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16. Kapitel. Sturmflut

Der Spätherbst hatte noch einige schöne Oktobertage gebracht.

»Heute gehen wir Preiselbeeren suchen«, verkündete Tante Lenchen der begeisterten Kinderschar.

Mit Körben, Töpfen und Kannen bewaffnet, so zog die ganze Gesellschaft in die violett blühende Heide. Nach Steenodde und dem Wattenmeer zu sollte es die reichste Ausbeute geben.

Emsig wurde unter Lachen, Singen und Scherzen geerntet. Kannen und Körbe füllten sich bald mit den hellroten Beeren. Ei – die sollten im Winter den fleißigen Sammlern schmecken. Aber auch viele verspätete Blaubeeren fand man noch, die zu der mitgenommenen Milch herrlich mundeten.

Auf der mit unzähligen großen und kleinen Hügeln bedeckten Heide lagerten die Blaumäulchen alle zum fröhlichen Mahl

»Wißt ihr auch, was das hier für Hügel sind?« fragte Fräulein Mahldorf ihre Schüler.

Keiner wußte Antwort zu geben.

»Das sind Hünengräber aus der Zeit der Wikinger, jenem alten Normannenstamm, dem um das Jahr 1000 die gefürchteten Seeräuber entsprossen. Noch in unseren Tagen hat man bei Ausgrabungen silberne Schwerter, Ringe und bronzene Urnen in den Hünengräbern aufgefunden, die in das Kieler Museum gewandert sind,« erklärte die Lehrerin ihnen.

Mit großen Augen lauschten die Kinder. Das war ja beinahe so interessant wie die Gruselgeschichten von Fräulein Julchen. Scheu blickten sie auf die mit Heidekraut bewachsenen kleinen und großen Hügel ringsum.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr noch ein bißchen wattlaufen, wir haben grade Ebbe und die Sonne brennt ja heute wie im Hochsommer,« schlug Tante Lenchen vor.

Da zerflatterten die Sagengeister, die um die alten Hünengräber ihr Wesen trieben und auch die jungen Kinder kurze Zeit in ihren Bann geschlagen. Jubelnd wurde Tante Lenchens Vorschlag befolgt. Denn »Wattlaufen«, das war neben dem Waten in der See das größte Vergnügen für die Kinder. Selbst Peter, der brennend gern noch mehr von den Wikinger Seefahrern gehört hätte, fand Wattlaufen nicht weniger schön.

»Aber nicht länger als eine Stunde, es wird früh Nacht,« rief Tante Lenchen, die mit Fräulein Mahldorf und Gerda in der Heide zurückblieb, den unter Aufsicht von Miß John Davoneilenden nach.

Im Nu waren Schuh und Strümpfe ausgezogen. Da standen sie auch schon an der meilenweit sich erstreckenden braunen Flur, die jetzt während der Ebbe vollständig wasserfrei vor ihnen lag. Bei zurückkehrender Flut wurde alles wieder zum Wattenmeer.

Herrlich war es, barfuß auf dem feuchtwarmen Boden dahinzulaufen. Die Kinder spielten Haschen und andere lustige Spiele. Dabei kam es auch vor, daß eins plötzlich laut aufschrie, wenn es sich an einer Muschel geritzt oder unvermutet auf eine Qualle getreten. Aber das erhöhte das Vergnügen nur noch.

»Kinders, ihr mußt passen auf, nicht zu gehen zu fern, wir mussen sein punktlich zuruck,« vergeblich rief Miß John es hinter den in ungebundener Freiheit sich Tummelnden her.

Hallo – da gab es ja Krabben in Unmengen, die das Meer zurückgelassen hatte. Eiligst wurden Hüte und Mützen damit gefüllt, denn ein Krabbengericht war ein beliebtes Abendbrot in Wittdün.

»Kinders, jetzt wir gehen zuruck. Es ist an die Zeit, Tante Lenchen ist wartend auf uns,« damit machte Miß John energisch kehrt.

Die übermütigen Krabben ließen ihren Krabbenfang in Stich und folgten, wenn auch schweren Herzens, der Engländerin.

Nur zwei waren wieder mal ungehorsam. Peter und Annemarie.

»Wir können ruhig noch ein Stück weiter gehen,« überredete Peter seine kleine Kameradin bei allen dummen Streichen. »Wir laufen ja viel schneller als Miß John. Wenn wir nachher zurückrennen, holen wir sie längst noch ein.«

»Ach nee, Tante Lenchen wird böse sein,« wandte Annemarie ein, die erst vor wenigen Tagen versprochen hatte, von nun an immer brav zu sein.

»Merkt sie doch überhaupt gar nicht, du Schafskopf. Wir kommen bestimmt zu gleicher Zeit mit den anderen zurück. Aber wenn du nicht willst, dann laß es bleiben! Dann suche ich eben allein nach den silbernen Schwertern und den goldenen Ringen der Wikinger.« Peter glaubte nämlich fest und steif, daß hier auf dem Watt, wo das Meer allerlei heranspülte, auch noch Schmuckstücke der alten Wikinger zu finden sein müßten.

Annemaries Schwanken war besiegt. Einen Ring wünschte sich das Putzlieschen schon lange. Was würde bloß Gerda sagen, wenn sie mit einem goldenen Wikinger Ring zurückkam! Peter dagegen hoffte bestimmt, ein silbernes Schwert zu finden.

Glänzte es da nicht golden in der braunen Erde? Ach nein, das war nur ein Stückchen Bernstein, welches das Meer herangeschwemmt. Aber dort – nein, da – noch ein Stückchen mehr nach links, dort flimmerte es doch silbern – wieder nichts, nur ein feuchter, in der Sonne blitzender Stein hatte sie gelockt. Immer weiter und weiter eilten die Kinder, sie wollten, sie mußten doch irgend etwas finden.

Keins von ihnen sah, daß die Sonne sich verkrochen hatte, daß schweres, schwarzes Gewölk von Nordwest heraufzog. Der Sturm begann sein wildes Lied zu blasen, tüchtig zauste er die bösen Kinder bei den Haaren.

»Peter – wir müssen umkehren! Es ist gar nichts mehr von Miß John und den übrigen zu sehen«, ängstlich rief es Annemarie, tiefaufatmend mit erhitzten Wangen stehen bleibend. Ihr kam plötzlich ihr Ungehorsam jäh zum Bewußtsein.

Der Junge machte widerwillig halt. Sein Dickschädel ging nur schwer von etwas ab, was er sich mal in den Kopf gesetzt.

»Meinst du wirklich?« Peter zögerte noch immer.

Aber was war das? Ein Heulen, ein Brausen und Tosen plötzlich in den Lüften – war das nur der Sturm? Große Tropfen schlugen vom gelblich düsteren Himmel und durchnäßten die Kinder im Umsehen. Wie ein Wirbel packte sie der Nordwest, daß sie kaum die Augen zu öffnen vermochten.

Da – wieder dieses Heulen und Brausen – und jetzt ein deutliches Gurgeln und Wogen dazwischen – – –

»Peter – Peter – die Flut kommt!« entsetzt schrie es Annemarie in das Toben der Elemente hinein.

»Schnell zurück zum Strand!« Der kräftigere Junge packte das zarte Mädel, das sich kaum vor der Gewalt des Nordseesturmes aufrechthalten konnte und zog es mit sich fort.

Ja, wo war der Strand? Sie wußten es alle beide nicht mehr. Bei dem Kreuz- und Querlaufen hatten sie vollständig die Richtung verloren. Nichts wie eine unendlich weite braune Fläche ringsum, wohin sie auch blickten, und da – wieder das Gurgeln und Brausen, nicht nur hinter ihnen, nein, von allen Seiten kam die Flut.

»Lieber Gott – strafe uns nicht so sehr für unseren Ungehorsam!« weinend, mit erbleichenden Lippen betete es Doktors Nesthäkchen, während es sich von Peter vorwärts ziehen ließ.

Die Erde unter ihren nackten Füßen quietschte vor Nässe. Aus dem Boden heraus sprangen die Wasser, schon überspülten kleine Sturzwellen ihre Füße bis zum Knöchel.

»Ich glaube wir laufen in verkehrter Richtung – wir laufen der Flut noch entgegen!« auch Peter, dem so leicht nicht bange zumute wurde, war jetzt leichenblaß.

Wieder wurde kehrt gemacht – aber nein, da wälzten sich ja schon die schwarzgrünen Wogen brausend und unheilvoll wie eine furchtbare, alles niederreißende Mauer aus der Ferne auf sie zu – »zurück – zurück, das Meer kommt!« wie gejagt eilten die Kinder über den glitscherigen Boden vor der sie verfolgenden, hinter ihnen her brüllenden Brandung davon.

»Der Quallenkönig – der Quallenkönig nimmt Rache, daß wir seiner zu spotten gewagt haben!« war das noch der mutige Peter, der da mit schlotternden Knien vor dem sicheren Verderben Reißaus nahm?

»Mutti – Mutti – iii – – –« Annemarie schrie es wie am Spieße.

Ach, Mutti war weit. Die hörte den Angstschrei ihrer Lotte nicht. Die ahnte nicht, daß ihr Nesthäkchen in diesem Augenblick in Todesgefahr schwebte.

Immer dunkler wurde es – durch das Unwetter zog der Oktoberabend früher als sonst herauf. Die Kräfte der Kinder erlahmten allmählich, die Füße erstarrten in der kalten Nässe. Aber weiter, nur immer weiter – daß die hinter ihnen herrasende Sturmflut, die donnernde und brausende, sie nicht packte!

War denn noch immer kein Strand zu sehen? Endlos dünkte sie die braune Ebene, die sie durchjagten. Kaum ließ sich mehr Boden von Wasser unterscheiden. Schwarz alles ringsum.

Ein Licht – jäh durchbrach es plötzlich die Finsternis. Noch einmal tauchte es auf, und wieder – dann alles dunkel wie zuvor.

Barmherziger Himmel – war das ein Irrlicht? Einer von den bösen Geistern, welche die schlechten Menschen ins Heidemoor locken, wo sie elend umkommen müssen? Oft genug hatte Mutter Antje den Stadtkindern davon erzählt.

Jetzt wieder das hellaufstrahlende Licht, blitzartig durch die Nacht zuckend – »Annemarie, das ist ja das Blinkfeuer des Amrumer Leuchtturms!« Peters Stimme klang vor Aufregung heiser, und doch zitterte verhaltener Jubel durch.

»Flink – flink – Annemarie, gar nicht weit mehr scheint das Blinkfeuer, wir müssen gleich am Strande sein!«

Es war auch die höchste Zeit. Denn das bei weitem schwächlichere Mädchen war mit seinen Kräften am Ende. Noch ein paar Schritte, dann sank es aufs tiefste ermattet zur Erde.

Aber was war das? Das war doch nicht mehr der nasse, glitscherige Wattboden – in trockenes Heidekraut griffen Annemaries Hände. Sie waren wieder auf dem Festland – hinter ihnen brüllte in ohnmächtiger Wut das entfesselte Wattenmeer.

»Lieber Gott, ich danke dir« – kaum vermochte Annemarie noch diesen Gedanken zu fassen. Auch der schlimme Peter stand, immer noch zitternd, mit gefalteten Händen neben ihr. Zu nah war das Verderben an ihnen vorübergeschritten.

Eine empfindliche Kälte machte sich nach dem fieberhaften Hasten in den durchnäßten Kleidern bald fühlbar. Sie mußten weiter, wenn sie sich nicht auf den Tod erkälten wollten.

»Annemarie, ich trage dich, wenn du nicht mehr laufen kannst,« zum erstenmal fühlte Peter, als Anstifter des Unheils, die Verantwortung für das kleine Mädchen.

»Nein, es wird schon wieder gehen,« mühsam erhob sich Annemarie. »Aber wie finden wir jetzt in der Nacht den Weg durch die finstere Heide – ach, du lieber Gott, wie mag sich Tante Lenchen um uns sorgen!« Bei dieser Vorstellung begann Annemarie wieder zu weinen.

»Durch die Heide finden wir natürlich nicht zurück. Wir sind, wie es scheint, an einer ganz anderen Stelle des Strandes herausgekommen. Wir müssen den Leuchtturm zu erreichen suchen, dort werden sicherlich Menschen sein. Durch das Blinkfeuer können wir nicht fehlgehen.« Trotzdem Peter möglichst beruhigend sprach, schlug auch ihm das Herz.

Wieder machten sich die ermüdeten Kinder auf den Marsch. Ach, wie langsam ging das. Schritt für Schritt. Die nackten Füße schmerzten, Stranddisteln und scharfe Muscheln ritzten sie blutig. Aber jedesmal, wenn Annemarie glaubte, nun könne sie bestimmt nicht mehr weiter, dann blitzte wieder das Leuchtfeuer vor ihnen trostverheißend auf – auch den Mut der Kinder aufs neue entzündend. Näher und näher kam das Blinklicht, immer heller und größer ward es.

Nun standen sie endlich vor dem Häuschen des Leuchtturmwächters, das tief unter dem auf hoher Düne thronenden Leuchtturm am Strande lag. Der Schein einer Lampe flimmerte traulich durch das unverhangene Fenster.

Mit klammen Fingern pochte Peter an. Aber das leise Klopfen ging in dem Schnauben und Toben von Sturm und Meer unter. Kurz entschlossen öffnete der Junge die Tür, denn seine kleine Begleiterin war am Rande ihrer Kräfte.

»Vater, bist du's?« eine helle Mädchenstimme schallte den beiden Kindern entgegen. Aber als der schwere Tritt, der sonst durch den Steinflur zu dröhnen pflegte, ausblieb, eilte des Turmwächters Töchterlein, die Lampe in der Hand, verwundert hinaus.

»Herrejeh –« mitleidig blickte sie auf die ganz durchnäßten und völlig erschöpften Kinder. »Wo kommt Ihr denn her in dieser furchtbaren Sturmnacht?«

»Wir haben uns verirrt – die Flut hat uns überrascht.« Frostklappernd gab Peter Auskunft.

Annemarie lehnte teilnahmslos am Türpfosten.

Die Leuchtturm-Christel war mit ihren vierzehn Jahren ein sehr verständiges Mädchen. Manch liebesmal schon hatte sie Gestrandeten und von den Lotsen ans Land gebrachten Schiffbrüchigen erste Hilfe geleistet. Sie wußte, was not tat.

»Kommt in die warme Stube, ihr seid ja ganz durchnäßt,« sagte sie freundlich und zog die beiden kleinen Verirrten ins Zimmer. »So, nun schleunigst die nassen Sachen vom Leibe! Du kannst dich drin in der Kammer umziehen, Jung, ich leg' dir trockenes Zeug hin. Ach Gott, du arme, lütte Deern, bist ja ganz verklommt, und auf den Füßen kannst dich auch nicht mehr halten. Dich leg' ich am besten in mein Bett.« Mit rascher Hand zog die gutherzige Christel Annemarie die triefenden, vor Nässe am Körper klebenden Kleider herunter, und hüllte sie in trockene Wäsche und warme Decken. Dann trug sie das erschöpfte Kind in ihr eigenes Bett und legte vorsorglich eine Wärmkruke hinein.

Das Wasser auf dem kleinen Herd kochte grade zur Abendsuppe für den Vater. Im Nu hatte das umsichtige Mädel Tee aufgebrüht. Dazu goß sie einen tüchtigen Schluck Rum, denn ein steifer Grog regt am ersten die ermatteten Lebensgeister wieder an, pflegte der Vater zu sagen. Wenn das auch nun wohl mehr für die Schiffer und Seeleute zutraf, als für Kinder, so fühlte Annemarie doch bald, nachdem die hellblonde Christel ihr einige Schlucke von dem feurigen Getränk eingeflößt hatte, eine wohltuende Wärme durch ihre erstarrten Glieder rieseln.

Auch Peter, der in viel zu großer schwarzer Lederhose und blaugestricktem Wams des Leuchtturmwächters und in dicken rotwollenen Strümpfen und Holzpantinen der Christel erschien, fühlte seinen gesunkenen Jungenmut durch den heißen Grog wieder neu belebt. Ihm begann das furchtbare Abenteuer jetzt, wo er in Sicherheit und im Trockenen war, sogar schon wieder Spaß zu machen.

»Wir müssen Nachricht ans Kinderheim nach Wittdün schicken, wo wir sind. Frau Kapitän und Tante Lenchen werden sich schrecklich um uns sorgen,« das waren die ersten Worte, die Annemarie wieder sprach. Trotzdem das kleine Mädel so ermattet war, dachte es daran zuerst.

»Ich lauf' schnell zum Vater hinauf in den Turm, der kann am Ende an die Rettungsstation in Wittdün telephonieren, daß sie dem Kinderheim Bescheid gibt.« Die Leuchtturm-Christel schlug ein großes Tuch über den Kopf. »So, Jung, du bleibst bei der lütten Deern und gibst ihr ab und zu was Heißes zu trinken – ich bin bald wieder zurück.« Das gefällige Mädchen ließ sich die genaue Adresse des Kinderheims geben, dann eilte es in die Sturmnacht hinaus.

Über hundert Stufen mußte die Christel vom Strand bis zum Fuß des Turmes emporsteigen. Trotz des großen Tuches packte der Nordwest sie bei den hellen Haaren. Aber des Leuchtturmwächters Töchterlein war an Wind und Wetter gewöhnt. Weiter ging es hastig die Turmtreppen hinauf, diesmal waren es fast zweihundert Stufen, die das Mädchen erklimmen mußte. In dem Raum, in welchem die blitzenden Prismen des Leuchtapparates erstrahlten, fand es endlich den Vater. In kurzen Worten teilte es ihm das Nötige mit und bald war die Rettungsstation in Wittdün, die bereits von Frau Kapitän Clarsen zur Auffindung der verlorenen Kinder in Bewegung gesetzt worden war, von ihrem Verbleib benachrichtigt.

Wie so manchem Schiffe in Gefahr und Not, war auch der Leuchtturm den beiden Kindern zur Rettung geworden.


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