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Welches von dem Empfange des Generalgouverneurs der Insel Gourbi und den Vorkommnissen während seiner Abwesenheit handelt.
Die Goëlette hatte die Insel am 31. Januar verlassen und kehrte zu ihr zurück am 5. März, nach einer Reise von fünfunddreißig Tagen – da das Erdenjahr ein Schaltjahr war. Diese fünfunddreißig Tage entsprachen siebzig Gallia-Tagen, weil die Sonne während jenes Zeitraumes den Meridian der Insel ebenso viele Male passierte.
Hector Servadac fühlte sich innerlich erregt, als er sich diesem letzten, von der allgemeinen Zerstörung verschonten Restchen des algerischen Bodens näherte. Wiederholt hatte er sich während dieser langen Abwesenheit gefragt, ob er es wohl noch an derselben Stelle samt dem treuen Ben-Zouf wiederfinden werde. Diese Zweifel erschienen nicht ungereimt, wenn man bedenkt, welch eingreifende Veränderung die Oberfläche der Gallia durch jene unerhörten kosmischen Prozesse erlitten hatte.
Die Befürchtungen des Stabsoffiziers sollten sich zum Glück aber nicht erfüllen. Die Insel Gourbi war vorhanden; ja – welch eigentümliche Erscheinung – noch vor der Ankunft im Hafen des Cheliff vermochte Hector Servadac eine sonderbare Wolke wahrzunehmen, welche nur etwa hundert Fuß über dem Boden seines Gebietes schwebte. Als die Goëlette nur noch wenige Kabellängen von der Küste entfernt war, zeigte sich die erwähnte Wolke als eine sehr dichte Masse, welche automatisch in der Atmosphäre auf- und niederwogte. Kapitän Servadac erkannte auch sehr bald, daß es sich hier nicht um eine Anhäufung zur Bläschenform kondensierter Dunstmassen, sondern um eine ungeheure Schar von Vögeln handelte, welche sich, ähnlich den Heringszügen im Meere, dicht aneinander gedrängt hielten. Aus der Mitte dieser weit hingestreckten Wolke tönte ein betäubendes Geschrei, dem von unten her häufige Flintenschüsse antworteten.
Die Dobryna signalisierte ihre Ankunft durch einen Kanonenschuß und ging in dem kleinen Hafen des Cheliff vor Anker.
In diesem Augenblick lief ein Mann mit dem Gewehre in der Hand herbei und sprang auf die Felsen am Ufer.
Es war Ben-Zouf.
Erst blieb er unbeweglich, die Augen auf fünfzehn Schritt Entfernung fixiert, »soweit das die Organisation des Körpers zuläßt«, wie die Instruktions-Unteroffiziere sagen, mit aller gebührenden Ehrerbietung stehen. Der brave Soldat vermochte sich aber doch nicht ganz zu bezwingen, sondern eilte seinem Kapitän, der eben das Land betrat, entgegen und küßte ihm zärtlich die Hände.
Statt der sonst gewöhnlichen Bewillkommnungen, wie: »Welch Glück, Sie wiederzusehen! – Ich wurde schon recht unruhig!« oder: »Oh, wie lange blieben Sie weg!« u. dergl. rief Ben-Zouf vielmehr:
»Oh, diese Schurken! Diese Banditen! Oh, das ist gut, daß Sie kommen, mein Kapitän! Diese Diebe! Diese Piraten! Diese elenden Beduinen!«
»Aber was ist dir denn, Ben-Zouf?« fragte Hector Servadac, den diese grimmigen Ausrufe zu dem Glauben verleiteten, es sei eine Bande Araber in sein Gebiet eingebrochen.
»Nun, diese Satansvögel da oben!« antwortete Ben-Zouf. »Seit einem Monat schon verschwende ich mein Pulver gegen diese Räuber. Je mehr ich davon totschieße, desto mehr kommen wieder. Ich sage Ihnen, wenn wir diese geschnäbelten und gefiederten Kabylen gewähren ließen, bald fänden wir kein Getreidekörnchen mehr auf der Insel!«
Graf Timascheff und Leutnant Prokop, welche ebenfalls herzukamen, konnten mit Kapitän Servadac bestätigen, daß Ben-Zouf keineswegs übertrieb. Die reiche, während der großen Hitze im Januar, als die Gallia durch ihr Perihel ging, schnell gereifte Ernte wurde jetzt vielen Tausenden von Vögeln zur Beute. Nur ein kleines Überbleibsel derselben war dem gefräßigen Geflügel entgangen. Eigentlich sollte man freilich sagen, ein Überbleibsel dessen, was von der Ernte noch auf dem Halme stand, denn Ben-Zouf hatte während der Abwesenheit der Dobryna nicht gefeiert, wofür die zahlreichen Getreidefeime zeugten, welche da und dort auf den schon kahlen Feldern standen.
Die Schar von Vögeln, welche den Zorn des Kapitänsburschen so hell auflodern machte, bestand aus allen denen, die die Gallia bei ihrer Losreißung von der Erde zufällig entführte. Natürlich hatten jene auf der Insel Gourbi Zuflucht gesucht, wo sie allein Felder, Wiesen und Süßwasser fanden – ein Beweis, daß kein anderer Teil des Asteroides ihnen Nahrung zu liefern vermochte. Freilich suchten sie jetzt auf Kosten der Inselbewohner zu leben, ein Unterfangen, dem man mit allen erdenklichen Mitteln entgegentreten mußte.
»Wir werden ihnen die Wege weisen«, sagte Hector Servadac.
»Das hoffe ich, mein Kapitän«, erwiderte Ben-Zouf. »Doch sagen Sie mir, was ist aus unseren afrikanischen Kameraden geworden?«
»Unsere afrikanischen Kameraden sind noch immer in Afrika«, antwortete Hector Servadac.
»Die wackeren Soldaten!«
»Gewiß; nur Afrika ist leider nicht mehr vorhanden«, fügte Kapitän Servadac hinzu.
»Kein Afrika mehr! – Aber Frankreich? . . .«
»Frankreich! Oh, das liegt jetzt weit von uns, Ben-Zouf.«
»Und mein Montmartre?«
Diese Frage lag ihm vorzüglich am Herzen. Mit kurzen Worten erklärte Kapitän Servadac seiner Ordonnanz, was geschehen sei, und daß der Montmartre und mit ihm Paris, mit Paris aber ganz Frankreich, mit diesem Europa und mit Europa überhaupt die ganze Erdkugel jetzt achtzig Millionen Lieues von der Gallia entfernt lägen, die Hoffnung auf eine Rückkehr dahin also nahezu aufzugeben sei.
»Ei was da!« rief die Ordonnanz. »Das wäre noch schöner! Laurent, genannt Ben-Zouf, vom Montmartre, und sollte den Montmartre nicht wiedersehen! Dummheiten, mein Kapitän, bei aller Hochachtung für Sie, das sind Dummheiten!«
Dazu schüttelte Ben-Zouf mit dem Kopfe, wie ein Mann, den keine Macht der Erde eines anderen zu belehren im Stande wäre.
»Recht so«, erwiderte ihm Kapitän Servadac. »Hoffe du, soviel es dir beliebt. Man soll niemals verzweifeln! Das ist offenbar auch der Wahlspruch unseres anonymen Korrespondenten. Doch denken wir nun auch daran, uns auf der Insel Gourbi häuslich einzurichten, als sollten wir für immer hierbleiben.«
So im Gespräche hatte sich Hector Servadac, der dem Grafen Timascheff und dem Leutnant Prokop vorausging, nach dem durch Ben-Zoufs Sorgfalt wieder in Stand gesetzten Gourbi begeben. Auch das Wachthaus war wieder hergestellt und Galette und Zephir mit reichlicher Streu versorgt. Hier in dieser bescheidenen Hütte bot Hector Servadac seinen Gästen Unterkommen an, ebenso wie der kleinen, von ihrer Ziege begleiteten Nina. Unterwegs noch ergötzte sich Ben-Zouf an zwei herzhaften Küssen Ninas und Marzys, welche ihm diese beiden zutraulichen Wesen aus gutem Herzen gegeben hatten.
Nun wurde im Gourbi sofort eine Beratung abgehalten, was wohl zunächst vorzunehmen sei.
Als brennendste Frage trat dabei vor allen die nach der zukünftigen Wohnung hervor. Wie sollte man sich auf der Insel einrichten, um der furchtbaren Kälte zu trotzen, welche die Gallia auf ihrer interplanetarischen Fahrt jedenfalls heimsuchen würde, und deren Dauer man gar nicht abzuschätzen wußte? Diese Zeitdauer hing offenbar von der Exzentrizität der von dem Asteroiden durchlaufenen Bahn ab, und es konnten vielleicht viele Jahre vergehen, bevor dieser wieder in seine Sonnennähe zurückkehrte. Dazu besaß man keineswegs reichliche Vorräte an Heizmaterial, Kohle z. B. gab es gar nicht, Bäume nur wenige, wohl aber die betrübende Aussicht, daß während der Periode der gewiß exzessiven Kälte gar nichts wachsen werde. Was war zu tun? Wie konnte man sich vor diesem drohenden Verhängnis am besten schützen? Ein Ausweg mußte, und zwar in kürzester Frist, gefunden werden.
Die Ernährungsfrage der Kolonie bot weniger unmittelbare Schwierigkeiten; auch bezüglich des notwendigen Getränkes war gewiß nichts zu fürchten. Über die Ebene rannen ja mehrere Bäche, deren Wasser verschiedene Zisternen füllte. Durch andauernde Kälte mußte auch das Meer der Gallia gefrieren und trinkbares Wasser in Überfluß liefern, da Eis ja bekanntlich kein Körnchen Salz mehr enthält.
Die Nahrung im strengsten Sinne des Wortes, d. h. ein Vorrat an den zur Erhaltung des Lebens notwendigen stickstoffhaltigen Materialien war für lange Zeit gesichert. Einesteils lieferten die Cerealien, welche nur der Einbringung harrten, andererseits die auf der Insel zerstreuten Herden einen hinreichenden Vorrat. Während der Kälteperiode mußte das Land natürlich unfruchtbar bleiben und konnte an eine weitere Futterernte zur Ernährung der Haustiere nicht gedacht werden. Dieser Umstand nötigte zu gewissen Maßregeln, und wenn es gelang, die Dauer des Umlaufs der Gallia um das Zentrum der Attraktion zu berechnen, so wollte man danach die Zahl der während der Winterperiode zu haltenden Tiere berechnen.
Die eigentliche Bevölkerung der Gallia aber bestand, abgesehen von den dreizehn Engländern in Gibraltar, aus acht Russen, zwei Franzosen und einer kleinen Italienerin. Elf Bewohner hatte die Insel Gourbi also zu ernähren.
Nach Feststellung dieser Zahl durch Hector Servadac ließ sich aber plötzlich Ben-Zouf noch vernehmen.
»Nein, mein Kapitän«, rief er, »es tut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen. Ihre Rechnung stimmt noch nicht.«
»Wieso?«
»Ich muß Ihnen melden, daß wir dreiundzwanzig Einwohner sind!«
»Hier auf der Insel?«
»Jawohl.«
»Erkläre dich näher, Ben-Zouf.«
»Bis jetzt fand ich noch keine Gelegenheit, meinen Rapport abzustatten. Während Ihrer Abwesenheit hab' ich Tischgäste bekommen.«
»Tischgäste?«
»Freilich . . . Doch, zur Sache«, fuhr Ben-Zouf fort. »Sehen Sie sich einmal um, und auch Sie, meine Herren Russen. Die Erntearbeiten sind gewiß schon weit vorgeschritten und dazu hätten doch meine zwei Arme beim besten Willen nicht genügt.«
»Das sehe ich ein«, bemerkte Leutnant Prokop.
»Kommen Sie alle mit. Es ist nicht weit von hier. Nur zwei Kilometer. Doch die Gewehre wollen wir mitnehmen.«
»Um uns zu verteidigen? . . .« fragte Kapitän Servadac.
»Nicht gegen Menschen«, beruhigte ihn Ben-Zouf, »aber gegen die verwünschten Vögel.«
Neugierig erregt folgten Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Leutnant Prokop der Ordonnanz, während sie die kleine Nina nebst ihrer Ziege im Gourbi zurückließen.
Unterwegs unterhielten Kapitän Servadac und seine Begleiter ein wohlgezieltes Gewehrfeuer gegen die Wolke von Vögeln, welche über ihnen hin- und herschwebte. Letztere bestand aus Abertausenden wilder und langgeschwänzter Enten, Wasserschnepfen, Lerchen, Krähen, Schwalben und anderen, zu denen sich die Seevögel, wie Trauerenten, Sturmvögel, Möwen, und von Federwild Wachteln, Rebhühner, Schnepfen und andere mischten. Kein Schuß ging fehl, zu Dutzenden fielen die Getroffenen. Es war keine Jagd, vielmehr die Ausrottung einer frechen Räuberbande.
Statt der nördlichen Küste der Insel zu folgen, schlug Ben-Zouf einen Weg quer über die Ebene ein. Nach zehn Minuten schon hatten, dank ihres verminderten spezifischen Gewichtes, Kapitän Servadac und seine Begleiter die zwei Kilometer, von denen Ben-Zouf vorher sprach, zurückgelegt, und erreichten damit ein umfängliches Dickicht von Sykomoren und Eukalypten, welches sich anmutig längs des Fußes eines kleinen Hügels hin erstreckte. Hier machten sie halt.
»Oh, diese Schurken! Diese Banditen! Diese Beduinen!« rief Ben-Zouf den Boden stampfend.
»Meinst du damit immer wieder die Vögel?« fragte Kapitän Servadac.
»Ei nein, mein Kapitän! Ich rede von diesen vermaledeiten Faulenzern hier, die schon wieder ihre Arbeit im Stiche gelassen haben! Da, sehen Sie nur!«
Ben-Zouf wies bei diesen Worten auf verschiedene Sicheln, Sensen, Rechen und andere Werkzeuge und Geräte, welche auf der Erde umherlagen.
»Nun, zum Kuckuck, Meister Ben-Zouf, wirst du dich bald erklären, um was es sich hier handelt?« fragte Kapitän Servadac, dem allmählich die Geduld ausging.
»Still, mein Kapitän, hören Sie, hören Sie!« erwiderte Ben-Zouf. Nein, ich täuschte mich nicht.«
Bei schärferem Aufhorchen konnten Hector Servadac und seine beiden Gefährten eine singende Stimme, eine schnarrende Gitarre und taktmäßig klappernde Kastagnetten hören.
»Spanier!« rief Kapitän Servadac.
»Und das ist noch gar nichts«, sagte Ben-Zouf, »die Leute schlagen ihre Kastagnetten noch vor der Mündung einer Kanone!«
»Aber was bedeutet das alles? . . .«
»Hören Sie erst, jetzt kommt der Alte an die Reihe.«
Eine andere Stimme, welche nicht sang, ließ sich mit heftigen Vorwürfen vernehmen.
Kapitän Servadac verstand als geborener Gaskogner hinlänglich spanisch. Nach einem Verse, welcher wie folgt:
Tu sandungo y cigarro,
Y una cana de Jerez,
Mi jamelgo y un trabuco,
Que mas gloria puede haver.Deine Gunst und eine Zigarre,
ein Glas Xeres,
mein Roß und meine Büchse,
was gibt's noch Besseres in der Welt. (Nach der Übersetzung von Ch. Davillier.)
lautete, hörte man die andere scharfklingende Stimme wiederholt rufen:
»Mein Geld! Mein Geld! Werd ich endlich erhalten mein Geld, das ihr mir schuldig seid, ihr erbärmlichen Majos!« Darauf erklang das Lied weiter:
Para Alcarrazas, Chiclana,
Para trigo, Trebujena,
Y para ninas bonitas,
San Lucar de Barrameda.Bei den Alcarrazas, Chiclana,
dem blühenden Weizen, Trebujena,
den schönsten Mädchen,
San Lucar de Barrameda.
»Ja, ihr sollt mir bezahlen meine Forderung, ihr Spitzbuben!« erscholl wieder jene Stimme unter dem Geräusch der Kastagnetten. »Ihr werdet sie mir zahlen bei dem Gotte Abrahams, Isaaks und Jakobs!«
»Ei zum Teufel, das ist ja ein Jude!« rief Kapitän Servadac.
»Ja, und was das Schlimmste ist, ein deutscher Jude.«
Gerade als die beiden Franzosen und die zwei Russen aber sich in das Baumdickicht begeben wollten, hielt sie ein merkwürdiges Schauspiel an dessen Rande zurück. Die Spanier begannen eben einen echt nationalen Fandango entsprechend ihrer Gewichtsabnahme, wie der aller auf der Gallia befindlichen Gegenstände, sprangen sie dabei wohl dreißig bis vierzig Fuß in die Höhe und wurden somit oberhalb der Bäume sichtbar, was einen unbeschreiblich komischen Anblick gewährte. Es waren ihrer drei muskulöse Majos, die einen alten Mann mit sich emporhoben, der sich sehr wider Willen in solch ungewohnte Höhe versetzt zu sehen schien. Man sah ihn erscheinen und verschwinden, wie es einst dem Sancho Pansa erging, als ihn die lustigen Tuchmacher von Segovia im Übermute prellten.
Hector Servadac, Graf Timascheff, Prokop und Ben-Zouf betraten neugierig das Gehölz und gelangten bald nach einer kleinen Lichtung. Dort wanden sich ein Gitarrespieler und ein Kastagnettenschläger, welche am Boden lagen, vor Lachen und feuerten die Tänzer immer mehr und mehr an.
Beim Anblick Kapitän Servadacs und seiner Begleiter verstummten die Musiker plötzlich, und die Tänzer fielen, ihr unglückliches Opfer in der Mitte, sanft zur Erde nieder.
Atemlos und ganz außer sich eilte der Jude sofort auf den Stabsoffizier zu und redete ihn jetzt französisch, doch mit sehr deutschtümelndem Dialekt an.
»Ah, Herr Generalgouverneur!« rief er, »diese Schurken wollen mir stehlen mein Hab und Gut. Aber beim ewigen Gott, Sie werden mir helfen zu meinem Rechte!«
Verwundert sah Kapitän Servadac auf Ben-Zouf, als wolle er diesen fragen, wie er zu dieser ehrenvollen Titulatur komme, und letzterer schien durch eine bezeichnende Kopfbewegung zu antworten:
»Lassen Sie das nur gut sein, mein Kapitän; Sie sind jetzt hier Generalgouverneur. Ich habe das einmal so arrangiert!«
Kapitän Servadac bedeutete dem Juden, zu schweigen, und dieser neigte ehrfurchtsvoll den Kopf und kreuzte die Arme über der Brust.
Jetzt konnte man in nach Belieben mustern.
Es war ein Mann von fünfzig Jahren, den man leicht für sechzig halten konnte. Klein und hager von Gestalt, mit lebhaften, aber falschen Augen, gebogener Nase, gelblich-rotem Barte, struppigem Haar, großen Füßen, langen, krallenartigen Händen, zeigte er ganz den Typus des deutschen Juden, der sich von allen anderen leicht unterscheidet. Das war der Wucherer mit dem Katzenbuckel und kalten Herzen, der Münzenkipper, der zusammenscharrende Geizhals von oben bis unten.
Silber hatte auf diesen Menschen ebensoviel Anziehungskraft wie der Magnet auf Eisen, und wenn es diesem Shylock gelungen wäre, sich auf die bekannte Weise von seinem Schuldner bezahlt zu machen, so hätte er dessen Fleisch gewiß noch einmal weiter verschachert. Obwohl von Geburt Israelit, spielte er in mohammedanischen Ländern den Mohammedaner und wäre Heide geworden, wenn ihm das »mehr abgeworfen« hätte.
Dieser Jude nannte sich Isaak Hakhabut und stammte aus Köln, war also erst Preuße und in zweiter Linie Deutscher. Nach seiner Mitteilung gegen Kapitän Servadac befand er sich das ganze Jahr über in Handelsgeschäften auf der Reise, wobei er Küstenhandel längs der Umgebungen des Mittelmeeres betrieb. Sein Magazin – eine Tartane von zweihundert Tonnen, ein wahrhafter fliegender Kramladen – versorgte die Küstenorte mit tausenderlei verschiedenen Artikeln, von den Streichhölzchen an bis zu den bunten Bilderbogen aus Frankfurt oder Epinal.
Isaak Hakhabut hatte keinen anderen Wohnsitz als seine Tartane, die »Hansa«. Unbeweibt und kinderlos lebte er an Bord. Ein Obersteuermann und drei Mann Besatzung genügten zur Führung des leichten Fahrzeuges, welches bei seinen kurzen Küstenfahrten Algerien, Tunis, Ägypten, die Türkei, Griechenland und alle Stapelplätze der Levante berührte. Mit Vorräten an Kaffee, Zucker, Reis, Tabak, Pulver, Kleidungsstoffen usw. reichlich versehen, verkaufte, vertauschte und trödelte Isaak Hakhabut überall mit größtem Eifer und gewann dabei ein gut Stück Geld.
Die Hansa ankerte zufällig in Ceuta, an der vorspringendsten Spitze Marokkos, als die Katastrophe eintrat. Der Obersteuermann und seine drei Leute befanden sich in der Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar nicht an Bord und verschwanden damals spurlos, gleich so vielen anderen. Der Leser erinnert sich aber, daß die äußersten Felsen von Ceuta, gegenüber Gibraltar, damals verschont blieben, wenn man sich unter den obwaltenden Verhältnissen dieses Ausdruckes bedienen darf; mit und auf ihnen blieben auch zehn Spanier übrig, welche nicht im entferntesten ahnten, was vorgegangen war.
Diese Spanier, andalusische Majos (d. s. Gebirgsbewohner Andalusiens mit bunter, phantastischer Tracht und verrufene Raufer), unwissend von Natur, träge aus Liebhaberei, aber immer bei der Hand, Naraja oder Gitarre zu spielen, von Profession Ackerbauer, hatten einen gewissen Negrete zum Anführer, dessen Kenntnisse die der Übrigen nur deshalb ein wenig übertrafen, weil er früher etwas in der Welt umhergekommen war. Als sie sich auf dem Felsen von Ceuta allein sahen, kamen sie in nicht geringe Verlegenheit. Wohl war die Hansa samt ihrem Besitzer zur Stelle, und sie hätten gewiß keine Gewissensbisse darüber empfunden, sich zur Heimfahrt dieses Schiffes zu bemächtigen, nur fand sich leider kein Seemann unter ihnen. Nun konnten sie selbstverständlich doch nicht ewig auf diesem Felseneilande bleiben, und so zwangen sie nach Aufzehrung ihrer Vorräte Hakhabut, sie an Bord seines Schiffes aufzunehmen.
Mittlerweile erhielt Negrete den Besuch der beiden englischen Offiziere von Gibraltar, dessen im Vorhergehenden Erwähnung geschah. Was damals zwischen den Engländern und den Spaniern gesprochen wurde, wußte der Jude nicht. Jedenfalls veranlaßte Negrete infolge dieses Besuches Hakhabut, unter Segel zu gehen, um ihn und seine Genossen nach dem nächsten Punkte der marokkanischen Küste überzuführen. Der Jude sah sich gezwungen, diesem Ansinnen zu entsprechen; bei seiner Gewohnheit aber, aus allem Nutzen zu ziehen, stipulierte er mit den Spaniern einen Preis für die Überfahrt, den diese ebenso schnell bewilligten, als sie fest entschlossen waren, keinen Real zu bezahlen.
Am 3. Februar segelte die Hansa ab. Bei dem herrschenden Westwinde war die Tartane leicht zu führen. Man brauchte eben nur den Wind in den Rücken derselben blasen zu lassen. So hatten die improvisierten Seeleute also nur die Segel aufzuziehen, um ohne ihr Wissen nach der einzigen Stelle der Erdkugel zu gelangen, welche ihnen noch eine Zuflucht zu bieten vermochte.
Infolgedessen bekam denn Ben-Zouf eines schönen Morgens ein Fahrzeug zu Gesicht, welches der Dobryna keineswegs ähnelte und das der Wind ganz sanft in den Hafen des Cheliff, an der ehemaligen rechten Seite des Flusses, hineintrieb.
Ben-Zouf unterzog sich des Berichtes über die Geschichte des Juden unter der Hinweisung, daß die noch sehr wohl assortierte Ladung der Hansa den Bewohnern der Insel von größtem Nutzen sein werde. Jedenfalls würde man Mühe haben, sich mit Isaak Hakhabut auseinanderzusetzen; unter den gegebenen Verhältnissen erschien es jedoch gewiß nicht ungerechtfertigt, dessen Warenvorräte zum allgemeinen Besten zu requirieren, da er sie doch nicht verkaufen konnte.
»Bezüglich der Streitfrage zwischen dem Eigentümer der Hansa und seiner Passagiere«, fügte Ben-Zouf noch hinzu, »habe ich die Verabredung getroffen, daß dieselben nach dem Ermessen Sr. Exzellenz des Herrn Generalgouverneurs ›bei Gelegenheit der nächsten Inspektionsreise‹ ihre Erledigung finden sollte.«
Hector Servadac konnte bei Ben-Zoufs Bericht ein Lächeln nicht unterdrücken. Er versprach jedoch dem Juden Hakhabut, daß ihm Gerechtigkeit werden solle, was endlich seine endlosen Beschwörungen »des Gottes Israels, Abrahams und Jakobs« verstummen ließ.
»Wie könnten diese Leute aber überhaupt bezahlen?« fragte Graf Timascheff, als der Jude zurückgetreten war.
»Oh, sie besitzen Geld«, antwortete Ben-Zouf.
»Spanier . . . Geld!« erwiderte Graf Timascheff. »Das ist kaum zu glauben.«
»Und doch ist es an dem«, behauptete Ben-Zouf, »ich sah mit eigenen Augen englische Münzen in ihren Händen.«
»Aha«, bemerkte Kapitän Servadac, der sich des Besuches der beiden englischen Offiziere in Ceuta erinnerte. »Doch immerhin. Das wird später geordnet werden. – Wissen Sie, Graf Timascheff, daß die Gallia jetzt sehr verschiedene Repräsentanten der Bewohnerschaft des alten Europa trägt?«
»Gewiß, Kapitän«, antwortete Graf Timascheff, »auf diesem Bruchstücke der früheren Erdkugel wandeln jetzt die Nationalitäten Frankreichs, Rußlands, Italiens, Spaniens, Englands und Deutschlands. Letzteres freilich ist durch jenen Juden nicht gerade am glücklichsten vertreten.«
»Jeder Vernünftige würde Ihnen darin recht geben, als Franzose kann ich das nicht!« bemerkte Kapitän Servadac.