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Kapitän Servadac entdeckt ein von der Katastrophe verschontes Eiland – freilich nur ein Grab.
Es unterlag keinem weiteren Zweifel, daß ein sehr großer Teil der Kolonie Afrika untergegangen war. Offenbar handelte es sich hier um mehr als das bloße Verschwinden einiger Landstrecken unter dem Wasser. Es schien vielmehr, als hätten sich die gierig geöffneten Eingeweide der Erde über einem ganzen Lande wieder geschlossen. In der Tat waren ja die ganzen Felsenrücken der Provinz spurlos verschwunden und ein neuer, aus unbekannten Substanzen bestehender Boden vertrat jetzt die Stelle des früheren sandigen Grundes, auf dem das Meer sonst ruhte.
Die Ursache dieser unerhört entsetzlichen Zerstörung entging auch jetzt noch den Fahrgästen der Dobryna. Jetzt galt es diesen nur, die letzte Grenze jener Verwüstung aufzufinden.
Nach reiflicher Überlegung kam man dahin überein, mit der Goëlette weiter nach Osten, längs der Linie zu segeln, welche früher die Küste des afrikanischen Festlandes an dem jetzt scheinbar unbegrenzten Meere bildete. Die Fahrt bot keine besonderen Schwierigkeiten, und so benutzte man gern die Chancen der jetzt so freundlichen Witterung und des günstigen Windes.
Aber auch während dieser Reise längs der Küste vom Cap Matifou bis zur Grenze von Tunis fand man durchaus keinen Überrest von früher, weder die amphitheatralisch angelegte Seestadt Dellys, noch am Horizonte eine Andeutung der Jura-Kette, trotzdem deren höchster Gipfel bis auf zweitausenddreihundert Meter anstieg; weder die Stadt Bougie, noch die steilen Abhänge des Gouraya, den Berg Adrar, Didjela, die Berge Kleinkabyliens, den Triton der Alten, jene Gruppe von sieben Landvorsprüngen mit einer Erhebung bis zu elfhundert Meter; weder Collo, den alten Hafen von Konstantine, noch Stora, den neuen Hafen von Philippeville, noch auch Bona, das über seinem Golfe von vierzig Kilometer Öffnung thronte. Man sah nichts mehr, weder vom Cap de Garde, noch vom Cap Rose, weder von dem First der Berge von Edough, noch von den sandigen Dünen der Küste, weder von Mafrag, noch von dem durch die ausgedehnte Industrie seiner Korallenarbeiter berühmten Calle, und wurde eine Sonde auch zum hundertsten Male auf den Grund hinabgesenkt, nie, niemals brachte sie ein Exemplar der prächtigen Wassertiere des Mittelmeeres mit empor.
Graf Timascheff beschloß nun, der Linie zu folgen, welche sich vordem von der tunesischen Küste nach dem Cap Blanc, d. h. nach dem nördlichsten Punkte Afrikas hinzog. An dieser engsten Stelle des Meeres zwischen dem afrikanischen Festlande und Sizilien konnte jenes vielleicht einige bemerkenswerte Erscheinungen bieten.
Die Dobryna hielt sich also in der Richtung des siebenunddreißigsten Breitengrades und passierte am 7. Februar den siebenundzwanzigsten Grad östlicher Länge.
Der Grund aber, welcher Graf Timascheff in Übereinstimmung mit Kapitän Servadac und Leutnant Prokop zur Einhaltung dieser Linie bestimmte, lag in folgendem:
Zu eben jener Zeit war – nachdem man diese Unternehmung schon längere Jahre fast aufgegeben hatte – infolge französischen Einflusses das Meer der Sahara geschaffen worden. Dieses großartige Werk, eigentlich nur eine Zurückerstattung des ausgedehnten Bassins des Tritonsees, das einst das Schiff der Argonauten trug, hatte die klimatischen Verhältnisse der Umgebung sehr günstig verändert und den Verkehr zwischen Sudan und Europa in die Hände Frankreichs gegeben.
Welchen Einfluß hatte nun die Wiederauferstehung dieses alten Meeres auf den jetzigen Zustand der Dinge geäußert? Das sollte zunächst in Erfahrung gebracht werden.
In die Höhe des Golfes von Gabes, auf dem vierunddreißigsten Grade der Breite, ließ jetzt ein breiter Kanal die Fluten des Mittelmeeres in die tiefe Bodendepression der Bezirke von Kebir, Garsa u. a. m. einströmen. Die zwanzig Kilometer nördlich von Gabes und genau an der Stelle gelegene Landenge, nach der hin eine Bai des Tritonsees der alten Welt sich bis nahe an das Meer erstreckte, war durchstochen worden, und die Wasser wälzten sich nun in ihr früheres Bett, aus dem sie vor Zeiten aus Mangel eines hinreichenden Zuflusses unter der glühenden Sonne Libyens durch Verdunstung entwichen waren.
Konnte nicht an der Stelle dieses Durchstiches gerade der Bruch stattgefunden haben, dem man das Verschwinden eines beträchtlichen Teiles Afrikas zuschreiben mußte?
Durfte man nicht glauben, die Dobryna werde etwa nach Überschreitung des vierunddreißigsten Parallelkreises die Küste von Tripolis wiederfinden, welche der Weiterausbreitung der Zerstörung widerstanden haben mochte?
»Wenn wir an diesem Punkte«, bemerkte Leutnant Prokop sehr richtig, »nach Süden hin immer noch ein unbegrenztes Meer antreffen, so bleibt uns dann nichts übrig, als nach Europa zurückzukehren und uns dort die Lösung des Rätsels zu holen, welches hier unlösbar erscheint.«
Ohne jede Rücksicht auf Kohlenersparnis setzte die Dobryna unter Dampf ihren Weg nach Kap Blanc zu fort, ohne die zwischenliegenden Kap Nero und Kap Serrat zu Gesicht zu bekommen. Auf der Höhe von Bizerta, einer reizenden Stadt von völlig orientalischem Charakter, sah sie weder den lieblichen See, der sich jenseits der engeren Hafeneinfahrt ausbreitet, noch ihre von prächtigen Palmen beschatteten Marabouts. Die Sonne wies unter dem auch hier sehr durchsichtigen Wasser unverändert den flachen, leeren Meeresboden nach, der allüberall die Wassermassen des Mittelmeeres trug.
Um das Kap Blanc, oder richtiger um die Stelle, wo sich jenes vor fünf Wochen noch befand, fuhr man am 7. Februar. Die Goëlette durchschnitt also jetzt das Wasser, welches etwa der Bai von Tunis entsprach. Von dem ganzen prächtigen Golf war aber keine Spur mehr vorhanden, ebensowenig weder von der amphitheatralisch gebauten Stadt, noch von dem Fort des Arsenals, weder von dem benachbarten la Goulette, noch von den beiden Bergspitzen des Bou-Kournein. Auch das Kap Bon, diese nach Sizilien am weitesten vorgeschobene Spitze Afrikas, erschien samt dem Festlande in den Eingeweiden der Erde verschwunden.
Vor all diesen so außerordentlichen Ereignissen stieg der Grund des Mittelmeeres hier in einer sehr steilen Böschung zu einem langen, schmalen Satteldache an. Die Erde erhob sich gleichsam zu einem Rückgrate, welches sich in die libysche Meerenge hinaufdrängte und über dem durchschnittlich nur siebzehn Meter Wasser standen. Vielleicht verband dieser Strang vor Zeiten sogar das Kap Bon mit dem am weitesten vorspringenden Kap Furina auf der Insel Sizilien, ein ähnliches Verhältnis, wie man es zweifellos für Ceuta und Gibraltar nachgewiesen hat.
Leutnant Prokop, ein Seemann, der das Mittelmeer bis in alle Einzelheiten kannte, war natürlich auch hiervon unterrichtet. Es gab das übrigens Gelegenheit, zu prüfen, ob der Boden des Mittelmeeres zwischen Afrika und Sizilien neuerdings eine Veränderung erlitten hätte, oder ob jener unterseeische Bergkamm der libyschen Enge noch jetzt existierte.
Graf Timascheff, Kapitän Servadac und der Leutnant wohnten alle drei den vorzunehmenden Sondierungen bei. Ein auf den Rüsten des Focksegels sitzender Matrose senkte das Bleigewicht in die Tiefe.
»Wieviel Faden?« fragte Leutnant Prokop.
»Fünf«, antwortete der Matrose.
»Und die Oberfläche des Bodens?«
»Ganz eben.«
Jetzt sollte die Größe der Bodensenkung zu beiden Seiten des submarinen Kammes bestimmt werden. Die Dobryna dampfte langsam, je eine halbe Meile nach rechts und nach links von der ersten Stelle, um daselbst Sondierungen auszuführen.
Immer und überall fünf Faden! Ein unveränderlich ebener Grund! Die Bergkette zwischen Kap Bon und Kap Furina existierte nicht mehr. Es lag auf der Hand, daß die stattgefundene Umwälzung eine durchgehende Nivellierung des Mittelmeergrundes hervorgebracht hatte. Dabei bestand der letztere immer wieder aus jenem metallischen Staube von unbekannter Art. Nirgends fanden sich Schwämme, Meerasseln, Haarsterne, Quallen, Wasserpflanzen oder Muscheln, welche sonst in Menge die unterseeischen Felsen bedecken.
Die Dobryna drehte nach Süden bei und setzte ihre Entdeckungsreise weiter fort.
Unter den Eigentümlichkeiten dieser Seefahrt verdient auch der Umstand Erwähnung, daß das Meer sich vollständig verlassen erwies. Kein einziges Fahrzeug kam zu Gesicht, das die Goëlette um aufklärende Nachrichten hätte ansprechen können. Die Dobryna schien allein durch diese Wasserwüste zu segeln, und es fragte sich im Gefühle der trostlosen Isolierung jeder, ob die Goëlette jetzt nicht vielleicht der einzige bewohnte Punkt des Erdenrundes sein möge, eine neue Arche Noah, welche die letzten Überlebenden nach der entsetzlichen Katastrophe, die einzigen atmenden Wesen der Erde trug!
Am 9. Februar segelte die Dobryna genau über der Stadt Didon, dem alten Byrsa, welche jetzt noch gründlicher zerstört war, als seinerzeit das punische Karthago durch Scipio und das römische durch den Gassaniden Hassan.
Als an diesem Abend die Sonne am östlichen Horizonte unterging, stand Kapitän Servadac in Gedanken versunken, gelehnt an das Hackbord der Goëlette. Sein Blick irrte über den Himmel, wo einzelne Sterne durch einen leichten Dunstschleier schimmerten, und über das Meer, dessen Wogen sich mit der einschlafenden Brise glätteten.
Da, als er sich zufällig längs des Schiffes nach dem südlichen Horizonte wandte, empfand sein Auge eine Art schwachen Lichteindruckes. Erst glaubte er das nur von einer optischen Täuschung herleiten zu sollen und sah deshalb noch einmal aufmerksamer nach der betreffenden Stelle.
Wirklich flimmerte da ein entferntes Licht, das auch ein hinzugerufener Matrose deutlich erkannte.
Sofort erhielten Graf Timascheff und Leutnant Prokop Nachricht von dieser Entdeckung.
»Ist das ein Land? . . .« fragte Kapitän Servadac.
»Sollten es nicht vielmehr die Nachtlaternen eines Schiffes sein?« meinte Graf Timascheff.
»Binnen einer Stunde werden wir ja wissen, woran wir sind!« rief Kapitän Servadac.
»Kapitän, das werden wir erst morgen erfahren«, erklärte Leutnant Prokop.
»Du steuerst also nicht auf das Licht zu?« fragte ihn verwundert der Graf.
»Nein, Vater, ich denke vielmehr gegenzubrassen und den Tag abzuwarten. Wenn sich dort eine Küste befände, wage ich nicht, auf dem unbekannten Wasser zu fahren.«
Der Graf machte ein Zeichen der Zustimmung, die Dobryna braßte, um auf der Stelle zu bleiben, und ruhig sank die Nacht über das weite Meer.
Eine Nacht von sechs Stunden währt zwar nicht lange, und doch schien diese eine Ewigkeit anzudauern. Aus Furcht, der schwache Lichtschein möchte verschwinden, verließ Kapitän Servadac das Verdeck lieber gar nicht. Aber jenes glänzte ruhig weiter, etwa wie ein Leuchtfeuer zweiter Klasse in der größten Gesichtsweite.
»Und immer an derselben Stelle«, bemerkte Leutnant Prokop. »Daraus ist mit größter Wahrscheinlichkeit zu schließen, daß wir ein Land vor uns haben und nicht ein Schiff.«
Mit Tagesanbruch richteten sich alle an Bord vorhandenen Fernrohre nach der Stelle, an der in vergangener Nacht der Lichtschein flimmerte. Der letztere erbleichte mit dem helleren Tage, an seiner Stelle aber erschien, etwa sechs Meilen von der Dobryna, ein eigentümlich geformter Felsen, den man wohl für ein verlorenes Eiland mitten in dem wüsten Meere ansehen konnte.
»Das ist nur ein Felsen«, behauptete Graf Timascheff, »oder vielmehr der Gipfel eines untergegangenen Berges.«
Immerhin schien es wichtig, diesen Felsen näher zu untersuchen, denn er bildete ein gefährliches Riff, vor dem in Zukunft sich zu hüten die Schiffe alle Ursache hatten. Man hielt also auf das bezeichnete Eiland zu und drei Viertelstunden später befand sich die Dobryna nur noch zwei Kabellängen davon entfernt.
Das Eiland bestand aus einem nackten, dürren und steilen Hügel, der sich kaum vierzig Fuß über das Wasser erhob. Keinerlei Felsengeröll lag in der Umgebung, was den Glauben erregte, daß derselbe sich unter dem Einfluß jenes unerklärten Phänomens langsam gesenkt haben müsse, bis er einen neuen Stützpunkt fand, der ihn in der jetzigen Höhe über dem Wasser hielt.
»Doch auf dem Eiland befindet sich eine Wohnstätte!« rief Kapitän Servadac, der mit dem Fernrohr vor den Augen jeden Punkt desselben musterte. »Vielleicht auch noch ein Lebender . . .«
Diese Hypothese des Kapitäns begleitete Leutnant Prokop mit einem sehr bezeichnenden Kopfschütteln. Das Eiland schien vollkommen öde zu sein und auch ein Kanonenschuß von der Goëlette lockte keinen Bewohner desselben an das Ufer.
Freilich erhob sich am höchsten Punkte des Eilandes eine Art Steingemäuer, das einige Ähnlichkeit mit einem arabischen Marabout zeigte.
Das große Boot der Dobryna wurde flottgemacht. Graf Timascheff, Kapitän Servadac nebst Leutnant Prokop nahmen darin Platz und vier kräftige Matrosen handhabten die Ruder.
Bald darauf betraten die Männer das Land und kletterten ohne langes Besinnen den steilen Abhang hinauf nach dem Marabout.
Dort wurden sie zuerst durch eine Umfassungsmauer aufgehalten, welche mit antikem Schmuckwerk, wie Vasen, Säulen, Statuen und kleinen Monolithen, aber ohne alle Ordnung und jeden kunsthistorischen Wert, besetzt war.
Graf Timascheff umschritt mit seinen zwei Begleitern diese Mauer und gelangte an eine enge, geöffnete Pforte, durch welche alle eintraten.
Eine zweite, ebenfalls offene Tür, vermittelte den Zugang nach dem Innern des Marabout. Auch hier waren die Mauern mit arabischen, aber wertlosen Skulpturen bedeckt.
In der Mitte des einzigen Räumen dieses Marabout erhob sich ein sehr einfaches Grab. Darüber hing eine ungeheure silberne Lampe mit einem noch vorhandenen Ölvorrat von mehreren Litern und sehr langem, auch jetzt brennendem Dochte.
Das Licht von dieser Lampe war es, das im Laufe der letzten Nacht Kapitän Servadacs Auge getroffen hatte.
Der Marabout erwies sich unbewohnt. Sein Wächter wenn er überhaupt einen solchen gehabt – mochte im Augenblick der Katastrophe entflohen sein. Seitdem diente er einigen Seeraben als Zuflucht, welche beim Eintritt der Männer in raschem Fluge nach Süden zu entflohen.
In einem Winkel des Grabes lag ein altes Gebetbuch. Dieses in französischer Sprache gedruckte Buch war für den Gottesdienst zum Gedenktage am 25. August aufgeschlagen.
In Kapitän Servadacs Kopfe stieg plötzlich ein Gedanke auf.
Der Punkt des Mittelmeeres, den das Eiland einnahm, das jetzt mitten im offenen Meere isolierte Grabmal, die in dem Buche aufgeschlagene Seite, alles wies ihn darauf hin, an welcher Stelle er sich mit seinen Begleitern befand.
»Das Grab des heiligen Ludwig, meine Herren«, sagte er.
In der Tat verstarb hier einst jener König von Frankreich. Seit mehr als sechs Jahrhunderten ehrte dasselbe der fromme Sinn vieler Franzosen.
Kapitän Servadac verneigte sich vor der geheiligten Stätte, und seine beiden Begleiter ahmten ihn andächtig nach.
Die hier über dem Grabe eines Heiligen brennende Lampe war jetzt vielleicht der einzige Leuchtturm, der über dem ganzen Mittelmeere glänzte, und wie bald sollte auch dieser verlöschen.
Die drei Männer verließen den Marabout und den öden Felsen. Das Boot führte sie an Bord zurück, und nach Süden steuernd verlor die Dobryna bald das Grab Ludwig IX. aus den Augen, den einzigen Punkt der Provinz Tunis, den die unerklärliche Katastrophe verschont zu haben schien.