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Nun war Annemarie schon mehrere Wochen in Wittdün, und es schien ihr, als ob sie Zeit ihres Lebens in Villa Daheim gewesen. Sie hatte sich ganz in das Pensionsleben eingewöhnt, nur selten kamen noch Verstöße gegen die Hausordnung vor.
Allerdings mit der Ordnung an und für sich sah es bös bei Doktors Nesthäkchen aus. Jeden Sonnabend unterzog Tante Lenchen alle Kästen und Schränke der Zöglinge einer Musterung. Jedes Kind setzte seinen Stolz darein, Tante Lenchen zufrieden zu stellen. Sogar die Jungen, deren Ordnungsliebe nicht allzu groß war, und die während der Woche öfters mal in ihren Kästen das Unterste zu oberst kehrten, räumten zum Sonnabend ganz gewiß wieder schön auf. Selbst Klein-Annekathrein war schon für ihre Sachen verantwortlich.
Aber Doktors Nesthäkchen hatte sich nie um derartige Dinge gekümmert. Am liebsten ließ Fräulein sie zu Hause gar nicht an ihre Wäsche und Kleider herangehen, da sie das liederliche Fräuleinchen schon kannte. Hier in Wittdün hatte sie nun mit einemmal alles allein unter sich, da war es kein Wunder, daß Tante Lenchen, als sie das erstemal nachsehen kam, die Hände über den Kopf zusammenschlug. Sowas war ihr doch noch nicht vorgekommen, nicht einmal bei dem unartigen Peter.
Stiefel und Sandalen zwischen der reinen Wäsche, die hübschen Kleider hingen nicht mehr auf Bügel, sondern rollten sich in den Tiefen des Schrankes zum wüsten Knäuel. Die Mappe war statt mit Schulbüchern mit Muscheln vollgestopft, und die Bücher und Hefte selbst waren unterdes im Stiefelschrank einquartiert. Mitten auf einem kleinen Berg getragener Wäsche, die ihren Platz in einem Beutel haben sollte, aber thronte Puppe Gerda. Der nette Matrose Willem hatte seine Reisekameradin Gerda persönlich bei längerem Landaufenthalt im Wittdüner Kinderheim abgeliefert und seine kleine Freundin Annemarie gleichzeitig besucht. Nun konnte sie ihm die Pfeife, die sie mit Mutti für ihn gekauft hatte, selbst überreichen, und die Freude des braven Menschen mitansehen.
Weniger groß war Tante Lenchens Freude beim Anblick dieser wüsten Unordnung. Zum erstenmal war sie auf den allerliebsten Blondkopf richtig böse.
»Eigentlich müßte ich der Frau Kapitän zeigen, wie du deine Sachen verwahrst,« sagte sie streng.
»Nein, nein, die arme Frau Kapitän soll das nicht sehen, sonst wird ihr Haar noch weißer«, bitterlich begann Annemarie zu weinen.
»Während die anderen Kinder heute nachmittag zum Kaffeetrinken nach dem Dorfe Nebel gehen, hast du Zeit, deine Sachen in Ordnung zu bringen – ich sehe sie mir abends an.«
Annemaries Tränen flossen reichlicher.
»Könnte ich nicht lieber gleich nach Tisch, anstatt der langweiligen Liegekur, wo man doch bloß in der Sonne bratet, aufräumen, Tante Lenchen?« bettelte sie. Denn der Spaziergang nach dem Inseldorf Nebel war ein Ereignis für die Kinderpension, auf das sich alle schon tagelang vorher gefreut hatten. Auch Mutti wollte sich anschließen. Was würde die bloß sagen, daß ihre Lotte fehlte? Und wenn sie nun erst noch den Grund erfuhr! Tante Lenchen wurde schwankend. Aber nein – sie mußte dem liederlichen kleinen Fräulein gegenüber fest bleiben. Bittere Medizin hilft am besten.
»Die Liegekur wird innegehalten, die ist dir ärztlich verordnet«, damit wandte sich Tante Lenchen zur Tür. Annemarie blieb in Tränen zerfließend zurück. Und die Tränen galten nicht allein dem Vergnügen, von dem sie ausgeschlossen werden sollte, nein, viel mehr der Unzufriedenheit von Tante Lenchen.
Da legte sich ihr ein zärtlicher Arm um den Hals und ein rotblondes Lockenköpfchen preßte sich gegen ihr nasses Gesicht.
»Weine nicht, Annemariechen, es sind noch zehn Minuten bis zum Mittagsläuten – wir fangen gleich an, Ordnung zu machen. Ich helfe dir«, so schnell sie konnte, hinkte Gerda zu Annemaries Schrank.
»Ach, das nützt ja nichts mehr, wir werden ja doch nicht fertig«, tieftraurig kam es von der Kleinen Lippen.
»Doch, ich s–tehe dir auch bei«, Ellen, die gerade an der schönsten Stelle in ihrem Buche angelangt war, ließ trotzdem dasselbe im Stich, um der armen Annemarie zu helfen. Sie übernahm die Wäschekästen, Gerda war bereits am Kleiderschrank beschäftigt, und als Annemarie das sah, sprang auch sie mit einem Satz an ihren Stiefelschrank. Die Wangen der drei glühten vor Eifer. Annemaries Tränen hörten auf zu fließen. Bald standen die Schuhe und Stiefel wie die Soldaten in Reih und Glied, die Kleider hingen säuberlich nebeneinander im Schrank, und die Wäsche ordnete Ellen mit der ihr eigenen Hamburger Gründlichkeit.
»Noch flink die S–tickereischürzen – Gittigitt – da schellt es schon«, die sonst so ruhige Eilen war in fabelhafter Aufregung.
»So, nun sind wir fertig!« tief auf atmeten die drei.
»Glaubt ihr, daß ich jetzt mit darf?« Annemarie war noch zweifelhaft.
»Bes–timmt, was solltest du denn auch zu Hause, es ist ja schon alles S–tück für S–tück ordentlich eingeräumt«, meinte Ellen.
Gerda aber drückte ihr die Hand und flüsterte: »Du glaubst gar nicht, wie lieb Tante Lenchen ist!«
Ja, wenn man gute Freunde hat, die einem treu zur Seite stehen, ist alles Schwere nur halb so schlimm.
»Tante Lenchen«, Annemarie zögerte nach dem Mittagessen noch ein wenig, während die anderen Kinder das Speisezimmer schon verlassen hatten. »Ich habe alles schön aufgeräumt – darf ich nun mit?« In grenzenloser Spannung blickte das kleine Mädchen zu Tante Lenchen auf.
»Nein, Kind, das kann unmöglich in dieser kurzen Zeit gut geworden sein.«
»Ach, bitte, bitte, sehen Sie doch nach, liebe Tante Lenchen«, Annemarie bettelte und schmeichelte, wie nur sie es verstand. Damit hatte sie schon manches Herz erweicht, und Tante Lenchens gütiges sollte standhalten?
»Meinetwegen – aber wenn nur so obenauf Ordnung geschaffen ist, dann nützt dir das alles nichts,« drohte sie.
Doch als Tante Lenchen jetzt Kästen und Schrank aufschloß. traute sie ihren Augen kaum. »Ja, Annemarie, kannst du hexen oder haben dir die Onnerbankjes, unsere friesischen Heinzelmännchen, beigestanden?«
»Die Onnerbankjes – die Onnerbankjes«. ausgelassen sprang Annemarie in dem Zimmer umher, denn sie merkte, daß Tante Lenchen ihr nicht mehr böse war.
»Eins hat lange braune Zöpfe und eins einen Lockenkopf,« lachte sie schalkhaft.
Da mußte auch Tante Lenchen wieder lachen. »Ja, wenn du so gute Freunde unter den kleinen Wichtelmännchen hast, dann muß wohl auch ich ein Auge zudrücken und mein Verbot zurückziehen –« Tante Lenchen kam nicht weiter. Annemarie erdrückte sie fast mit ihren Dankesbezeigungen.
Puppe Gerda wanderte in das Spielzimmer zu den anderen Puppen, und Annemarie mit den übrigen Kindern durch Felder und Wiesen, auf denen viele Schafherden weideten, nach dem alten Friesendorf Nebel. Es war ein besonders schöner Nachmittag, auch Frau Kapitän nahm an dem Ausflug teil. Das erschien jedem Kinde wie ein Fest. Annemarie genoß den schönen Tag noch mehr als die übrigen. Erstens weil ihre Mutter dabei war, und zweitens, weil sie es als ein Geschenk betrachtete, daß sie überhaupt mitgenommen worden war. Es wäre aber auch schrecklich gewesen, wenn sie hätte zurückbleiben müssen, denn Frau Doktor Braun lud das ganze Kinderheim zu Schokolade mit Schlagsahne unter den schattigen Bäumen der dortigen Konditorei ein. Aber so lustig der Nachmittag war, er schloß ernst.
»So, Kinder, nun pflückt Erika und Strandnelken, wir wollen Kränze winden«, gebot Frau Kapitän.
»Au ja«, eifrig machten sich alle ans Werk. Die Kinder glaubten, die Kränze seien für ihre Köpfchen zum Heimweg bestimmt.
Aber was wand denn die Frau Kapitän? Der Kranz wurde ja viel zu groß für den Kopf. Auch jedes der Kinder band nach Angabe der Erwachsenen mehr oder weniger geschickt seinen Kranz. Fragend blickten sie Frau Kapitän an, sie verstanden den Zweck nicht.
»Wir wollen zum Kirchhof gehen, zu denen, die an dieser Küste gestrandet sind. Die namenlos hier in fremder Erde ruhen, und denen keine liebende Hand die Grabstätte schmückt,« sagte die leise.
Durch das Dorf mit seinen jahrhundert alten Friesenhäusern hindurch gingen sie zum Friedhof der Heimatlosen. Dort legte jedes Kind seinen Gruß auf die grünbewachsenen Hügel der unbekannten Schiffbrüchigen. Trotz allem Ernste kam den jungen Kindern dabei ein froh erhebendes Gefühl. Vielleicht schmückte eine freundliche Hand auch irgendwo an fremder Küste die letzte Ruhestatt des Gatten der weißhaarigen Frau an ihrer Seite.
Lieder singend, zog die junge Schar heimwärts, während die scheidende Sonne grüngoldene und violettpurpurne Farben über Himmel und Meer ergoß. Schon strich über den fernen Horizont das Leuchtfeuer von Helgoland wie mit Geisterhand, da – blitzte auch das Licht des Amrumer Leuchtturms friedlich auf. Es war das erstemal, daß Annemarie dies sah, nie war sie bisher in Wittdün so lange draußen geblieben.
Die Tage rollten dahin wie die Wogen des Meeres. Ein Schwarm von Schulkindern war mit den großen Ferien nach der Insel Amrum gekommen. Das kribbelte und krabbelte allenthalben im warmen weißen Sande herum, denn Wittdün war so recht ein Kinderparadies. Die Clarsenschen Zöglinge fühlten sich diesen fremden kleinen Badegästen gegenüber wie Eingeborene der Insel. Auch Annemarie dachte nicht mehr daran, daß sie ja eigentlich ebenfalls nur für die Zeit der Sommerferien in Wittdün bleiben wollte.
Die schönste Stunde am Tage war unbedingt das Baden. Längst hatte Annemarie ihren neuen blauen Badeanzug mit dem weißen Anker eingeweiht. Tante Lenchen sowohl wie die Lehrerinnen, Fräulein Mahldorf und Miß John, welche die Kinder abwechselnd zum Bad begleiteten, waren ganz erstaunt darüber, mit welcher Keckheit das kleine Berliner Mädel gleich das erstemal in die wild anstürmenden grünlichen Wellen hineinging. Sie waren es von den anderen Kindern, sogar von den Jungen, gewöhnt, daß es jedesmal einen Kampf und ein Gebrüll bei den Neulingen setzte. Annemarie aber, die in ihrem hellblauen Badeanzug ganz allerliebst aussah, juchzte und jubelte, sobald eine Woge sie überspülte, als ob sie ihr Lebtag in der Nordsee herumgehopst wäre. Schon machte sich der Erfolg der reinen salzhaltigen Luft und des ständigen Aufenthaltes in der stark ausstrahlenden Sonne bemerkbar. Doktors Nesthäkchen war kein Blaßschnabel mehr. Annemaries schmale Wangen begannen sich zu runden und rosig zu werden. Die Mattigkeit und Unlust war vollständig von dem frischen Seewind davongeweht.
Frau Doktor Braun war ganz glücklich darüber. Ja, sie meinte sogar manchmal im stillen, ob ihre Lotte sich nicht in den Ferienwochen schon so gut erholt hätte, daß sie dieselbe wieder mit nach Berlin zurücknehmen könnte. Aber sie verließ sich auf die bessere Einsicht ihres Mannes. Grade weil der Erfolg so glänzend zu werden versprach, durfte man ihn nicht verringern.