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4. Kapitel. Genesung

Die Tage kamen und gingen. Die kahle Birke, deren violette bräunliche Zweige gegen das Fenster von Annemaries Krankenstübchen rauschten, bekam kleine Knospen. Und eines Tages waren sie alle nach einem linden Regen aufgesprungen, und winzige goldgelbe Blättchen wagten sich zaghaft an das Licht.

Von einem Tage zum andern beobachtete das kranke kleine Mädchen, wie die Birkenblättchen, die ihr Frühlingsgrüße brachten, größer und größer wurden. Mit lichten Schleiern überrieselt, wie eine Braut, stand die junge Birke jetzt schon da. Und immer noch mußte Doktors Nesthäkchen im Bett liegen.

Aber Langeweile hatte es nicht mehr. Dafür sorgte getreulich Puppe Gerda. Annemarie wurde während ihrer Krankheit wieder ein eifriges Puppenmütterchen. Nur wenn die Sonne gar zu lustig durch das Fenster hineinblinzelte und hinaus ins Freie lockte, kam sich Annemarie wie ein gefangenes Vögelchen vor. Ach, jetzt spielten Hans und Klaus wieder Fußball draußen auf den Wiesen in Treptow, und ihre Freundinnen konnten jeden Nachmittag in dem frühlingsgrünen Tiergarten umhertollen. Nur sie durfte nicht aus ihrem Käfig heraus. Täglich quälte sie den Vater: »Vatchen, liebes einziges Vatichen, darf ich denn noch immer nicht aufstehen?«

Aber Vater vertröstete seine Lotte von einer Woche zur andern.

So ging der April hin, und der Lenzmonat, der Mai, hielt seinen Einzug in die Welt. Da sagte Doktor Braun endlich eines Tages zu Schwester Elfriede: »Ich denke, Schwester, wir können unsern Wildfang morgen auf ein Stündchen aufstehen lassen.«

»Hurra!« – selig jauchzte es aus dem Bett. Die ernsten weißen Wände blickten ganz erstaunt drein. Oft kam es nicht vor, daß hier im Hause der Krankheit solch ein Jubel erschallte.

War denn noch immer nicht morgen? Heute verging der kleinen Patientin die Zeit wieder schrecklich langsam.

Und als der nächste Tag endlich herangekommen war, da hieß es für Fräulein Ungeduld immer noch warten. Kaum hatte Annemarie die Augen aufgemacht, rief sie auch schon: »Schwester Elfriede, bitte meine Strümpfe, heute darf ich aufstehen!«

»Aber vorläufig doch noch nicht, mein Herz. Das erste und zweite Frühstück bekommst du noch im Bett. Gegen Mittag nehme ich dich dann ein Stündchen auf.«

»Ich bin doch kein Baby mehr, das aufgenommen werden muß, ich ziehe mich schon seit zwei Jahren allein an. Und Vater hat gesagt, ich darf heute aufstehen«, ungezogen rief es die enttäuschte Annemarie.

Aber bei Schwester Elfriede konnte man nie lange unartig sein. Die hatte dann eine so besondere Art, einen anzusehen, halb überlegen und halb erstaunt, daß solch ein großes Mädchen sich noch so ungehörig benehmen konnte. Obwohl Annemarie sich fest vorgenommen hatte, nun ihren Milchkaffee überhaupt nicht zu trinken, wenn sie ihn noch in dem »ollen Bett« bekam, mochte sie Schwester Elfriede, die so gut für sie sorgte, schließlich dann doch nicht ärgern.

Dafür mußte die Schwester ihr versprechen, sie noch etwas länger als bloß ein Stündchen aufzulassen. Sie wollte doch nach dem langen Stilliegen wieder mal ordentlich herumspringen.

»Ach, Annemiechen,« meinte die Schwester lächelnd, »mit dem Herumspringen wirst du dir wohl noch etwas Zeit lassen müssen. Wenn man so viele Wochen im Bette gelegen hat, ist das nicht so einfach.«

Annemarie sah Schwester Elfriede verständnislos an.

Herumspringen – das war doch das Einfachste von der Welt. Nun war's endlich so weit. Die Schwester hatte Annemaries Sachen auf den Stuhl ans Bett gelegt und ging noch einmal hinaus, eine warme Decke für sie zu holen.

Hast du nicht gesehen, war der Wildfang aus dem Bett. Annemarie wollte Schwester Elfriede überraschen und ihr zeigen, daß ein zehnjähriges Mädchen kein Baby mehr war und sich ohne Hilfe ankleiden konnte.

Aber was war denn das? Die Beine knickten ja förmlich unter ihr zusammen. Und als Annemarie jetzt nur einen kleinen Schritt machen wollte, da lag sie auch schon auf der Nase.

Schwester Elfriede, die nach wenigen Sekunden wiederkehrte, fand ihre kleine Patientin weinend an der Erde. Erschreckt sprang sie herzu.

»Um Himmelswillen, Annemariechen, bist du aus dem Bett gefallen?« sie spedierte das so leicht gewordene Dingelchen schnell wieder hinein.

Annemarie weinte bitterlich. Sie konnte gar nicht sprechen vor Schluchzen.

»Herzchen, hast du dich gestoßen, tut es dir irgendwo weh?« forschte die Pflegerin ängstlich.

Da kam es endlich stoßweise heraus:

»Ich – ich kann nicht mehr laufen. Ganz – ganz lahm bin ich durch die Krankheit geworden wie der – wie der alte Bettler mit der Harmonika im Tiergarten.«

»Aber Annemiechen, wenn das dein einziger Kummer ist, dann kannst du deine Tränen ruhig trocknen. Du wirst bald wieder laufen und herumspringen können wie früher. Nur wird's noch ein Weilchen dauern. Habe ich dir das nicht gleich gesagt?«

Ja, Schwester Elfriede hatte recht behalten. Auch damit, daß sie Annemarie wie ein Baby aufnehmen und anziehen mußte. Die Kleine war so schwach, daß sie nichts allein machen konnte. Das hatte sie im Bett gar nicht gemerkt. Zuguterletzt wickelte sie Schwester Elfriede in die warme Decke und trug sie in den großen Sessel am Fenster mitten in die lachende Maisonne.

Aber das sonst ebenfalls stets lachende Mädelchen schaute gar nicht vergnügt drein. Das hatte es sich eigentlich doch ganz anders vorgestellt, das Aufstehen. Es hatte geglaubt, daß es nun vollständig gesund wäre und gleich wieder herumlaufen könnte wie damals nach den Masern. Eigentlich – wenn Annemarie ehrlich war – hatte sie sich im Bett viel wohler gefühlt als im Lehnsessel.

Als Doktor Braun kam, machte er: »Puh, Lotte, wie siehst du aus! So darf ich dich der Mutti nicht nach Hause bringen. Dich müssen wir erst wieder tüchtig herausfüttern. Aber ich denke, für heute ist es nun genug.«

Und Annemarie, die sich vorgenommen hatte, den Vater recht sehr zu bitten, sie doch noch wenigstens über das Mittagbrot aufzulassen, machte gar keine Einwendungen. Ordentlich froh war sie, als sie wieder in ihrem Bette lag.

Aber das blieb nicht so. Junge Kräfte kehren schneller zurück als alte; jeden Tag fühlte sich die kleine Genesende ein wenig frischer. Freilich mit dem Laufen wollte es noch immer nicht recht gehen. Wie ein ganz kleines Kind mußte sie es erst wieder lernen, ein Schrittchen nach dem andern, auf Schwester Elfriedes Arm gestützt.

»Heute habe ich eine Überraschung für dich, meine Lotte,« sagte Doktor Braun an einem besonders warmen, wonnigen Maitage. »Du darfst ein bißchen in den Garten hinunter.«

»Ja – wirklich?« Aber das glückselige Leuchten in den strahlenden Kinderaugen erlosch gleich wieder. »Ach nee – lieber nicht – ich hab' keine Lust.«

»Nanu?« verwunderte sich der Vater, der aus seinem Nesthäkchen nicht klug wurde.

»Ich kann ja doch nicht herumlaufen. Tragen lassen mag ich mich nicht von Schwester Elfriede, da schäme ich mich ja vor den andern, daß solch ein großes Mädchen noch auf den Arm genommen wird.« Höchst trübselig klang es.

»Deshalb brauchst du dich nicht zu schämen, meine dumme Lotte. Den andern geht es nicht besser wie dir. Im Gegenteil, die möchten gewiß gern mit dir tauschen. Du hast allen Grund, dem lieben Gott dankbar zu sein, daß er dich wieder gesund gemacht hat,« sagte der Vater ernst.

»Und dir, Vatichen,« das Töchterchen küßte zärtlich seine Hand, denn einen richtigen Kuß durfte sie ihm noch immer nicht geben.

Annemarie wurde warm angezogen, »als ob es nach Sibirien geht,« lachte sie.

Von Vater auf der einen Seite, und auf der anderen von Schwester Elfriede gestützt, schritt sie zum erstenmal aus ihrem Käfig. Draußen stand ein Stoßwagen, dort hinein wurde das kleine Fräulein gehoben und gut in Decken verpackt.

»Wie Margots kleines Schwesterchen,« lachte Annemarie. Die Sache begann ihr Spaß zu machen.

Der Wagen mit der kleinen Patientin wurde mit dem Fahrstuhl hinuntergeschafft, und nun war man endlich unten.

Einen tiefen Atemzug tat Annemarie. Ach, war das schön auf der sonnigen Gotteswelt. Niemals war ihr das vorher je zum Bewußtsein gekommen. Wie einem gefangenen Vögelchen, dem man die Freiheit zurückgibt, war ihr zumute. Und dabei durfte sie doch ihre Schwingen noch immer nicht recht regen.

Es war ein nicht allzu großer Garten, der zu der Klinik gehörte, wie man sie noch vereinzelt im alten Westen Berlins findet. Aber die in lichtem Frühlingsgrün prangenden Bäume lugten schwarze Schornsteine und rußige Dächer. Aber was schadete das! Drunten blühte der Flieder in roten, blauen und lila schwerduftenden Dolden. Die hängenden Zweige des Goldregens streiften liebkosend die bleichen Wangen der kleinen Genesenden. Und als Schwester Elfriede den Wagen jetzt an das große Stiefmütterchenbeet mitten in die Prallsonne schob, da glaubte die so lange ins Krankenzimmer gesperrte Annemarie niemals in ihrem Leben einen schöneren Garten gesehen zu haben.

»So, Blaßschnabel, nun laß dir von der lieben Sonne deine bleichen Bäckchen rot anmalen,« scherzte Doktor Braun und eilte weiter zu seinen anderen Patienten.

Annemarie dehnte sich wohlig in der milden Blütenluft. Sie lugte in das Lila der Fliederbüsche, lauschte auf die Frühlingslieder der gefiederten kleinen Gesellschaft und belustigte sich an einem Spatzenpärchen, das sich mit wütendem »Piep« herumzankte.

Dann begann sie im Garten Umschau zu halten. Hier und da standen Stoßwagen, gleich dem ihren, mit elend aussehenden Menschen darin. Alle hofften sie, in dem warmen Lenzsonnenschein zu gesunden. Auf der anderen Seite des Gartens waren Liegestühle aufgestellt. Annemaries scharfe Augen entdeckten auf einem derselben einen Knaben mit wachsbleichem Gesicht. Seine großen Augen sahen ebenfalls zu ihr herüber.

Ach, daß sie hätte aufspringen und zu ihm hinlaufen können! Annemarie stieß wütend mit ihren Beinen gegen den unschuldigen Wagen. Es gefiel ihr plötzlich gar nicht mehr in dem Garten, den sie noch eben so bewundert. Was hatte sie denn von all den hübschen Kieswegen, wenn sie dieselben nicht entlang laufen konnte, sondern hier still liegen mußte! Und an den Blumen hatte sie auch keine Freude mehr – sie konnte sie ja doch nicht pflücken.

Schwester Elfriede war in die Küche gegangen, um eine Erfrischung für ihre Patientin zu holen. Wie erstaunt war sie, als sie bei ihrer Rückkehr Annemaries verdrießliche Miene gewahrte.

»Nanu, ist dir nicht gut, Kind – ist es nicht schön hier draußen?«

»Nee – gar nicht,« brummte Annemarie.

»Aber du warst doch vorhin so vergnügt, daß du in den Garten durftest, sieh doch mal, wie alles grünt und blüht–«

»Ja, aber wenn man so still liegen muß, ist es grade so mopsig wie oben. Ich will herumlaufen!« weinerlich tönte es in das Lenzjauchzen der Vöglein.

»Du bist ein recht undankbares Kind, Annemarie,« sagte Schwester Elfriede ernst. »Anstatt froh zu sein, nun endlich den schönen Gottesfrühling genießen zu können, bringst du dich selbst um die Freude. Sieh mal den kleinen Jungen da drüben« – die Schwester wies über das Stiefmütterchenbeet zu dem Kleinen, der eigentlich schuld an Annemaries schlechter Stimmung war. »Das arme Kerlchen ist seit seiner Geburt lahm, er wird vielleicht niemals gehen und springen können wie andere Kinder. Und nun hat er noch obendrein eine schwere Operation durchmachen müssen.«

Annemarie blickte voll Interesse und Mitleid zu dem Kleinen hinüber. Wie undankbar von ihr, zu murren, daß sie sich noch nicht selbst fortbewegen konnte. Dabei handelte es sich bei ihr doch nur um Tage, während der arme Knabe – Annemaries weiches Herz war ganz erfüllt von innigem Mitgefühl.

»Liebe Schwester Elfriede, ach bitte, bitte, fahren Sie mich doch zu dem kleinen Jungen hinüber. Ich möchte mich so gern mit ihm unterhalten.«

»Kindchen, das darf ich nicht, so gern ich's auch täte. Du bist noch nicht ganz aus den Ansteckungswochen heraus, ich habe dich deshalb in den abgelegensten Teil des Gartens gefahren.«

Annemarie wollte schon wieder das Gesicht unwillig verziehen. Aber auch rein gar nichts wurde ihr doch erlaubt! Da aber wanderte ihr Blick wieder zu dem kleinen Jungen hinüber und – sie schämte sich.

»Bitte, Schwester Elfriede, würden Sie nicht einen Strauß Flieder abschneiden – Vater hat erlaubt, daß wir uns einen Busch mitnehmen – und ihn dem armen Jungen mit einem schönen Gruß von mir bringen?« bat sie.

Das tat die gute Schwester gern.

Annemarie konnte erkennen, wie die Augen des kranken Knaben vor Freude aufleuchteten. Und jetzt nickte er ihr einen Dank hinüber.

Von nun an war Annemarie mit dem gelähmten Jungen gut Freund. Zwar sprachen sie sich nie, aber sie grüßten sich und winkten sich zu. Der Kleine schrieb ihr Briefchen, und Annemarie antwortete mündlich durch Schwester Elfriede. Denn auch Briefe können anstecken.

Auf diese Weise erfuhr das kleine Mädchen, daß der Junge Kurt hieß, und ebenfalls zehn Jahre alt war. Daß er noch niemals in eine Schule gegangen, sondern immer daheim unterrichtet worden sei, und daß er gar nicht weit von ihnen wohnte.

Annemarie konnte die Stunde, wo es in den Garten hinausging, jetzt nie erwarten. Den ganzen Morgen überlegte sie schon, was sie ihrem Freund alles wollte bestellen lassen. Zum Glück war der Mai herrlich, nur selten enttäuschte ein Regentag die sich aufeinander freuenden Kinder.

So kam das Pfingstfest heran und damit der Zeitpunkt, wo Annemarie gesund erklärt und wieder heimkehren durfte.

Das kleine Mädchen war selig. Halbtot freute sie sich aus jeden Einzelnen, vor allem natürlich auf Mutti. Und dann auf ihre Kinderstube, auf Puck und Mätzchen, auf die Schule und alle ihre Freundinnen – Schwester Elfriede konnte gar nicht behalten, was Annemarie in ihrer Heimkehrfreude dem kleinen Kurt alles sagen ließ.

Der sah noch bleicher aus als sonst, als er hörte, daß das blonde kleine Mädchen nicht mehr in den Garten kommen würde. Aber er war ein solch guter, selbstloser Junge, daß er seiner Freundin die Freude durch kein trauriges Wort trüben mochte.

Annemarie hatte inzwischen wieder laufen gelernt. Zwar mit dem Umherspringen haperte es immer noch, gar zu leicht ermüdete das kaum genesene Kind. Aber sie konnte doch, ehe sie die Klinik verließ, selbst zu Kurt in den Garten gehen und sich von ihm verabschieden. Denn jetzt war sie nicht mehr »gefährlich«, wie Schwester Elfriede lachend sagte.

Ach, von der guten, sanften Schwester ward ihr das Scheiden doch recht schwer. Gar so lieb und treu hatte sie für sie gesorgt. Aber als Annemarie, ihre Gerda auf dem Arm, erst neben Vater in der Droschke saß, da dachte sie nur vorwärts und nicht mehr zurück.

Es war ein lachender Pfingstsonntag, als Doktors Nesthäkchen wieder daheim ihren Einzug hielt. Die Sonne strahlte so golden, die Glocken klangen und brausten von allen Kirchen Berlins. Es war, als habe die ganze Welt sich zum Empfang des blonden Doktorkindes geschmückt. Auf dem Balkon hatte die ganze Braunsche Familie, Puck eingerechnet, Aufstellung genommen. Die Jungen ließen ihre Taschentücher flattern und schrien »Hurra«, als die Droschke unten hielt.

Die Mutter aber faltete beim Klang der Pfingstglocken ihre Hände und dankte Gott aus tiefem Herzensgrund, daß er ihren Liebling behütet hatte.


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