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19. Kapitel. Kinderfest

Die Wellen des Meeres rollten dahin, unaufhörlich, eine nach der andern. So rollten auch die Tage in dem Wittdüner Kinderheim ab, einer nach dem andern. Der Winter mit seinen jauchzenden Schneeballschlachten und lustigen Schlittenfahrten durch die frostblinkende Heide, mit seiner fleißigen Arbeit und den traulichen Feierabenden ging dahin. Später als im Binnenland wagte sich der Frühling an die sturmumwehte Meeresküste. Erst nach Ostern lugten im Garten auf den Kinderbeeten die ersten Veilchen und Primeln heraus.

Ostern hatte manche Veränderung in Villa Daheim gebracht. Ein Teil der Zöglinge verließ das liebe Haus – neue kamen. Die Backfische und Ellen, Peter und Lothar, sie waren gekräftigt wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Allen ward der Abschied schwer.

Trotzdem der schlimme Peter sich im Laufe der Zeit gebessert hatte, war seine Abreise nur vorteilhaft für Doktors Nesthäkchen. Die jetzt elfjährige Annemarie schloß sich nun noch inniger an die sanfte Gerda an. Der lange Aufenthalt an der Nordsee hakte bei Gerdas Leiden geradezu Wunder gewirkt. Das Hinken und die Steifheit des Beines hatte sich vollständig gegeben. Wenn das kleine Mädchen sich auch noch schonen mußte und noch nicht umhertollen durfte, konnte man es doch schon als geheilt betrachten. Annemarie war über die Genesung ihrer Freundin fast noch glücklicher als diese selbst.

Wie erstaunte Doktors Nesthäkchen aber, als sie eines Tages unter den neu ankommenden Zöglingen ihren kleinen Rollstuhlfreund Kurt aus Vaters Klinik erkannte. Doktor Braun hatte den Jungen, da er durch die Briefe seiner Lotte von dem glänzenden Erfolg bei Gerda Eberhard gehört, ebenfalls an die Nordsee geschickt, um dort gesund zu werden.

Kurt aber erkannte seine kleine Freundin, mit der er damals nur von weitem verkehren durfte, nicht. Trotzdem er von Doktor Braun wußte, daß Annemarie sich in dem Wittdüner Kinderheim befand. Was – das sollte das kleine bleiche Mädchen sein, mit den müden Augen, wie er sie in Erinnerung hatte? Das war ja ein braunrot gebranntes, wie ein Bauernmädel aussehendes Kind! Aber als Annemarie ihn freudig begrüßte, mußte er es wohl glauben, daß die Nordsee diese wunderbare Verwandlung hervorgebracht.

»Und du wirst hier auch ganz gesund werden wie meine Freundin Gerda! Paß mal auf, Kurt, wir laufen noch miteinander Wette«, tröstete sie warmherzig den armen Jungen, der immer nur vom Rollstuhl aus den frohen Spielen der andern Kinder zuschauen durfte.

In der Tat, das Befinden des gelähmten Knaben besserte sich in der reinen, salzhaltigen Sonnenluft von Tag zu Tag. Bald färbte sich auch sein wachsbleiches Gesicht ein wenig rosig. Und als die rotweißen Strandkörbe alle wieder aus dem Seesand emporwuchsen, als die Sommerferien wieder ins Land zogen, konnte er bereits die ersten Gehversuche machen. Freilich noch an Stöcken, aber es war doch immerhin ein Anfang.

Herr und Frau Hauptmann Eberhard, Gerdas Eltern, kamen über die Sommerferien nach Wittdün. Wie glücklich waren sie, ihr Töchterchen geheilt wiederzusehen. Nach Ablauf der Ferien sollte Gerda wieder mit ihnen nach Breslau heimkehren.

Auch Annemaries Jahr an der Nordsee näherte sich nun seinem Ende. Sie hatte so sehr gehofft, daß ihre Eltern mit Hans und Klaus im Juli ebenfalls nach dem Nordseebad kommen würden. In jedem Brief an die Brüder hatte sie herrliche Pläne mit ihnen zusammen geschmiedet, wie sie ihnen alles auf der Insel zeigen wollte. Freilich an ihren Abschied von Villa Daheim, da mochte die Annemarie gar nicht denken. Die Tränen traten ihr in die Augen, sobald man davon sprach. Doktors Nesthäkchen, das vor einem Jahre durchaus nicht ins Kinderheim wollte, löste sich jetzt unsagbar schwer von den lieben Menschen allen und dem frohen Leben am Meeresstrand. Denn daß die Eltern sie dann gleich nach Berlin mit zurücknehmen würden, war sicher. Aber es kam anders, wie Annemarie es sich ausgemalt hatte. Die Mutter reiste während der Sommermonate nach England, wo sie Verwandte hatte. Auf der Rückreise im August wollte sie dann ihr Nesthäkchen von der Insel Amrum abholen. Dem Vater hatte das Wandern im Hochgebirge mit seinen beiden Jungen so gut gefallen, daß er wieder mit ihnen nach Tirol zu fahren beschloß. So wurde nichts aus den gemeinsamen Ferien auf Wittdün.

»Wißt ihr's schon, am nächsten Donnerstag ist Kinderfest – da gibt's Schokolade und Kuchen im Kurhaus, und abends machen wir einen Fackelzug«, Annemarie rief es aufgeregt einigen kleinen Berlinerinnen, mit denen sie sich während der Ferien angefreundet hatte, zu.

»Au – fein – dann ziehe ich mein rosa Battistkleid an, und ich mein hellblaues Blümchenkleid«, die eitlen kleinen Damen machten einen Luftsprung vor Freude.

»Und Blumenkränze dürfen wir uns ins Haar setzen, und Spiele mit Preisverteilungen werden auf dem Kurhausplatz gespielt – – –«

»Und dann findet ein Burgenwettbewerb statt«, fiel Gerda der Freundin ebenfalls in heller Vorfreude ins Wort. »Wer seine Burg am schönsten schmückt, der wird preisgekrönt und bekommt ein Geschenk!«

»Famos – ich weiß schon, womit wir unsere Burg schmücken, aber ich sag's nicht! Doch, Gerdachen, dir vertrau' ich's an, und auch dem Kurt, wir drei wollen zusammen unsere Burg fein machen«, die beiden Freundinnen neigten tuschelnd die Köpfe zusammen.

Die kleinen Berlinerinnen und bald auch der größte Teil der andern Kinder begannen ebenfalls eifrig zu beraten, wie man wohl den Preis für die schönste Burg gewinnen könne. Aus Muscheln, Blumen und Seetang ließen sich in dem weißen Dünensande allerlei nette Figuren legen.

Auch unter den erwachsenen Badegästen am Strande und auf der sogenannten »Trampelbahn« sah man aufgeregte, eifrig beratende Gruppen. Aber deren Überlegungen galten nicht dem Kinderfest und dem Burgenwettbewerb. Die waren ernsterer Natur.

Österreich hatte Serbien den Krieg erklärt. Das brachte die Gemüter in Aufruhr. Oder vielmehr die Möglichkeit, daß Deutschland als Österreichs Bundesgenosse, falls Rußland feindlich vorging, in den Krieg mit hineingezogen werden könnte. Sollte man abreisen oder bleiben – keiner wußte, was das Richtige war.

Die spielenden Kinder unten am Strande ahnten nichts von der Gefahr, die ihrem Vaterlande drohte. Sie schnappten wohl aus den Gesprächen der Großen mal das Wort »Krieg« auf, aber sie verstanden es gar nicht. »Krieg«, den gab's bloß in der Geschichtsstunde, allenfalls noch zwischen den Geschwistern daheim.

Immer heißer brannte die Sonne vom Himmel herab, als gebe sie sich ganz besondere Mühe, den Badegästen zu zeigen, wie schön es in Wittdün sei. Aber all ihr Flimmern und Gleißen nützte nichts – eine Familie nach der andern reiste in dieser letzten Juliwoche nach Haus. Alles Jammern der Kinder wegen des bevorstehenden Kinderfestes, auf das sie sich so gefreut, und das sie nun nicht mehr mitmachen konnten, war umsonst.

Zuerst waren es nur die ganz ängstlichen Gemüter, die Reißaus nahmen. Aber die meisten Familien hielten schon heimlich ihre Koffer gepackt und warteten nur auf Telegramme aus der Heimat, die sie zurückriefen. Von Tag zu Tag wuchs die Zahl der Abreisenden. Die Mittagstafeln in den Hotels wurden kleiner und kleiner. Die Post wurde umlagert, ebenso das Lesezimmer, in dem die neuesten Zeitungsnachrichten auslagen.

Mit großen, ziemlich verständnislosen Augen blickten die Kinder in das aufgeregte Treiben. Ihr Denken gipfelte in dem Schmuck ihrer Burgen zu dem Kinderfest.

Annemarie, Gerda und Kurt hatten einen wunderhübschen Einfall. Eine kleine friesische Bauerndeern mit einer Gänseherde legten sie auf ihrem Burgwall aus weißen, blauen, rosa, und gelblichen Muscheln, großen und kleinen. Die Gerte, mit der die kleine Deern die Gänse vor sich hertrieb, wurde aus Seetang kunstvoll verfertigt. Kurt war besonders erfinderisch, Gerda wußte nach seinen Angaben die Muscheln ganz allerliebst zu legen. Annemarie aber hatte das Ausschmücken der Burg mit Blumen übernommen. Dem lebhaften Wesen des kleinen Mädchens dauerte das Zusammensetzen der Muscheln zu Bildern viel zu lange. Eifrig bewunderte sie, wie ein Gänschen nach dem andern unter Kurts und Gerdas geschickten Händen entstand. Dazwischen aber hatte sie noch Zeit, nach den benachbarten Burgen zu schielen, ob die auch ja nicht schöner wurden als die ihrige.

Da sah man einen Zeppelin aus Muscheln, ein Torpedoboot mit Kanonen, ein Segelschiff und ein Flottenbild. Nanu, was bauten denn Gretchen und Elschen, die beiden kleinen Berlinerinnen, da drüben? Angestrengt äugte Annemarie hinüber zu den beiden.

Herrjeh – das wurde ja der Struwwelpeter, nein, war das aber ulkig! Sein Zottelhaar war aus schwarzem Seetang vorzüglich nachgebildet, ebenso die langen Nägel. Hellauf mußte Annemarie lachen.»Gerda und Kurt, seht doch bloß mal, was Gretchen und Elschen Feines machen. Den Struwwelpeter – ach, die werden uns doch nicht etwa den ersten Preis fortschnappen?« Ein wenig ängstlich verglich sie die beiden Kunstprodukte, das friesische Gänsemädel und den Struwwelpeter, miteinander.

Nein, Elschen und Gretchen schnappten ihnen nicht den ersten Preis beim Burgenwettbewerb fort. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil – sie selbst fort waren. Auch Gerda sollte nicht mehr den Erfolg ihrer Mühe ernten.

Genau so, wie sich die Aufregung der noch anwesenden Kleinen am Vorabend des Kinderfestes in seliger Erwartung desselben steigerte, stieg auch das Kriegsfieber der Großen. Die in Wittdün weilenden Offiziere waren am Nachmittag telegraphisch zurückgerufen worden – daß dies drohende Kriegsgefahr bedeutete, konnte sich jeder an den fünf Fingern abzählen.

Herr und Frau Hauptmann Eberhard ließen sich in größter Hast bei Frau Kapitän Clarsen melden. Schon mit dem nächsten Dampfer, der noch am Abend ging, mußten sie fort. Gerda natürlich mit ihnen.

In Villa Daheim hatte man die Sachlage bisher gar nicht so ernst angesehen. Man lachte sogar über die Ängstlichen, die sich so schnell ins Bockshorn jagen ließen und Hals über Kopf davonfuhren. Es kamen ja noch täglich neue Badegäste an. Das wäre doch sicher nicht der Fall gewesen, wenn es gar so ernst draußen ausgeschaut Hütte.

Jetzt freilich, wo das Militär abberufen wurde, kam auch den Damen in Villa Daheim die ernste Gefahr zum Bewußtsein. Es war ein Glück, daß die meisten ihrer Zöglinge ihre Angehörigen jetzt während der Ferien auf Wittdün hatten, da waren die Damen der großen Verantwortung, für die rechtzeitige Heimreise der Kinder Sorge tragen zu müssen, überhoben. Ein Bremer und ein Hamburger Kind wurde vom Vater am Donnerstag selbst geholt. Nur Annemarie, Kurt und Klein-Annekathrein waren ohne Angehörige auf Wittdün.

Mit ungläubigen Augen sah Doktors Nesthäkchen zu, wie Frau Hauptmann Eberhard im Verein mit Tante Lenchen in höchster Eile Gerdas Sachen zusammenpackte.

Was – heute noch sollte die Gerda fort, wo morgen das Kinderfest war, auf das sie sich beide so gefreut hatten? Wo sie alle beide weiße Stickereikleider mit rosa Seidenschärpen wie Zwillinge anziehen wollten? Das war doch gar nicht möglich!

»Ach, liebe Frau Hauptmann, bitte, bitte, lassen Sie die Gerda doch noch wenigstens bis Freitag hier. Wir haben uns doch so auf das Kinderfest gefreut! Und mit wem soll ich denn da morgen überhaupt beim Fackelzug gehen, wenn die Gerda fort ist?« Annemarie mußte sich große Mühe geben, die Tränen der Enttäuschung zurückzuhalten.

»Ja, mein Herzchen, der Krieg fragt leider nicht nach Kinderfest und Kinderwünschen. Ich wollte auch, die Abreise wäre nicht nötig. Aber wenn es sein muß, wenn der Krieg unabwendbar ist, da müssen alle persönlichen Wünsche schweigen. Da dürfen wir nur an das Wohl unseres teuren Vaterlandes denken. Das könnt ihr Kinder, so jung ihr seid, auch schon begreifen. Die Großen wie die Kleinen müssen in solcher Zeit Opfer bringen,« sagte Frau Hauptmann ernst.

»Ja, aber – aber ich habe doch dann gar keine beste Freundin mehr hier im Kinderheim, wenn Sie mir die Gerda wegnehmen!« Jetzt ließen sich Annemaries Tränen nicht länger zurückhalten. Sie perlten und kullerten über die roten Backen, während sie den Arm fest, ganz fest um den Hals der Freundin schlang. Nein – solch ein großes Opfer könnte selbst das Vaterland nicht von ihr verlangen!

Auch die Augen des rotblonden Lockenköpfchens hatten sich mit Tränen gefüllt. Gerda ging der Abschied von der lustigen Annemarie ebenfalls nahe.

Frau Hauptmann wandte sich an Tante Lenchen.

»Was meinen Sie, Fräulein Petersen, ob wir die Annemarie Braun mit uns nehmen? Wir fahren sowieso über Berlin, dann ist das Kind wenigstens bei den Eltern daheim.«

Mit Gerda zusammen reisen – himmlisch – aber »nee, nee, das geht ja gar nicht! Meine Mutti kommt ja im August aus England mich holen – na, Mutti würde schöne Augen machen, wenn ich heidi bin!« noch unter Tränen mußte Annemarie lachen.

»Ich danke Ihnen vielmals, gnädige Frau, für Ihren freundlichen Vorschlag. Aber Ihr Gatte meinte, der Krieg wäre noch gar nicht sicher, es könnte noch alles mit Rußland sich gütlich ordnen. Ich möchte Annemaries Eltern in ihren Entschließungen ungern vorgreifen. Vielleicht kommt ein Telegramm, oder der Vater am Ende persönlich, sein Töchterchen zu holen. Dann wäre es für uns sehr peinlich, wenn Annemarie schon fort wäre. Sollte die Abreise von hier unbedingt notwendig werden – was Gott verhüten möge – so würden meine Schwester und ich selbst die Kinder heimbringen,« antwortete Tante Lenchen.

Annemarie fiel ein Stein vom Herzen. Nein, sie wollte noch in Wittdün bleiben, überhaupt – wo morgen Kinderfest war!

Bis zur Landungsbrücke gab sie ihrer Freundin Gerda noch das Geleit. Das Schiff war überfüllt. Nicht nur die Offiziere reisten ab, sondern auch ein großer Teil Zivilpersonen. Unter all den vielen Menschen entdeckte Annemarie auch Elschen und Gretchen aus Berlin, die ihren Struwwelpeter schweren Herzens in Stich lassen mußten. Kaum konnte sie Gerda einen Abschiedskuß geben, so drängten die Leute, um noch einen Platz auf dem Schiff zu erlangen. Die Tücher wehten, und das Schiff rauschte in den aufschäumenden Wogen dahin. Es trug manchen davon, der erst vor wenigen Tagen angekommen war.

Annemarie schlief heute allein in ihrem rosa Zimmer, das sie seit Ellens Fortgang nur noch mit der Freundin geteilt. Aber da die lebendige Gerda nun fort war, holte sich Doktors Nesthäkchen Puppe Gerda zur Gesellschaft herauf. Es war ihr sonst gar zu einsam.

»Nun habe ich nur noch dich,« sagte sie leise zu ihrer Puppe. Die machte ein Gesicht, als ob sie jedes Wort verstände.

Einen blaueren Himmel, und eine goldenere Sonne konnten sich die Kinder und die Wittdüner Badedirektion nicht wünschen, wie sie am Donnerstag über der Nordseeinsel Amrum erstrahlte. Und dennoch – es war leer geworden in Wittdün. Weder Burgenwettbewerb noch Fackelzug vermochten die Heimflüchtenden zurückzuhalten.

So waren es statt der mehreren hundert, wie man gedacht, nur noch einige sechzig Kinder, die sich am Donnerstag Nachmittag um drei am Friesenhäuschen oben auf der »Trampelbahn« versammelten. Es war ein wunderhübsches Bild, all die sonnengebräunten Kleinen mit den leuchtenden Augen und den nackten Beinchen! Das Herz im Leibe konnte einem lachen, wenn man die niedlichen, festlich gekleideten Blond- und Schwarzköpfchen zu Paaren antreten sah. Aber dazu mußte einem das Herz auch leicht und froh sein. Und das war es ganz und gar nicht. Je Heller die Sonne in Wittdün vom Himmel strahlte, umso dunkler und schwerer wurden die Wolken, die an Deutschlands Friedenshimmel aufzogen.

Die Kleinen, welche durch die Angst und Aufregung der Erwachsenen auch schon etwas beklommen geworden, vergaßen das alles bei den ersten Klängen der Musik. Die Badekapelle von Wittdün voran, Knaben mit wehenden Fahnen oder Trommeln. und blumengeschmückte kleine Mädchen hinterdrein, so setzte sich der feierliche Umzug die Wandel- oder Trampelbahn entlang in Bewegung. An den schön geschmückten Burgen vorüber ging es, da klopfte manch Kinderherz schneller vor Erwartung – wer würde der Glückliche sein, der den Hauptpreis davontrug?

Annemarie hatte sich, da Gerda abgefahren, keine andere Partnerin gesucht. Neben Kurts Rollstuhl schritt sie getreulich als letztes Paar. Der arme Junge sollte sich heute nicht ausgestoßen von den anderen fröhlichen Kindern fühlen. Manch mitleidiger Blick streifte den Knaben und blieb dann auf dem allerliebsten blonden Ding an seiner Seite haften. Auch Tante Lenchen, die mit Frau Kapitän zusah, klopfte Doktors Nesthäkchen anerkennend die heißen Wangen: »Brav, Annemarie, daß du so treu zu dem Kurt hältst!«

Auf dem Platz vor dem Kurhause waren lange Tafeln gedeckt. Dort wurden die kleinen Gäste mit Schokolade, Schlagsahne und Kuchen bewirtet. Annemarie saß strahlenden Gesichts neben Kurt und ließ es sich schmecken.

Kaum waren die Tassen geleert und die Kuchenberge vertilgt, so ging's ans Spielen. Drei große Kreise wurden gebildet unter Leitung der Damen aus den verschiedenen Kinderheimen. Da spielte man Katze und Maus, Blindekuh und Dritten abschlagen – war es möglich, daß die Eltern bei dem Jauchzen und Jubelgekreisch ihrer Kinder noch düstere Kriegsgedanken hegen konnten?

O ja – dieses und jenes Kind wurde plötzlich aus dem frohen spielenden Kreis entfernt. Der weiße Feststaat wurde in Windeseile mit Reisekleidern vertauscht, und noch ehe das Kinderfest zu Ende war, saßen schon wieder so und so viele von den kleinen Gästen, die noch vor kurzem nichtsahnend ihre Schokolade getrunken, auf dem heimwärts dampfenden Schiff. Aber ohne Weinen ging das freilich nicht ab, und daran waren nur die Eiltelegramme schuld, welche die Eltern erhalten.

Das Kinderfest nahm inzwischen seinen Verlauf, wenn auch nicht ganz ungestört von diesen unvorhergesehenen Abfahrten.

Wettspiele fanden statt mit Preisverteilung. Annemarie Braun wurde Siegerin im Wettlauf und erhielt ein allerliebstes Bild von Wittdün. Dann wurden die am schönsten geschmückten Burgen prämiiert. Der Hauptpreis, in einem Tennisschläger bestehend, fiel einem Bremer Geschwisterpaar zu. Die hatten die Bremer Stadtmusikanten ganz reizend auf ihrer Burg aus Muscheln fabriziert.

»Au, werden die sich um den Tennisschläger aber zanken,« meinte Annemarie zu Kurt, der den Spielen nur zuschauen durfte. Doch er tat es frohen Auges, er war ja so glücklich, überhaupt dabei sein zu können.

»Zweiter Preis – ein Gänsemädel,« erschallte es da von dem Geschenktisch mitten in die Unterhaltung der zwei hinein.

»Wir – wir« – in höchster Aufregung wollte Doktors Nesthäkchen nach vorn stürmen. Da aber fiel ihr ein, daß sie ja eigentlich das Wenigste an dem Gänsemädelbild gemacht hatte. Gerda war fort, und Kurt, den Hauptkünstler, wollte sie zurücklassen? Nein, so gemein war sie nicht. Mit einigen kräftigen Stößen schob sie den Rollwagen durch die sich um den Preisrichter drängende Menge.

»Hier – Kurt hat den Gänsemädelpreis gewonnen!« rief sie mit schallender Stimme statt des schüchternen Knaben.

Man überreichte Kurt mit einigen anerkennenden Worten Andersens Märchen. Der Junge stammelte einen verlegenen Dank. Glückstrahlend blickte er auf das schöne Buch, das er besonders liebte. Dann aber wandte er sich in plötzlichem Entschluß an die hinter ihm stehende Annemarie.

»Da, Annemie, du hast ebenso viel Teil an dem Preis wie ich,« sagte er selbstlos.

»Nee – ih wo, keine einzige Gans stammt von mir, und dann habe ich ja auch schon das schöne Bild,« ereiferte sich Doktors Nesthäkchen. Da mußte sich Kurt wohl zufrieden geben.

Als es dämmerte, erhielt jedes Kind eine bunte Stocklaterne. Und nun fand der Fackelzug mit Musik statt. Wie eine Kette von Leuchtkäferchen, so schlängelte es sich durch die Straßen Wittdüns den Strand entlang. Allerlei Volkslieder spielte die Kapelle auf, und hell fielen die jungen Stimmen ein. Zuletzt erschallte es »Deutschland, Deutschland über alles« – die Klänge verschmolzen mit dem ewigen Lied des brausenden Meeres.

»Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt« – würde es nötig sein, daß sich ganz Deutschland zu Schutz und Trutze brüderlich gegen den drohenden Feind zusammenschloß? So fragte sich manch banges Herz an diesem friedlichen, in purpurner Schönheit ersterbenden Juliabend am Nordseestrand.


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