie deshalb keinen Prozeß zu fürchten.
Anderthalb Stunden nach ihrem Aufbruche von der Küste, dem früheren rechten Ufer des Cheliff, erreichten sie den Gourbi, wo sich alles in der früheren Ordnung vorfand. Unzweifelhaft war während ihrer Abwesenheit kein Mensch hier gewesen und schien der östliche Teil des Landes ebenso wüst und verlassen zu sein wie der westliche, durch den sie eben gekommen waren.
Schnell wurden alle kleinen Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Etwas Zwieback und konserviertes Wild brachte Ben-Zouf in einer Reisetasche unter. Für Getränke hatten sie nicht zu sorgen, da sich zahlreiche klare Bäche durch die Ebene schlängelten. Diese früheren Nebenarme eines Flusses bildeten jetzt selbst Flüsse und mündeten unmittelbar in das Mittelmeer.
Zephir – das Pferd des Kapitän Servadac – und Galette (eine Reminiszenz an den Montmartre) – der Zelter Ben-Zoufs – wurden im Handumdrehen gesattelt. Die beiden Reiter saßen auf und galoppierten nach dem Cheliff zu.
Hatten sie selbst aber vorher schon die Folgen der verminderten Schwerkraft verspürt, war ihnen ihre Muskelkraft mindestens verfünffacht erschienen, so unterlagen auch die Pferde jetzt in demselben Verhältnisse den auffallendsten physikalischen Veränderungen. Das waren keine einfachen Vierfüßler mehr. Als wirkliche Hippogryphe berührten sie kaum den Boden. Glücklicherweise saßen Hector Servadac und Ben-Zouf so sicher im Sattel, daß sie den Tieren die Zügel schießen ließen und sie eher noch antrieben, als zu zähmen suchten.
In zwanzig Minuten waren die acht Kilometer vom Gourbi nach der Cheliff-Mündung durchflogen, von wo aus die Pferde in langsamerem Tempo nach Südosten längs des früheren rechten Flußufers dahintrabten.
Das Ufergelände hatte auch jetzt sein früheres Aussehen bewahrt. Das entgegengesetzte nur war, wie wir wissen, plötzlich verschwunden, und an seine Stelle ein weiter Meereshorizont getreten. Folglich mußte, mindestens bis auf die Entfernung dieses scheinbaren Horizontes, dieser ganze Teil der vor Mostagenem gelegenen Provinz Oran in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar untergegangen und überflutet worden sein.
Kapitän Servadac kannte das von ihm persönlich vermessene Terrain sehr genau. In Erinnerung der früher ausgeführten Triangulation fiel es ihm nicht schwer, sich in jeder Richtung genau zu orientieren. In seiner Absicht lag es, nach Besichtigung des möglichst größten Teiles der betroffenen Landstrecke einen Rapport zu erstatten, den er zu adressieren gedachte an . . . ja, an wen, das wußte er selbst noch nicht.
Im Laufe der vier noch übrigen Tagesstunden legten die Reiter von der Mündung des Cheliff ab etwa noch fünfunddreißig Kilometer zurück. Mit einbrechender Nacht lagerten sie sich an einer kleinen Bucht des früheren Flusses, der gegenüber noch gestern ein linksseitiger Nebenfluß, die jetzt in dem neuen Meere aufgegangene Mina, seine Wellen ergoß.
Während dieser Exkursion war man, was ja nicht wundernehmen kann, keiner lebenden Seele begegnet.
Ben-Zouf machte ein Nachtlager zurecht, so gut es eben ging, die Pferde wurden angebunden und konnten nach Belieben das fette Gras des Ufers abweiden. Die Nacht verstrich ohne Zwischenfall.
Am nächsten Tage, dem 2. Januar, d. h. zu dem Zeitpunkte, wo nach dem alten Erdenkalender erst die Nacht vom 1. zum 2. Januar beginnen sollte, bestiegen Kapitän Servadac und seine Ordonnanz wieder die Pferde und setzten die Untersuchung des Ufergebietes fort. Mit der Sonne aufbrechend, legten sie während der sechs Stunden des Tages eine Strecke von siebzig Kilometern zurück.
Die Grenze des Landes bildete fort und fort das frühere rechte Ufer des Flusses. Nur etwa zwanzig Kilometer von der Mündungsstelle der Mina war ein beträchtlicher Teil des Ufers verschwunden und mit ihm ein Vorort von Surkelmittu samt seinen achthundert Einwohnern. Und wer weiß, ob die größeren, am Cheliff gelegenen Städte Algiers, wie Mazagran, Mostagenem, Orleansville, nicht dasselbe Schicksal teilten?
Nach Umgehung der kleinen durch den Abbruch des Ufers entstandenen Bai kehrte Hector Servadac wieder nach dem Flußrande zurück und betrat diesen gerade der Stelle gegenüber, wo die gemischte Gemeinde Ammi-Mussa, das alte Khamis der Beni-Uragh, liegen mußte. Es fand sich aber keine Spur von diesem Kreis-Hauptorte, nicht einmal von dem 1126 Meter hohen Pic von Mankura, vor dessen Fuße jenes Städtchen erbaut war.
An diesem Abend rasteten unsere beiden Forscher an einem Winkel, der ihr neues Gebiet von dieser Seite scharf abgrenzte. Diese Stelle entsprach ungefähr dem Punkte, wo sich der bedeutende Flecken Memounturroy, von dem kein Restchen übrig schien, hätte finden müssen.
»Und ich hatte darauf gerechnet, heute abend in Orleansville zu speisen und zu übernachten«, sagte der Kapitän, während er das dunkle, vor seinen Augen ausgedehnte Meer betrachtete.
»Unmöglich, Herr Kapitän«, erwiderte Ben-Zouf, »im Falle wir nicht zu Schiff dahin gelangen können.«
»Weißt du, Ben-Zouf, daß wir beide ganz besonderes Glück haben?«
»Recht gut, Herr Kapitän, das ist unsere alte Gewohnheit! Sie werden sehen, daß wir auch Mittel finden, dieses Meer zu überschreiten und an der Seite von Mostagenem daran spazierenzugehen.«
»Hm, wenn wir uns, wie zu hoffen ist, auf einer Art Halbinsel befinden, so möchten wir uns eher aus Tenez neuere Nachrichten holen . . .«
»Oder solche dahin bringen«, bemerkte sehr verständig Ben-Zouf.
Beim Wiedererscheinen der Sonne, sechs Stunden später, konnte Kapitän Servadac die Formation des Landes genauer überblicken.
Von der Stelle des letzten Nachtlagers aus verlief das Küstengebiet ziemlich genau von Süden nach Norden. Es endete dasselbe hier mit keinem natürlichen Ufer, wie an anderen Stellen mit dem des Cheliff. Ein frisch entstandener Bruch begrenzte die weite Ebene. An dieser Ecke fehlte, wie erwähnt, der Flecken Memounturroy. Ben-Zouf vermochte auch nach Besteigung eines etwas landeinwärts gelegenen Hügels jenseits des Meereshorizontes nichts Weiteres zu erblicken. Kein Land war in Sicht. Folglich auch Orleansville nicht, das von hier aus gegen zehn Kilometer südwestlich lag.
Kapitän Servadac und sein Begleiter verließen ihre Lagerstätte und folgten der neuen Küste durch quer übereinander geworfenes Land, wild zerrissene Felsstücke, halb entwurzelte und nach dem Wasser überhängende Bäume, unter welchen sich auch einige uralte Olivenbäume befanden, deren wunderbar gekrümmter Stamm wie mit der Axt abgehauen erschien.
Nur langsam drangen die beiden Reiter weiter vor, da das buchten- und landzungenreiche Ufer sie zu manchem Umwege nötigte. So hatten sie bei Sonnenuntergang nach einer Tour von etwa fünfunddreißig Kilometern erst den Fuß der Berge von Dj Merjejah erreicht, welche vor der Katastrophe nach dieser Seite zu die Kette des Kleinen Atlas abschlossen.
Hier zeigte sich die Gebirgskette gewaltsam abgeschnitten und erhob sich nur noch in einzelnen Bergspitzen längs des Ufers.
Nachdem sie am anderen Morgen eines der tiefen Zwischentäler zu Pferde durchzogen hatten, erstiegen Hector Servadac und Ben-Zouf einen der höchsten Gipfel und gewannen dadurch eine Totalübersicht über diesen beschränkten Teil des algerischen Gebietes, dessen einzige Bewohner sie zu sein schienen.
Da setzte sich die neue Küste vom Fuße der Merjejah-Berge fort bis zu den entfernten Ufern des Mittelländischen Meeres, und zwar in einer Gesamtlänge von etwa dreißig Kilometern. Keine Landenge verband dieses Gebiet mit dem verschwundenen Distrikt von Tenez.
Die beiden Reiter rekognoszierten also nicht eine Halbinsel, wie sie noch immer gehofft hatten, sondern eine wirkliche Insel. Mit Hilfe seines hohen Beobachtungspunktes mußte Kapitän Servadac zu seinem großen Schrecken konstatieren, daß ihn das Meer von allen Seiten umflutete und er, so weit auch sein Blick jetzt reichte, nirgends sonst Land entdecken konnte.
Diese vor kurzem aus dem Boden Algiers herausgeschnittene Insel entsprach der Form nach etwa einem unregelmäßigen Viereck, beinahe einem Dreieck, dessen Seiten folgende Verhältnisse zeigten: 120 Kilometer an dem früheren Ufer des Cheliff, 35 Kilometer von Süden nach Norden aufsteigend zur Kette des Kleinen Atlas; 30 Kilometer einer schief nach dem Meere verlaufenden Linie und 100 Kilometer längs der alten Küste des Mittelländischen Meeres. Alles in allem ein Umfang von 285 Kilometern.
»Sehr schön, aber wozu das nun?«
»Bah! Wozu sollte es denn nicht sein?« meinte Ben-Zouf. »Das ist so, weil es eben so ist! Wenn es der ewige Vater so gewollt hat, wird man sich eben dreinfügen müssen.«
Sie stiegen wieder von dem Berge herab und holten die Pferde, welche sich ruhig an dem saftigen Grase gütlich taten. Denselben Tag ritten sie noch bis zu dem Ufer des Mittelmeeres, ohne eine Spur des kleinen Städtchens Montenotte zu finden, das wie Tenez verschwunden und von dem auch kein Trümmerhaufen eines Hauses zu entdecken war.
Am anderen Tage, dem 5. Januar, streiften sie in forciertem Marsch längs der Küste des Mittelmeeres hin. Das Ufer desselben war nicht so vollständig verschont geblieben, als der Stabsoffizier dachte, denn es fehlten hier vier Flecken, Callaat-Chimah, Agmiss, Marabut und Pointe-Basse.
Die Landvorsprünge, auf welchen dieselben lagen, hatten dem Stoße nicht zu widerstehen vermocht und sich von dem übrigen Lande getrennt. Nebenbei mußten sich unsere Wanderer überzeugen, daß ihre Insel außer ihnen selbst keine Bewohner habe, während die Fauna noch durch einige Wiederkäuer Vertretung fand, welche auf der Ebene umherschweiften.
Kapitän Servadac und seine Ordonnanz hatten zu dieser Reise um ihre Insel fünf der neuen Tage, in Wirklichkeit also zweiundeinhalb frühere Erdentagen gebraucht. Sechzig Stunden nach dem Aufbruch kehrten sie wieder zum Gourbi zurück.
»Und nun, Herr Kapitän?« begann Ben-Zouf.
»Nun, Ben Zouf?«
». . . sind Sie Generalgouverneur von Algier!«
»Von Algier ohne Einwohner!«
»Was? Werde ich denn gar nicht gezählt?«
»Gewiß, du bist also . . .«
»Die Bevölkerung, Herr Kapitän, die Einwohnerschaft.«
»Und mein Rondeau?« murmelte der Kapitän, als er sich niederlegte, »diese Mühe hätt' ich mir wohl auch ersparen können.«