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Der Graf: Hier meine Karte! Der Kapitän: Und hier die meine!
»Nein, Kapitän, es konveniert mir nicht, Ihnen den Platz zu räumen!«
»Bedaure, Herr Graf, Ihre Prätensionen werden aber die meinigen nicht verringern.«
»Gewiß nicht?«
»Gewiß nicht.«
»Ich mache Sie indessen darauf aufmerksam, daß der Zeit nach mir der Vorrang gebührt.«
»Und ich antworte Ihnen hierauf, daß die Anciennität allein keinerlei Recht begründen kann.«
»Ich werde Sie zu zwingen wissen, mir den Platz zu räumen.«
»Das glaube ich nicht, Herr Graf.«
»Ich denke, so ein Hieb mit dem Degen . . .«
»Nicht mehr, als ein Pistolenschuß . . .«
»Hier meine Karte!«
»Und hier die meine!«
Nach diesen Schlag auf Schlag hervorgestoßenen Worten wechselten die beiden Gegner ihre Karten.
Auf der einen las man:
Hector Servadac.
Kapitän im Generalstabe.
Auf der anderen:
Graf Wassili Timascheff.
An Bord der Goëlette Dobryna.
»Wo und wann treffen meine Sekundanten die Ihrigen?« fragte Graf Timascheff, bevor sich beide trennten.
»Heute um zwei Uhr, wenn es Ihnen beliebt, im Generalstabsamte«, erwiderte Hector Servadac.
»In Mostagenem?«
»Zu dienen.«
Nach diesen Worten grüßten sich Kapitän Servadac und Graf Timascheff kalt aber höflich.
Als sie schon im Fortgehen waren, machte Graf Timascheff noch eine Bemerkung.
»Kapitän«, sagte er, »ich glaube, es ist besser, über den wahren Grund unseres Renkontres zu schweigen.«
»Ganz meine Meinung«, antwortete Servadac.
»Es wird kein Name genannt!«
»Keiner.«
»Nun, aber der Vorwand?«
»Der Vorwand . . .? Nun, sagen wir eine musikalische Diskussion, wenn das Ihnen recht ist, Herr Graf.«
»Gewiß«, erwiderte Graf Timascheff; »ich habe z. B. Wagners Partei genommen, das entspräche ganz meinen Anschauungen.«
»Und ich die Rossinis, das harmonierte mit den meinigen«, entgegnete lächelnd Kapitän Servadac.
Nach diesen Worten grüßten sich der Stabsoffizier und Graf Timascheff noch einmal und gingen auseinander.
Die eben geschilderte, mit einer Herausforderung endende Szene spielte um die Mittagszeit am äußersten Ende eines kleinen Kaps der algerischen Küste zwischen Tenez und Mostagenem, etwa drei Kilometer von der Mündung des Cheliff. Jenes Kap erhob sich gegen zwanzig Meter aus dem Meere; an seinem Fuße erstarben die blauen Wellen des Mittelmeeres und leckten an den von Eisenoxyd geröteten Felsen des Ufers. Die Sonne, deren schräge Strahlen sonst an jedem vorspringenden Punkt der Küste sich flimmernd widerspiegelten, war jetzt hinter einem dichten Wolkenschleier verborgen. Ein undurchdringlicher Nebel lagerte über Land und Meer. Unerklärlicherweise hüllten diese Nebelmassen schon seit länger als zwei Monaten die ganze Erdkugel ein und legten der Kommunikation zwischen den verschiedenen Erdteilen recht empfindliche Hindernisse in den Weg. Indes, hiergegen war nichts zu tun.
Als Graf Wassili Timascheff den Stabsoffizier verließ, lenkte er seine Schritte nach einem Boote mit vier Ruderern, das ihn in einer der kleinen Buchten des Ufers erwartete. Sobald er darin Platz genommen, stieß das leichte Fahrzeug ab und legte an einer Goëlette an, welche in der Entfernung weniger Kabellängen verankert lag.
Kapitän Servadac rief durch einen kurzen Pfiff einen Soldaten herbei, der gegen zwanzig Schritte hinter ihm gewartet hatte. Schweigend führte der Soldat ein prächtiges arabisches Pferd heran. Der Kapitän sprang gewandt in den Sattel und wandte sich von seiner ebenso gut berittenen Ordonanz begleitet auf Mostagenem zu.
Es war Mittag, als die beiden Reiter den Cheliff auf der erst unlängst von den Genietruppen geschlagenen Brücke passierten, und genau 1¾ Uhr, als ihre schaumbedeckten Rosse durch das Tor von Maskara stürmten, eine der fünf Pforten, welche in der krenelierte Umfassungsmauer der Stadt angebracht sind.
Jenerzeit zählte Mostagenem ziemlich 15 000 Einwohner, darunter gegen 3000 Franzosen. Es bildete von jeher eine wichtige Arrondissements-Hauptstadt der Provinz Oran und war nicht minder von Bedeutung in militärischer Hinsicht. Hier fabrizierte man noch verschiedene Nahrungsmittel für das Ausland neben kostbaren Geweben, zierlichen Mattengeflechten und Artikeln aus Maroquin. Der Export nach Frankreich lieferte Getreide, Baumwolle, Wolle, Tiere, Feigen und Weintrauben. Zur Zeit, in der unsere Erzählung spielt, hätte man aber vergeblich den alten Ankerplatz gesucht, auf dem sich ehedem die Schiffe vor den gefährlichen West- und Nordwestwinden nicht zu halten vermochten. Mostagenem besaß jetzt einen wohlgeschützten Hafen, welcher der Verwertung der reichen Produkte der Mina und des unteren Cheliff ungemein förderlich war.
Dank diesem sicheren Zufluchtsorte konnte es die Goëlette Dobryna wagen, an einer Küste zu überwintern, welche sonst fast nirgends einen Schutz gewährte. Hier flatterte schon seit zwei Monaten an ihrer Gaffel die russische Flagge und am Top des Großmastes der Wimpel der Yacht Club de France mit dem unterscheidenden Zeichen: M. C. W. T.
Kapitän Servadac eilte, sobald er in die Stadt kam, nach dem Militärquartier von Matmore. Dort begegnete er einem Offizier vom 2. Tirailleur- und einem Kapitän vom 8. Artillerie-Regimente – zwei Kameraden, auf welche er sich verlassen konnte.
Mit großem Ernste vernahmen die beiden Offiziere das Verlangen Hector Servadacs, ihm bei dem bevorstehenden Ehrenhandel als Zeugen zu dienen; aber sie lächelten, als ihr Freund ihnen als wirkliche Ursache dieses Zweikampfes eine musikalische Diskussion angab, die zwischen ihm und Graf Timascheff stattgefunden habe.
»Vielleicht ließe sich das beilegen?« äußerte der Kommandant der Tirailleure.
»Das darf nicht einmal versucht werden«, entgegnete Hector Servadac schnell.
»Einige unwesentliche Zugeständnisse . . .« fuhr der Artillerie-Kapitän fort.
»Zwischen Wagner und Rossini ist keine Annäherung möglich«, erwiderte ernsthaft der Stabsoffizier. »Beide sind Originale. Übrigens ist Rossini in diesem Falle der Beleidigte. Dieser Narr, der Wagner, hat über Rossini verschiedene Albernheiten geschrieben; ich will Rossini rächen.«
»Im schlimmsten Falle«, meinte der Kommandant, »ist ein Degenhieb nicht allemal tödlich.«
»Vorzüglich, wenn man, wie ich, entschlossen ist, einen solchen gar nicht zu erhalten«, bestätigte Hector Servadac.
Nach dieser Antwort hatten die beiden Offiziere nichts anderes zu tun, als sich nach dem Generalstabsgebäude zu begeben, woselbst sie, genau um zwei Uhr, die Sekundanten Graf Timascheffs treffen sollten.
Es sei hier die Bemerkung eingeschoben, daß der Kommandant der Tirailleure und der Kapitän der Artillerie sich von ihrem Kameraden keineswegs hatten düpieren lassen. Doch, was war in Wirklichkeit der Grund, der ihm die Waffen in die Hand drückte? Sie ahnten ihn vielleicht, hatten aber nichts Besseres zu tun, als jenen Vorwand gelten zu lassen, den ihnen mitzuteilen dem Kapitän Servadac gefallen hatte.
Zwei Stunden später waren sie zurück, nachdem sie die Zeugen des Grafen getroffen und mit ihnen die Einzelheiten des Duells verabredet hatten. Graf Timascheff, Adjutant des Kaisers von Rußland, wie so viele Russen, welche sich im Auslande aufhalten, hatte sich für den Degen, die Waffe des Soldaten, entschieden. Beide Gegner sollten sich nächsten Tages, am 1. Januar morgens neun Uhr, an einer drei Kilometer von der Mündung des Cheliff entfernten Stelle treffen.
»Also morgen, mit soldatischer Pünktlichkeit«, versicherte Hector Servadac.
Kräftig drückten die beiden Offiziere die Hand ihres Freundes und begaben sich nach dem Café Zulma, um dort ihre gewohnte Partie Piquet zu spielen.
Kapitän Servadac dagegen drehte wieder um und verließ eiligst die Stadt.
Seit etwa vierzehn Tagen befand sich Hector Servadac nicht in seiner gewöhnlichen Wohnung in dem Waffenplatze. Betraut mit einer topographischen Aufnahme, hauste er jetzt in einem Gourbi (arabische Hütte) an der Küste von Mostagenem, etwa acht Kilometer vom Cheliff, wo ihm nur seine gewöhnliche Ordonnanz Gesellschaft leistete. Es war daselbst nicht gar zu reizend und jeder andere, als der Kapitän des Generalstabes, würde sein Exil auf diesem abscheulichen Posten mehr für eine Strafe angesehen haben.
Er machte sich also in der Richtung nach seinem Gourbi auf den Weg und quälte sich mit einigen Reimen ab, die er sich Mühe gab, in die etwas veraltete Form eines Rondeaus einzufügen. Dieses beabsichtigte Rondeau – es ist ja unnütz, es verheimlichen zu wollen – war für eine junge Witwe bestimmt, die er heimzuführen gedachte; jetzt suchte er ihr dichterisch zu beweisen, daß, wenn man in seiner Lage sei, eine der höchsten Achtung würdige Person zu lieben, dieses »auf die einfachste Weise von der Welt« geschehen müsse. Ob diese Aphorisme viel Wahrheit enthalte oder nicht, darüber grämte sich Kapitän Servadac nicht im mindesten; er reimte eben, um Verse zu machen.
»Ja, ja!« murmelte er, während die Ordonnanz schweigsam an seiner Seite dahintrottete, »ein tiefgefühltes Rondeau verfehlt nie seinen Zweck. Sie sind rar, diese Rondeaus, hier an der Küste Algiers, und das meinige wird deshalb hoffentlich eine desto bessere Aufnahme finden!«
Und der Dichter-Kapitän begann folgendermaßen:
Bei Gott! Wenn innig liebt der Mann,
ist es voll Einfachheit . . .
»Jawohl! Einfach, d. h. ehrlich, sowohl dem winkenden Ehebunde, als auch mir gegenüber, der so zu Ihnen spricht . . . Ja, zum Teufel, das reimt sich aber nicht! Die fatalen Reime auf ›an‹ sind doch recht unbequem. Eine sonderbare Idee, daß ich mein Rondeau gerade so anfangen mußte. He! Ben-Zouf!«
Ben-Zouf war die Ordonnanz des Kapitän Servadac.
»Herr Kapitän«, erwiderte Ben-Zouf.
»Hast du wohl manchmal Verse gemacht?«
»Nein, Herr Kapitän, aber ich habe welche machen sehen.«
»Von wem?«
»Nun, in der Bude einer Hellseherin, eines Abends, bei einem Feste auf dem Montmartre.«
»Und hast du sie wohl noch im Kopfe?«
»Gewiß, hören Sie, Herr Kapitän:
Herein! Das höchste Glück hier blüht,
es reut keinen, der's probiert.
Denn die ihr liebt, hier jeder sieht,
und die euch wieder liebt!«
»Mordio, deine Verse sind aber abscheulich!«
»Das kommt daher, weil ihnen die Begleitung einer Flöte fehlt, mein Kapitän! Sonst wären sie gewiß so gut wie viele andere.«
»Schweig still, Ben-Zouf!« rief Hector Servadac. »Schweig still. Jetzt finde ich eben den dritten und vierten Reim!«
Bei Gott! Wenn innig liebt der Mann
ist's voller Einfachheit . . .
Vertrau dich mehr der Liebe an,
als selbst dem Eid!
Weiter vermochte den Kapitän Servadac aber nicht die größte poetische Anstrengung vorwärts zu bringen, und als er gegen sechs Uhr seinen Gourbi erreichte, stand er noch immer bei seinem ersten Vierzeiler.