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11. Kapitel. Was Nesthäkchen alles im Kinderheim lernt

Auf Mutter Antjes großen himmelblauen Wollstrümpfen erreichte das kleine Mädchen nach herzlichem Dank wieder die Villa. Jetzt war die Tür nicht mehr verschlossen, Annemarie brauchte ihren Weg nicht wieder durch das Fenster zu nehmen.

Hinten am Büfett stand Tante Lenchen und schmierte große Berge von Frühstückssemmeln.

»Ei, Annemarie, schon fertig, na, hast du die erste Nacht in Villa Daheim gut geschlafen?« fragte sie freundlich.

Aber ehe Annemarie noch antworten konnte, bemerkte sie das merkwürdige Aussehen der Kleinen. »Mädel, was hast du denn an?« lachte sie.

»Mutter Antje hat mir ihre Strümpfe geborgt, weil es noch zu kalt zum Barfußlaufen war.«

»Mutter Antje – ja, wie hast du denn schon am frühen Morgen deren Bekanntschaft gemacht?« verwunderte sich Tante Lenchen.

Annemarie stand da und zögerte mit der Antwort. Schließlich aber trug ihre Ehrlichkeit doch den Sieg davon. »Ich war ausgekniffen, weil ich meiner Mutti so gern einen Gutenmorgenkuß geben wollte,« ein sprechender Blick zum Fenster hin wies Tante Lenchen gleich den Weg, den sie genommen.

»Das war nicht recht von dir, mein Herzchen, sowas darfst du nicht wieder tun. Wer bei uns im Kinderheim ist, muß gehorchen und sich nach unserer Hausordnung richten. Vor sieben Uhr wird nicht aufgestanden. Versprichst du mir, Annemie, künftig brav zu sein wie die anderen Kinder?«

»Ja, das habe ich mir schon selber vorgenommen, weil – weil – – –« jetzt stockte die Kleine doch.

»Na, weshalb denn?« Tante Lenchens gütigen Augen gegenüber konnte man nichts verschweigen.

»Weil die Frau Kapitän so weißes Haar hat!« damit entwischte Annemarie auf ihren himmelblauen Wollstrümpfen flink in ihr Zimmer.

Ganz klar war ja wohl die Antwort nun nicht. Aber Tante Lenchen verstand sie im Zusammenhang mit dem Besuch bei Mutter Antje trotzdem – das machte ihr das fremde Kind, das es ihr in seinem offenen Liebreiz sogleich angetan, noch lieber.

Oben war Dörthe, das Hausmädchen, damit beschäftigt, die langen Zöpfe der Hamburger Ellen zu flechten. Mit Hallo wurde die kleine Ausreißerin empfangen.

»Oll Modder Antjes S–tube s–teht obenan im Kinderheim, dort sind wir alle am liebsten,« erzählte Ellen, als Annemarie von ihrer neuen Bekanntschaft berichtete.

»Ja, besonders im Winter, wenn es schneit, und der Sturm mit dem Meer um die Wette heult. Dann hocken wir alle ringsum auf Mutter Antjes Ofenbank. Und dann legt sie Bratäpfel für uns in die Ofenröhre, und während sie spinnt, erzählt sie uns schöne Märchen,« fiel auch Gerda ein.

»Au – das muß fein sein!« Annemarie freute sich schon im voraus auf die Sturmtage im Winter. Sie vergaß ganz, daß sie ja die feste Absicht hatte, mit Mutti wieder nach Berlin zurückzufahren.

Die blonden und braunen Zöpfchen waren alle geflochten, die roten und blauen Haarschleifen sämtlich gebunden. Nun saß die ganze ausgeschlafene Gesellschaft mit blanken Augen im Eßzimmer um die Tafel beim Kakao. Annemarie Braun hatte als Neue ihren Platz wieder neben Tante Lenchen. Eins der Kinder sprach ein Morgengebet, und dann langten sie alle tapfer zu. Annemarie, die bereits aus Mutter Antjes Hochzeitstasse gefrühstückt, eilte es nicht so damit. Sie unterzog inzwischen all die kauenden, trinkenden und schwatzenden Kinder einer eingehenden Musterung.

Da waren erst mal die Vroni und die Gretli, zwei blonde Schwestern, die immer Hand in Hand gingen und nebeneinander saßen. Sie mochten wohl etwas jünger als Annemarie sein. Aber dafür waren die beiden Freundinnen Lies und Lott, die stets die Köpfe zusammensteckten und kicherten, bereits richtige Backfische. Die waren schon so groß wie Kusine Elli in Arnsdorf. Die schwarzhaarige Suse war die Freundin von der Hamburger Ellen, trotzdem sie erst zwölf Jahre alt war. Und neben der Frau Kapitän saß noch Klein-Annekathrein, das Flachsköpfchen aus Stettin und gleichzeitig das Nesthäkchen des Kinderheims. Denn es war erst fünf Jahre alt. Nun kamen die jungen Herren an die Reihe. Zwei nett aussehende Jungen zwischen neun und zwölf Jahren, Lothar und Erich. Aber einer war darunter, der schien ein kleiner Rüpel zu sein, ähnlich wie Klaus. Gestern am Strand hatte er Annemarie heimlich, als es keiner sah, an ihrem Rattenschwänzchen geziept, und heute hatte er ihr zum Guten Morgen gar eine lange Nase gemacht. Peter hieß der Strick, er war etwas größer als sie selbst. Aber sie wollte schon mit ihm fertig werden, mit Klaus hatte sie sich doch auch kunstgerecht gekeilt. Grade als Annemarie diesem Gedanken durch kräftiges Recken ihrer Arme unter dem Tisch lebhafteren Ausdruck gab, wanderte ihr Blick zur Frau Kapitän hin. Auf deren weißen Haar flimmerte die durchs Fenster fallende Morgensonne. Himmel – sie hatte sich ja vorgenommen, der Frau Kapitän nur Freude zu machen. Ob ihr der soeben gefaßte kriegerische Plan wohl zur großen Freude gereichen würde?

Wieder erklang die Glocke. Das Frühstück war beendigt, die Kinder begaben sich in das Klassenzimmer. Nur Klein-Annekathrein, die noch nicht schulpflichtig war und Annemarie, die sich noch erholen sollte, blieben zurück.

Dörthe, das Hausmädchen, die das Tassengeschirr abräumte, flüsterte Tante Lenchen einige leise Worte zu. Diese wandte sich an Annemarie, die sich gerade bemühte, aus ihrem Taschentuch eine Maus für das flachsblonde Kleinchen zu verfertigen.

»Annemarie, ich vergaß, dich auf unsere Hausordnung aufmerksam zu machen. Jedes Kind hat sowohl des Morgens wie auch zu jeder anderen Tageszeit beim Verlassen des Zimmers alle seine Sachen hübsch fortzuräumen. Du konntest das ja noch nicht wissen,« setzte sie hinzu, als sie sah, daß Annemarie rot wurde. »Aber von nun an weißt du es, nicht wahr, und wirst hoffentlich immer daran denken!«

Warum war Annemarie nur so rot geworden? Sie konnte die Hausordnung ja wirklich noch nicht kennen. Aber hatte Mutti und vor allem Fräulein daheim in Berlin nicht täglich über Mamsell Liederjahn, die ihre Sachen stets herumliegen ließ, gescholten? Nun taten es hier Fremde, und dieser Tadel ging tiefer.

Annemarie ließ ihre Maus zum Schmerz der Kleinen ohne Schwanz und lief eiligst nach oben, das Versäumte nachzuholen. Ja, die beiden anderen Mädel hatten alles höchst gewissenhaft zur Seite geräumt, nur ihre Siebensachen waren lustig umhergestreut. Der Kamm hatte sich ins Bett verkrochen, die Zahnbürste thronte noch auf dem Fensterbrett, da ihre Besitzerin beim Zähneputzen nur ganz schnell mal das Meer angucken mußte. Handtuch und Seiflappen machten es sich auf einem Stuhl bequem, und das schöne weiße Nachthemd lag gar als Betteppich auf der Erde.

Mit rascher Hand schaffte Annemarie Abhilfe. Und als nun nichts mehr im Zimmer herumlag, da hatte sie selber ihre Freude daran. Viel mehr, als wenn Fräulein ihr zu Hause nachgeräumt hatte.

Aber die Dörthe, die hatte es ein für allemal mit Doktors Nesthäkchen verdorben – pfui – das war ja 'ne Petze!

Die unverständige Annemarie überlegte nicht, daß es die Pflicht des Mädchens war, Ungehörigkeiten zu melden. Wie sollte sonst wohl bei so vielen Kindern die Ordnung aufrecht erhalten werden!

Nun war es aber schon in der neunten Stunde, die höchste Zeit, daß sie zu ihrer Mutti herumlief. Sonst ging Mutti am Ende fort. Annemarie setzte den neuen roten Südwester auf die jetzt schön gekämmten Haare und dachte wohl auch für einen Augenblick an das Versprechen, das sie vor kurzem Tante Lenchen gegeben. Aber Tante Lenchen hatte doch bloß gemeint, daß sie künftig nicht mehr vor sieben Uhr aufstehen sollte. Und sie hatte doch jetzt gar nichts zu tun, wo die anderen Kinder Schule hatten.

Spornstreichs wollte sie durch den Garten davon.

»Uo uollen du hin?« erklang es da plötzlich von einem Bänkchen unter dem großen Apfelbaum.

War sie gemeint? Annemarie machte jedenfalls gehorsam halt. Ja, Miß Johns sommersprossiges Gesicht wandte sich ihr zu.

»Ich springe bloß mal schnell zu meiner Mutti herum, ich muß ihr doch die beiden ›Kusse‹ geben,« gab der Blondkopf schelmisch Auskunft.

Aber Miß John verstand nicht mehr Spaß als Deutsch.

»Haben du der Erlaubnis von Mrs. Clarsen?« forschte sie.

»Nee,« gab Annemarie ziemlich befangen zur Antwort.

»Dann du bleiben hier, keine Kind ist erlaubt zu laufen allein aus die Garten.«

»Aber ich will doch zu meiner Mutti, die geht sonst ohne mich weg,« rief Annemarie empört.

»Du bleiben hier,« die Engländerin war nicht aus ihrer Ruhe zu bringen.

Da kam Tante Lenchen, mit der großen grünen Gießkanne bewaffnet, den Gartensteig herauf. Aufschluchzend vor Enttäuschung eilte Annemarie auf sie zu.

»Aber Kind – Herzchen – was ist denn geschehen?« forschte sie erschreckt.

»Miß John will mich nicht zu meiner Mutti lassen,« Fräulein Wüterich stampfte sogar ein wenig mit dem Fuß auf.

»Aber Annemarie, ich denke, du wolltest der Frau Kapitän Freude machen?« mahnte Tante Lenchen ernst.

»Ja, das will ich ja, aber meiner Mutti doch auch. Und Mutti freut sich bestimmt ganz schrecklich, wenn ich komme, sie wartet gewiß schon auf mich.«

»Nein, das tut sie nicht. Annemarie. Wenn du ohne Erlaubnis aus dem Kinderheim fortgelaufen bist, freut sie sich gar nicht mit dir. Sie erwartet dich nicht, ich habe mit ihr verabredet, daß wir uns um zehn Uhr am Strande treffen.«

»Das ist noch so schrecklich lange, bis dahin mopse ich mich tot.« Annemaries Antwort klang nicht sehr artig.

»Bei uns hat sich noch kein Kind gelangweilt, hier gibt's Beschäftigung genug. Komm, du hilfst mir, und Klein-Annekathrein hilft auch,« wandte sich Tante Lenchen zu dem Kleinchen, das ihr stets wie ein Hündchen nachlief. Sie tat, als sähe sie gar nicht, wie mißmutig Annemaries hübsches Kindergesicht plötzlich dreinschaute.

»Bist du unartig?« flüsterte Klein-Annekathrein der großen Annemarie zu und faßte mitleidig nach ihrer herabhängenden Hand.

»Nee – laß mich!« unwirsch machte Annemarie sich los. Aber im selben Augenblick kam ihr auch das Häßliche ihrer Abweisung zum Bewußtsein. Wie erstaunt die großen Braunaugen von Annekathrein sie ansahen. Flink schlang die Große den Arm um die Schultern der Kleinen und drückte das flachsblonde Köpfchen zärtlich an sich.

»Ich helfe Tante Lenchen furchtbar gern, das ist so hübsch,« die Braunaugen strahlten wieder auf.

Auch Annemarie sollte bald sehen, wie hübsch es war, Tante Lenchen zu helfen. Zuerst bekam jedes Kind eine graue Gartenschürze mit Ärmeln übergezogen, die in dem kleinen Häuschen aus weißen Birkenstämmen, in dem die Gartengerätschaften aufbewahrt wurden, hingen. Zwar reichten sie den Kindern bis auf die Füße herab, aber das schadete nichts. Auch zwei kleine Gießkannen fanden sich, eine rote und eine grüne. Das schönste aber war die Pumpe. Ein Panschlieschen war Doktors Nesthäkchen von klein auf gewesen. Nun machte es ihr großen Spaß, den Plumpenschwengel in Bewegung zu setzen, die Gießkannen zu füllen und dann selbst den Wasserstrahl der Brause über die Gemüse- und Blumenbeete zerstäuben zu lassen. Annemaries Gesicht lachte wieder in die Welt hinein, aller Mißmut war daraus verschwunden. Doktors Nesthäkchen, das durch die Krankheit verwöhnt war, und auf dessen Wünsche man zu Hause zuletzt mehr als früher Rücksicht genommen hatte, sah, daß es hier nicht nach dem Willen ihres eigensinnigen Köpfchens ging, sondern nach dem anderer. Und diese Erkenntnis war ihr ebenso heilsam wie die frische Seeluft.

Noch öfters sollte Annemarie heute Gelegenheit haben, ihre kleine Person nicht als Mittelpunkt zu betrachten.

»So, Kinder, nun ist unsere Arbeit getan. Ihr seid aber tüchtig durchweicht, trotz der großen Schürzen. Dich, Kleines, ziehe ich selbst gleich um, Annemarie kann das schon allein besorgen, was? In einer Viertelstunde gehen wir an den Strand.« sagte Tante Lenchen.

»Schon?« Annemarie war ganz erstaunt. Die Zeit war ihr bei der frohen Arbeit im Umsehen vergangen.

»Du kannst deine Spielhöschen anziehen, die ich gestern in den Schrank gelegt habe, Annemarie, und Sandalen,« rief ihr Tante Lenchen noch nach.

Das war wieder eine Freude, denn das Putzlieschen legte für sein Leben gern neue Sachen an.

Selig ritt Annemarie nach kurzer Zeit das Treppengeländer in ihren grauen, rotbesetzten Leinenhöschen herab. Daß sie beim Vorkramen derselben, in dem von Tante Lenchen so sauber eingeräumten Schrank eine greuliche Unordnung veranstaltet hatte, das bekümmerte sie nicht. Für sowas hatte ja Fräulein zu Hause gesorgt.

Gerade war der Unterricht zu Ende. Die übrigen Kinder sprangen, lustig durcheinanderschwatzend, aus der Schulstube. Ein jedes griff nach seinem schon auf der Anrichte bereitliegenden Frühstückskörbchen und holte sein Badezeug, Sandschaufeln und Schiffchen. Dann wurde wieder zu Zweien angetreten, Annemarie natürlich Arm in Arm mit Gerda. Als der Zug sich eben unter Führung von Fräulein Mahldorf, einer liebenswürdigen jungen Dame, in Bewegung setzen wollte, fehlte Annemarie.

»Sie ist bloß noch mal schnell nach oben gelaufen, ihr Badezeug holen, das hatte sie vergessen«, berichtete ihre neue Freundin Gerda.

Da kam Annemarie auch schon wieder zurück, natürlich das Treppengeländer herabgesaust.

»Wildfang«, schalt die Erzieherin lächelnd. »Ein kleines Mädchen geht hübsch manierlich die Stufen herunter.«

Die anderen Mädchen lachten, und die Jungen quiekten Beifall.

»Annemarie, du kannst deinen Badeanzug zu Hause lassen«, Tante Lenchen, ihren grünseidenen Sonnenschirm in der Hand, trat aus Frau Kapitäns Wohnzimmer. »Du sollst die ersten vierzehn Tage noch nicht baden.«

»Och – ttt –« Annemarie schnalzte unzufrieden mit der Zunge. »Wenn die anderen Kinder baden, will ich auch. Wozu habe ich denn sonst den hübschen, blauen Badeanzug mit dem Anker bekommen?!« Schweren Herzens bequemte sie sich dazu, ihn zu Hause zu lassen, denn er hatte an Annemaries Badelust eigentlich mehr Anteil als die Nordsee selbst.

Tante Lenchen tat, als hätte sie die unartigen Worte nicht gehört. Man darf ein Kind nicht gleich am ersten Tage durch zuviel Ermahnen kopfscheu machen. Aber daß Doktor Brauns Nesthäkchen bei allem bestrickenden Liebreiz ein recht verzogenes kleines Fräulein war, das wurde ihr allmählich klar.

Einsilbig trottete Annemarie in ihren grauen Höschen neben Gerda dem Strande zu. Auch die anderen Kinder, wenigstens die kleineren, trugen sämtlichst dieses praktische Kleidungsstück. Nicht mal auf Mutti freute sich die Annemarie mehr. Der Schmerz um den neuen Badeanzug, den sie noch nicht einweihen durfte, wirkte zu niederdrückend. Vergeblich plauderte der rotblonde Lockenkopf neben ihr von allem, was heute in der Schulstunde durchgenommen worden. Die Neue blieb mucksch.

»Du, Annemarie, denk' mal, ich bin schon zwei Jahre in Wittdün und darf überhaupt nicht baden.« Ganz schlicht, nicht einmal traurig klang's von Gerdas Lippen. Und doch machten diese einfachen Worte den allertiefsten Eindruck auf Annemarie. War sie nicht ein ganz undankbares Kind?

Bei dieser Erkenntnis flog der häßliche Schatten, der ihr Gesicht verdüstert, rasch davon. Mit einem hellen Jubellaut konnte Annemarie jetzt von den Dünen herab der unten am Strand nach ihr ausschauenden Mutter entgegeneilen.

»Mutti – fein ist's im Kinderheim – ich wohne mit der Gerda Eberhard zusammen, die ist meine neue Freundin, aber sie muß immer humpeln – und heute morgen habe ich aus Mutter Antjes Brauttasse Schokolade getrunken – ach, das süße Friesenhäuschen mußt du dir auch mal angucken. Mutter Antje sieht aus wie eine Spreewälderin. Und weißt du, warum unsere Frau Kapitän weiße Haare hat? Weil ihr Mann mit seinem Schiff untergegangen ist. Und ich darf noch nicht baden, sagt Tante Lenchen, und Miß John sagt – ach, die spricht ja zum Piepen, Mutti – ich soll dir heute zwei ›Kusse‹ geben, weil du gestern abend doch fort warst,« wie die Wellen des Meeres so quirlte und brodelte das aus Annemaries Mund. Freigebig entlud sie sich dabei ihrer »Kusse«. Die Mutter konnte sich kaum vor dem Ansturm retten.

»Ruhig – Lotte – sei doch nicht solch Umband, wie willst du bloß dick werden, wenn du so quecksilberig bist,« dämpfte Frau Doktor Braun die Lebhaftigkeit ihres Töchterchens. Aber das Glück, ihre Lotte wieder zu haben, sah ihr dabei aus den Augen.

»Ich werde bestimmt dick im Kinderheim. Da muß ich die olle, eklige Sahne immer mittrinken«, versprach Annemarie. »Und hier ist meine Freundin Gerda und das ist die Ellen, die redet wie Fräulein Neudorf in unserer Schule. Und die zwei sind Lies und Lott', und die – – –« Annemarie hätte wohl die Namen sämtlicher Kinder heruntergeschnurrt, wenn nicht inzwischen Tante Lenchen und Fräulein Mahldorf herangekommen wären und nun auch Frau Doktor Braun begrüßen wollten.

Annemaries Mutter sprach den Damen ihren herzlichsten Dank aus, daß sie sich ihres Kindes so warm angenommen und gleichzeitig ihre freudige Überraschung, ihre kleine Tochter so vergnügt und begeistert vom Kinderheim zu sehen. Sie hatte gefürchtet, trösten und zureden zu müssen. Nun schien es gar nicht der Schokolade, der hübschen Ansichtskarten und der neuen Schippe, die Frau Doktor Braun gekauft hatte, um ihr Nesthäkchen vergnügter zu stimmen, zu bedürfen. Froher konnte Annemarie eigentlich gar nicht sein, als sie es augenblicklich war. Sie hatte ihre Sandalen, wie die anderen Kinder, in ihrer Burg gelassen, und nun sprang die ganze barfüßige Gesellschaft, sich die Hände zu einer langen Kette reichend, in der warmen Sonne den augenblicklich während der Ebbe zurückflutenden Meereswellen nach. Wenn aber eine naseweise Woge sich einmal zu weit vorwagte, und die Barfüßchen alle überspülte, dann gab es lauten Juchhei.

»Ich glaube, das Meer trocknet aus«, rief Annemarie, als sie sah, daß die Fluten immer weiter und weiter zurückgingen, und immer mehr feuchter Strand herauskam.

»Schäfchen, das ist doch jetzt nur während der Ebbe«, eines der großen Backfische lachte das Dummchen aus.

Auslachen ließ sich Annemarie höchst ungern. Darum verschmähte sie es auch, sich näher danach zu erkundigen, was das mit der Ebbe eigentlich für eine Bewandtnis habe. Denn die kleine Landratte hatte noch nie etwas von Ebbe und Flut gehört. Aber bald darauf wurde sie schon wieder ausgelacht.

»Ach, die vielen, vielen Tauben!« Annemarie wies begeistert auf die über das Meer flatternden weißen Vögel.

»Haach – ist die dämlich!« sämtliche Kinder brachen in Lachen aus.

»Das sind doch Möwen und keine Tauben.« belehrte sie Ellen.

Annemarie aber lief beleidigt zu ihrer Mutti.

»Kinder, kommt frühstücken,« rief Tante Lenchen gerade zum Glück. Gehorsam löste sich die jubelnde Kette, und ein jedes eilte zu seinem Frühstückskörbchen.

Jetzt erst fiel es Annemarie auf, daß ihre Freundin Gerda ja nicht vorhin bei dem lustigen Wellenhaschen mitgetan hatte. Ganz allein saß das Lockenköpfchen in der gemeinsamen Burg und legte aus Gräsern, Blumen und Muscheln ein Gärtchen an.

»Du, Gerda, warum haste denn nicht mitgespielt?« fragte Annemarie erstaunt. »Es war so fein.«

»Ich kann solche wilden Spiele nicht mitmachen, und im Wasser darf ich überhaupt nicht waten«, gab Gerda so ruhig zur Antwort, als ob dies das Selbstverständlichste von der Welt sei. Wieder stand Doktors Nesthäkchen betreten da. Wie würde es selbst wohl geweint und gemurrt haben, wenn es von dem fröhlichen Spiel der anderen Kinder ausgeschlossen wäre.

»Du tust mir so leid, Gerdachen,« zärtlich legte sie ihre Hand mit dem Frühstücksbrot um der Freundin Hals.

»Warum denn?« ganz verwundert fragte es das Lockenköpfchen. »Der Garten, den ich für meine Puppe mache, wird auch wunderhübsch.«

Muttis mitgebrachte Herrlichkeiten wurden glückselig in Empfang genommen. Eine Ansichtskarte sollte der Vater bekommen und eine die Großmama. Aber an Margot, Fräulein und Kusine Elli in Arnsdorf wollte Annemarie auch nachher gleich schreiben.

»Nimm dir nicht zu viel vor, Lotte, dann wird gar nichts daraus. Wenn du jeden Tag eine Karte abschickst, das genügt.«

Die Schokolade, die Mutti ihr geschenkt, verteilte das gutherzige kleine Mädchen sogleich unter alle Kinder, trotzdem die sie vorhin ausgelacht hatten. Auch Peter bekam etwas davon ab; freilich, wenn Annemarie gewußt hätte, daß er nachher solch Nichtsnutz sein würde, hätte sie ihn gewiß nicht bedacht.

»Wir können heute vormittag nicht baden, Kinder, wir haben jetzt Ebbe, erst nachmittag ist wieder Flut,« Tante Lenchen trat zu der sich sonnenden kleinen Schar, die sich ihr Butterbrot, mit Schokolade belegt, schmecken ließ.

Wieder das Wort Ebbe – Annemarie beschloß Gerda um Rat zu fragen, die war doch schon zwei Jahre in Wittdün, die mußte das doch wissen. Und auslachen würde die sanfte Gerda sie sicher nicht.

»Du Gerda, wann ist denn eigentlich Ebbe?« fragte sie leise, damit die Großen es nicht hören sollten.

»Jetzt,« war die kurze, aber nicht sehr klare Antwort.

»Nee, das meine ich doch nicht, ich möchte wissen, was das ist.«

»Na, das siehst du doch. Wenn das Meer zurückgeht und ganz flach wird. Und wenn es wieder doll zum Strand hinfließt und alles überschwemmt, dann ist Flut. Da ist es am feinsten zu baden, sagen die Kinder.«

»Ja, warum fließt es denn aber bloß zurück und dann wieder doll zum Strand zu?«

»Na, das tut es eben«, weiter gingen Gerdas Kenntnisse auch nicht.

Damit beruhigte sich aber Doktors Nesthäkchen nicht. Das war gewöhnt, allen Dingen auf den Grund zu gehen und ihre Umgebung mit ihren ewigen Fragen zur Verzweifelung zu bringen.

»Mutti, woher kommt Ebbe und Flut?« jetzt wandte sich Annemarie an die richtige Adresse.

»Die Anziehungskraft des Mondes auf die Erde bewirkt das Fallen und Steigen des Meereswassers.« erklärte ihr die Mutter bereitwilligst.

Aber da ihr Nesthäkchen ein ziemlich verständnisloses Gesicht machte, meinte die Mutter: »Wenn du groß bist, wirst du das besser verstehen, Lotte.« Damit gab sich Annemarie nun endlich zufrieden.

Die anderen Kinder hatten jubelnd ihre Wellenjagd wieder ausgenommen. Annemarie kämpfte einen schweren Kampf. Gar zu gern hätte der Wildfang mitgetollt, aber – dort in der Burg saß Gerda ganz allein. Hatte sie nicht gesagt, sie wollte Gerdas Freundin sein?

»Ich spiele mit dir, Gerdachen, damit du nicht so allein bist.« Da war der heimliche Kampf des gutherzigen Kindes entschieden. Annemarie hatte gelernt, ihre eigenen Wünsche um anderer willen zu unterdrücken. Die glücklichen Augen Gerdas entschädigten sie reichlich dafür.

Die beiden Freundinnen gingen Muscheln für ihr Gärtchen suchen. Die allerschönsten schenkte Annemarie der Freundin, damit diese sich nicht so oft zu bücken brauchte, denn das wurde ihr schwer. Aber gar so leicht wurde Annemarie diese Selbstlosigkeit auch nicht.

Doch als sie, die Südwester voll herrlicher Muscheln, zu ihrem Gärtchen zurückkehrten, da war dasselbe verschwunden. Verschüttet von irgendeiner bubenhaften Hand.

Gerda weinte leise vor sich hin. In Nesthäkchen aber stieg der Zorn auf. Es wußte ganz genau, wo es den Missetäter zu suchen hatte. Lugten da nicht hinter dem hohen Gesträuch Peters schwarze Augen höhnisch zu ihnen herüber?

Ehe der Junge es sich versehen, hatte Annemarie ihn beim Kragen. Und als ob es Bruder Klaus wäre, so boxte und keilte sie sich nach allen Regeln der Kunst mit dem fremden Jungen. Vergessen waren die weißen Haare der Frau Kapitän – vergessen der Strand mit den vielen Menschen, die den kleinen Raufbolden, zum Teil belustigt, zum Teil kopfschüttelnd, zusahen.

Fräulein Mahldorf mußte mit ernstem Wort die beiden Kampfhähne trennen. Heiß und zerzaust kehrte Annemarie nach dieser Heldentat zu ihrer Mutter, die sich ihrer unmädchenhaften Tochter sehr schämte, zurück. Muttis vorwurfsvolle Augen und Tante Lenchens unzufriedene Miene sagten dem kleinen Mädchen mehr als Worte, daß es sich häßlich benommen.

Ja, viel hatte Doktors Nesthäkchen an dem ersten Tage im Kinderheim schon gelernt, aber – es blieb noch eine ganze Menge übrig.


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