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In welchem Kapitän Servadac eine Reihe Fragen stellt, die ohne Antwort bleiben.
Hector Servadac war hinausgeeilt, so schnell er konnte, um den gewöhnlich zur Umschau dienenden Uferfelsen zu erreichen.
Ein Fahrzeug segelte in Sicht der Insel, das unterlag keinem Zweifel, nur trennten es noch mindestens zehn Kilometer von der Küste, so daß man bei der starken Konvexität der Erde, welche den Gesichtskreis beschränkte, jetzt nur die Spitze eines Mastes sehen konnte.
Obwohl der Rumpf des betreffenden Schiffes noch lange Zeit verborgen blieb, verriet doch der schon sichtbare Teil der Takelage, welcher Klasse von Fahrzeugen jenes angehörte. Offenbar war es nämlich eine Goëlette, und zwei Stunden nach Ben-Zoufs Meldung von ihrem Erscheinen wurde sie auch in allen Teilen sichtbar.
Unausgesetzt betrachtete Kapitän Servadac den Segler mit dem Fernrohre.
»Die Dobryna!« rief er aus.
»Die Dobryna?« wiederholte Ben-Zouf zweifelnd. »Das kann sie nicht sein, man sieht ja keinen Rauch.«
»Sie geht nur unter Segel«, versicherte Kapitän Servadac, »aber es ist und bleibt doch die Goëlette des Grafen Timascheff.«
Es war in der Tat die Dobryna, und wenn sich auch der Graf selbst an Bord befand, so führte ein überaus merkwürdiger Zufall die beiden Nebenbuhler wieder zusammen.
Selbstverständlich sah Kapitän Servadac in dem Manne, den die Goëlette jetzt nach der Insel trug, nur noch seinesgleichen und keinen Gegner mehr, ja, er gedachte jetzt mit keiner Silbe weder seines unterbrochenen Ehrenhandels mit dem Grafen, noch auch der Ursachen zu demselben. Alle Verhältnisse lagen ja so geändert, daß er das lebhafteste Verlangen fühlte, Graf Timascheff zu sehen und sich mit ihm über so viele außerordentliche Ereignisse auszusprechen. Während einer Abwesenheit von siebenundzwanzig Tagen hatte die Dobryna ja recht wohl die benachbarten Küsten Algeriens, vielleicht auch Spanien, Italien, Frankreich, überhaupt die Anländer des so plötzlich veränderten Mittelmeeres besuchen können, und folglich durfte man von ihr Nachrichten über alle jene Ländergebiete erwarten, von denen die Insel Gourbi jetzt abgeschnitten war. Hector Servadac hoffte also nicht nur Näheres über den Umfang der beispiellosen Katastrophe zu erfahren, sondern vielleicht auch deren Ursache kennenzulernen.
»Wo soll die Goëlette aber jetzt, wo die Cheliffmündung nicht mehr existiert, ans Land gehen?« fragte Ben-Zouf.
»Sie wird gar nicht anlegen«, antwortete der Kapitän. »Der Graf sendet gewiß nur ein Boot ans Ufer, um uns abzuholen.«
Die Dobryna näherte sich, wenn auch nur langsam, denn sie hatte Gegenwind und konnte nur durch ganz scharfes Segeln am Winde Fahrt machen. Es mochte auffallen, daß sie ihre Dampfkraft unbenutzt ließ, denn gewiß war man an Bord begierig zu erfahren, welche Insel sich da am Horizonte erhob. Möglicherweise fehlte es der Dobryna etwas an Brennmaterial und sie bediente sich nur ihres Segelwerkes, um jenes zu schonen. Zum Glück hielt sich die Witterung, trotz verdächtiger Streifen von Windwolken am Himmel, recht gut, die Brise günstig, das Meer verhältnismäßig ruhig, und so kam die Goëlette ohne widrigen Seegang ziemlich gut von der Stelle.
Hector Servadac zweifelte keinen Augenblick, daß die Dobryna die ihr auftauchende Küste nicht anzulaufen trachte. Graf Timascheff mußte sich für weit verschlagen halten; denn wo er den Anblick des afrikanischen Festlandes erwartete, traf er nur auf eine Insel. Konnte er nicht befürchten, an dieser ihm neuen Küste keinen passenden Platz zu finden, wo sein Schiff sicher ankerte? Vielleicht tat Kapitän Servadac wohl daran, einen Ankerplatz zu suchen und nach Auffindung eines solchen ihn der Goëlette, wenn sie zögern sollte, näher zu kommen, durch Signale zu bezeichnen.
Bald lag es außer Zweifel, daß die Dobryna auf die frühere Mündung des Cheliff zu hielt. Kapitän Servadacs Beschluß war nun schnell gefaßt. Zephir und Galette wurden gesattelt und flogen bald, mit ihren Reitern auf dem Rücken, nach dem Westende der Insel.
Zwanzig Minuten später stiegen der Stabsoffizier und seine Ordonnanz aus dem Bügel und untersuchten so weit als tunlich diesen Teil des Ufers.
Hector Servadac fand bald, daß sich hinter jener Landspitze, und von ihr geschützt, eine kleine Bucht ausbreitete, welche einem Schiffe von mittlerem Tonnengehalte recht gut als Hafen dienen konnte. Gegen die offene See schloß die kleine Wasserfläche eine Reihe großer Klippen ab, durch welche ein schmaler Kanal als Einfahrt diente. Auch bei schwerem Wetter mußte dieser Schlupfwinkel ziemlich ruhig bleiben. Wie erstaunte aber Hector Servadac, als er bei näherer Betrachtung der Uferfelsen an diesen die Spuren einer vorausgegangenen, durch lange Linien zurückgebliebener Varecbüschel bezeichneten Hochflut entdeckte.
»Was zum Teufel!« rief er, »jetzt hat also das Mittelmeer wirkliche Gezeiten?«
Ganz entschieden machte sich hier in der Tat das Steigen und Fallen des Wassers bemerkbar, und zwar in ganz beträchtlichem Maße – eine neue Sonderbarkeit neben den vielen anderen, denn bisher beobachtete man Ebbe und Flut im Mittelmeer nur in ganz geringen Andeutungen.
Dabei zeigte sich, daß die Fluthöhe, seit ihrem stärksten Ansteigen, welches ohne Zweifel auf die Nähe der enormen Scheibe in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar zurückzuführen war, sich immer weiter vermindert hatte und sich jetzt in den bescheidenen, vor Eintritt der Katastrophe gewöhnlichen Verhältnissen bewegte.
Kapitän Servadac hielt sich aber nicht lange mit dieser Erscheinung auf, sondern wandte seine ganze Aufmerksamkeit nur der Dobryna zu.
Die Goëlette befand sich jetzt nur zwei bis drei Kilometer vom Ufer. Die ihr geltenden Signale mußten an Bord bemerkt und verstanden werden. Wirklich änderte sie ein wenig ihren Kurs und zog die Obermarssegel ein. Bald trug sie nur noch die Groß- und einige Stag- und Klüversegel, um dem Steuer schneller nachzugeben. Endlich umschiffte sie die Spitze der Insel und drang, indem sie gegen den ihr vom Stabsoffizier bezeichneten Durchfahrtskanal manövrierte, kühn in denselben ein. Einige Minuten später griff der Anker in den sandigen Grund der Bucht, ein Boot ward flottgemacht und Graf Timascheff betrat das Ufer.
Kapitän Servadac eilte ihm entgegen.
»Herr Graf«, rief der Stabsoffizier, vor jeder anderen Auseinandersetzung, »was in aller Welt ist geschehen?«
Graf Timascheff, eine sehr kühle Natur, deren unbesiegbares Phlegma mit der quecksilbernen Lebhaftigkeit des Franzosen auffallend kontrastierte, verneigte sich ein wenig und antwortete mit dem allen Russen eigentümlichen Akzent:
»Herr Kapitän, erlauben Sie mir, Ihnen vor allem anderen zu bemerken, daß ich nicht die Ehre zu haben hoffte, Sie hier wiederzusehen. Ich verließ Sie auf einem Kontinente und finde Sie auf einer Insel . . .«
»Ohne daß ich von der Stelle gekommen bin.«
»Ich weiß es, Herr Kapitän, und bitte auch mein Ausbleiben von dem besprochenen Rendezvous zu entschuldigen, indes . . .«
»Oh, Herr Graf«, fiel ihm da Kapitän Servadac ins Wort, »davon können wir, wenn es Ihnen beliebt, später sprechen.«
»Ich stehe Ihnen stets zu Diensten.«
»So wie ich Ihnen. Jetzt lassen Sie mich nur die Frage wiederholen: Was, was ist geschehen?«
»Das wollte ich Sie fragen, Herr Kapitän.«
»Wie? Sie wüßten nichts?«
»Gar nichts!«
»Und vermögen mir also keine Auskunft zu geben, welches unerhörte Ereignis diesen Teil Afrikas in eine Insel verwandelte?«
»Leider vermag ich das nicht.«
»Noch wie weit sich die Wirkungen dieser Katastrophe erstreckten?«
»Davon weiß ich nicht mehr als Sie, Herr Kapitän.«
»Aber mindestens können Sie mir über den nördlichen Teil des Mittelländischen Meeres Aufschluß geben . . .«
»Ja, gibt es denn noch ein Mittelmeer?« unterbrach Graf Timascheff Kapitän Servadacs Erkundigungen.
»Das müssen Sie doch besser wissen als ich, Herr Graf, da Sie es ja eben befahren haben.«
»Ich habe es nicht befahren.«
»Sie hätten sich an keinem Punkte der Küste aufgehalten?«
»Nicht einen Tag, nicht eine Stunde lang, ja, ich habe überhaupt kein Land zu Gesicht bekommen.«
Stumm vor Erstaunen starrte der Stabsoffizier den Russen an.
»Aber mindestens, Herr Graf«, nahm er das Gespräch wieder auf, »beobachteten Sie doch, daß seit dem 1. Januar Osten und Westen vertauscht sind?«
»Ja.«
»Daß die Länge des Tages nur noch sechs Stunden beträgt?«
»So ist es.«
»Daß die Intensität der Schwere abgenommen hat?«
»Ganz recht.«
»Daß wir unseren Mond verloren?«
»Wie Sie sagen.«
»Daß wir beinahe auf die Venus gestoßen wären?«
»Einverstanden.«
»Und daß folglich die Bewegungen der Erde um sich selbst und um die Sonne eine Änderung erlitten haben?«
»Das steht unzweifelhaft fest.«
»Verzeihen Sie mein Erstaunen, Herr Graf«, fügte Kapitän Servadac hinzu. »Ich glaubte nicht, Ihnen etwas mitteilen zu müssen, sondern hoffte, viel Neues von Ihnen zu erfahren.«
»Ich weiß nichts weiter, Herr Kapitän, als daß meine Goëlette, als ich mich in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar auf dem Meere unterwegs zu unserem Stelldichein befand, von einer enormen Woge zu einer ganz unberechenbaren Höhe emporgeschleudert ward. Die Elemente dünkten mir durch irgendeine kosmische Erscheinung, deren Ursache jeder Erklärung spottet, direkt durcheinandergewürfelt. Seit diesem Augenblicke sind wir, der Unterstützung unserer etwas havarierten Maschine entbehrend, aufs Geratewohl und auf Gnade und Ungnade dem entsetzlichen Sturme überliefert, welcher einige Tage hindurch wütete, weitergesegelt. Ein Wunder ist es, daß die Dobryna nicht in Stücke ging, und der Wahrscheinlichkeit, daß sie sich bei jenem fürchterlichen Zyklone im Zentrum desselben befand, schreibe ich es zu, daß sie trotz alledem nicht so sehr weit verschlagen wurde. Land haben wir freilich nicht wieder gefunden, und Ihre Insel ist das erste, welches uns zu Gesicht kam.«
»Dann erscheint es aber geboten, Herr Graf«, bemerkte Kapitän Servadac, »wieder in See zu gehen, das Mittelmeer zu durchsegeln und nachzuforschen, wie weit sich die Verwüstungen jener Katastrophe erstrecken.«
»Das ist meine Absicht.«
»Werden Sie mir gestatten, mit an Bord zu gehen, Herr Graf?«
»Gewiß, Herr Kapitän, selbst zum Zwecke einer Weltumseglung, wenn es nötig wäre.«
»Oh, es handelt sich nur um eine Rundfahrt auf dem Mittelmeere.«
»Wer steht uns dafür ein«, versetzte kopfschüttelnd Graf Timascheff, »daß eine Fahrt um das Mittelmeer jetzt nicht gleichbedeutend mit einer Fahrt um die Erde ist?«
Kapitän Servadac wurde nachdenklich und gab keine Antwort.
Jedenfalls gab es keinen anderen Ausweg als den eben beschlossenen, nämlich das afrikanische Ufer ab- oder vielmehr aufzusuchen, in der Stadt Algier Nachrichten über den noch verbliebenen Rest der bewohnten Erde einzuholen, und, im Falle die ganze übrige Südküste des Mittelmeeres untergegangen wäre, sich nach Norden zu wenden und mit den anwohnenden Völkern Europas in Verbindung zu setzen.
Vor allem mußten die Havarien an der Maschine der Dobryna ausgebessert werden. Im Innern des Kessels waren mehrere Flammenrohre gesprungen, durch welche das Wasser einen Weg nach dem Feuerroste fand, so daß man jenen vor Ausführung dieser Reparaturen absolut nicht heizen konnte. Nur unter Segeln zu gehen, das erschien einesteils zu langsam und anderenteils schwierig, wenn das Meer zu unruhig und der Wind konträr werden sollte. Da nun die auf einem Stapelplatze der Levante verproviantierte Dobryna noch für zwei Monate Kohlen in ihren Behältern führte, so empfahl es sich, lieber unter Benutzung dieses Materials schnell zu reisen, selbst auf die Gefahr hin, sich im ersten besten Hafen wieder nach Ersatz umsehen zu müssen.
Nach dieser Seite war man sehr bald einig.
Auch die Havarien konnten glücklicherweise schnell ausgebessert werden. Unter den Vorräten der Goëlette befand sich eine Anzahl Reserverohre, welche anstelle der nun unbrauchbaren eingesetzt wurden. Drei Tage nach der Ankunft an der Insel Gourbi war der Kessel der Dobryna wieder im Stande, Dampf zu halten.
Während seines Aufenthaltes auf der Insel berichtete Hector Servadac dem Grafen Timascheff alles, was er bezüglich seines engbegrenzten Gebietes wahrgenommen hatte. Beide streiften zu Pferde noch einmal längs der neuen Ufer hin und glaubten sich nach dieser Besichtigung berechtigt, die Veranlassung zu allen jenen Vorkommnissen außerhalb dieses Teiles Afrikas zu suchen.
Am 31. Januar war die Goëlette zur Abfahrt bereit. In der Sonnenwelt schien keine neuere Veränderung eingetreten zu sein. Die Thermometer verkündeten allerdings eine geringe Erniedrigung der Temperatur, welche sich einen Monat über außerordentlich hoch gehalten hatte. Sollte man daraus schließen, daß die Bewegung der Erde um die Sonne in einer neuen Kurve vor sich gehe? Vor Ablauf einiger Tage ließ sich hierüber nichts Bestimmtes sagen.
Die Witterung blieb beständig schön, obwohl sich einige Dünste in der Luft ansammelten und die Barometersäule etwas herabsank. Das war aber kein durchschlagender Grund, die Abreise der Dobryna zu verzögern.
Nun bestand bloß noch die Frage, ob Ben-Zouf seinen Kapitän begleiten solle oder nicht. Neben manchen anderen zwang ihn besonders ein Grund, auf der Insel zurückzubleiben. Man konnte nämlich die beiden Pferde auf der hierzu nicht eingerichteten Goëlette unmöglich mit einschiffen, und Ben-Zouf hätte sich niemals von Zephir und Galette – vorzüglich von der letzteren – trennen können. Die notwendige Überwachung des neuen Landes, die Möglichkeit, daß hier auch andere Fremde landen könnten, die Sorge für einen Teil der Herden, welche man sich nicht ganz selbst überlassen konnte, da sie im Notfall die einzige Hilfsquelle der überlebenden Inselbewohner bildeten usw. – Alles das gab den Ausschlag, die Ordonnanz zurückzulassen, so daß sich Kapitän Servadac, wenn auch ungern, endlich der Notwendigkeit fügte. Eine Gefahr brachte das Verlassenbleiben auf der Insel für den wackeren Burschen ja nicht mit sich. Nach Einsichtnahme von dem neuen Zustande der Dinge wollten alle zurückkehren und im günstigen Falle Ben-Zouf abholen und heimführen.
Am 31. Januar nahm Ben-Zouf, etwas bewegt, wie es der Anstand erfordert, und »bekleidet mit allen Machtvollkommenheiten des Gouverneurs« von Kapitän Servadac Abschied. Er legte diesem noch ans Herz, für den Fall, daß er bis zum Montmartre kommen sollte, sich ja zu überzeugen, ob dieser etwa auch durch irgendein kosmisches Ereignis von seiner Stelle gerückt sei – und bald schwamm die Dobryna, welche mit Hilfe ihrer Schraube die kleine Bucht verließ, lustig auf dem offenen, weiten Meere.