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Auf der sonnigen Gartenwiese tummelten sich die Zöglinge des Kinderheims, nur mit Badeanzügen bekleidet. Lies' hing am Reck, Lott' an den Schaukelringen, und die Jungen hatten den Barren mit Beschlag belegt. Die übrigen Kinder machten nach dem Kommando von Fräulein Mahldors gymnastische Atemübungen. Die tägliche Stunde im Luftbad erfreute sich allgemeiner Beliebtheit.
Da trat Tante Lenchen ziemlich erregt aus dem schattigen Laubengang heraus zu ihnen.
»Kinder, eine große Neuigkeit!« rief sie schon von weitem. »Ihre Hoheit die Prinzessin Heinrich hat ihren Besuch in Wittdün angemeldet. Sie wird bereits in dieser Woche eintreffen und im Kurhaus absteigen. Vom Landungssteg dorthin muß sie an Villa Daheim vorüber. Da müssen auch wir an Empfangsfeierlichkeiten denken.«
»Hurra« – brüllten die Großen wie die Kleinen als einzige Antwort auf diese Mitteilung. Und nochmals »Hurra!«, als ob sie sich schon jetzt üben müßten. Peter und Annemarie, die beiden wildesten der Gesellschaft, schienen nicht übel Lust zu haben, wie sie gingen und standen, auf die Straße zu laufen, um nähere Erkundigungen einzuziehen.
»Aber hiergeblieben, ihr Nackedeis«. Tante Lenchen packte den einen links und die andere rechts. »So, nun helft mir lieber mal überlegen, was wir alles zum Empfang veranstalten könnten.«
Da waren sie sämtlich dabei. Malerisch lagerten sich die roten, blauen und gestreiften Badeengel auf dem warmen Gras um die allgemein beliebte Tante Lenchen.
»Wir wollen unsere weißen Stickereikleider anziehen und Rosenkränze ins Haar setzen,« meinten die Backfische, die dabei zu allererst ans Putzen dachten.
»Flaggen wollen wir,« rief Lothar – »mit unseren Trompeten müssen wir ›Heil dir im Siegerkranz‹ blasen,« Peters Stimme trompetete schon genügend.
»Blumens–treuen,« schlug Ellen vor und »Girlanden winden« fiel Gerda ein.
»Nee, eine von uns muß ein Gedicht aufsagen,« überschrie sie ihre Freundin Annemarie, während Tante Lenchen sich lachend die Ohren zuhielt.
»Immer nur einer auf einmal, Kinder, man versteht ja sein eigenes Wort nicht.« Sie zog ein Notizbüchlein aus der Tasche. »Weiße Kleider und Rosenkränze angenommen – Girlanden angenommen, auch Fahnen – nein, Peter, auf euren musikalischen Genuß wird die Prinzessin lieber verzichten. Aber das ist ein netter Gedanke mit dem Gedicht, Annemarie. Eins von euch könnte Ihre Hoheit in der Tat mit einem Verschen willkommen heißen und dabei ein paar Blumen überreichen.« Tante Lenchen ging wieder ins Haus, um alles weitere mit ihrer Schwester zu besprechen. Hinter sich ließ sie die Luftbadeengel in unglaublicher Aufregung zurück.
Nicht nur im Clarsenschen Kinderheim hatte Aufregung und Erwartung Platz gegriffen. Ganz Wittdün, ja sogar die gesamte Insel Amrum war von der bevorstehenden Ankunft der Prinzessin Heinrich aus dem ruhigen Gleichgewicht gekommen. Im Kurhaus, ihrem Absteigequartier, wurde geseift, gescheuert und Betten und Polstermöbel geklopft, als ob seit Jahren nicht reingemacht worden wäre. Dabei war es dort stets bekannt sauber. Die Badedirektion plante eine italienische Nacht am Strande mit bunten Lampions und ein Tanzfest an Bord eines großen Dampfers. Auch die Badegäste, vor allem die Kinder, waren ganz aus dem Häuschen. Jede Burg wurde besonders schön geschmückt zum Empfang der Prinzessin.
Aber auch in die alten, friesischen Fischerhäuschen, in dem das Leben so ruhig und gleichmäßig dahinzufließen pflegte, drang die allgemeine Erregung. Die friesischen Frauen und Mädchen suchten ihren schönsten Sonntagsstaat zusammen, denn sie sollten an der Dampferanlegestelle in ihren kleidsamen Trachten die Frau Prinzessin begrüßen. Die Männer aber, die kühnen unerschrockenen Seeleute der Insel, schmückten ihre Boote mit Tannenreisern und Heidekraut, um dem Dampfer Ihrer Hoheit entgegenzusegeln.
In Villa Daheim war man inzwischen auch eifrig an der Arbeit. Da wurden Girlanden aus gelbem Ginster, rosa und violetten Strandnelken, aus blauer Glockenheide und stachliger Seemannsstreu gewunden und damit das Gartengitter und das Portal geschmückt. Das war das Werk der Mädchen: die Knaben aber hatten schwarzweißrote Papierfähnchen geklebt und sie allenthalben dazwischen angebracht. Es machte sich ganz wunderhübsch. Auch ein Verschen hatte Fräulein Mahldorf verfaßt. Eigentlich sollte es Annemarie Braun hersagen und dazu Rosen aus dem Garten überreichen, weil der Gedanke von ihr herrührte. Schließlich aber fanden die Damen es doch netter und anspruchsloser, wenn das Kleinste des Kinderheims das Verschen sprach. Für alle Fälle konnte ja Annemarie es mitlernen, wenn Klein-Annekathrein vielleicht zu schüchtern war. So erschallten die Stimmen der beiden Kinder jetzt um die Wette durch Villa Daheim, wo sie gingen und standen, übten sie ihr Verschen.
Endlich war der große Tag herangenaht. Und als ob die Sonne wüßte, daß es ihre Pflicht war, heute besonders strahlend zu scheinen und Meer und Dünen mit goldenen Lichtern zu übersprühen, schien es der allerschönste Tag im Jahre. »Echtes Prinzessinnenwetter,« meinten die Kinder. Kein Wölkchen am Himmel, der in seiner tiefen Bläue mit dem Meere wetteiferte.
Die Clarsenschen Kinder waren heute in ihrer begreiflichen Aufregung kaum zu bändigen. Soviel Schelte hatte es das ganze Jahr nicht gesetzt. Besonders der Peter, das schwarze Schaf des Kinderpensionats, trieb nichts als Unfug. Hier zerknitterte er der Gretli durch heimliche Knüffe das schön geplättete Stickereikleid, dort zupfte er der Vroni ein paar Rosenblätter aus ihrem Haarkranz. Sich selbst aber setzte er auf eine frisch angestrichene, grüne Gartenbank, daß die Rückseite seines weißen Leinenanzuges wie ein Spinatbeet anzusehen war.
»Jung, wo sühst du aus!« rief oll Modder Antje, die grade in ihrem höchsten Kirchenstaat durch den Garten daherkam, um an der Landungsbrücke mit den anderen Friesinnen Aufstellung zu nehmen. Vadder Hinrich war bereits mit seinem Boot in See zur feierlichen Einholung. »Paß Achtung, dein Achterseit (Rückseite) ist jo grün, du mußt dir umziehn, min Jünging.«
»Ach was, die Prinzessin sieht mich ja bloß von vorn«, sowas genierte einen hohen Geist wie Peter nicht. Er trug nur Sorge, daß Tante Lenchen oder eine der anderen Damen ebenfalls bloß seine Vorderseite zu sehen bekamen. Dies hinderte ihn aber nicht, plötzlich ins Haus zu stürzen mit dem lauten Ruf: »Sie kommen – sie kommen!« Natürlich brachte er alles in wilden Aufruhr, und als man Hals über Kopf zur Gartenpforte stürzte, war natürlich noch gar keine Spur von der Prinzessin zu sehen. So ein Schlingel!
Nun aber war es endlich so weit, das zeigten die Böllerschüsse vom Landungssteg her an. Dort hatten unter dem Triumphbogen aus Tannengrün, mit Fahnen und dem preußischen Adler als Banner in der Mitte, die Frauen und Mädchen der Insel im Feststaat Aufstellung genommen. Ein wunderschönes Bild gaben die stattlichen, blauäugigen germanischen Gestalten mit ihren reichen, blonden Haaren unter dem kleidsamen Häubchen, den sorgsam gefalteten Schürzen über den weiten knisternden Seidenröcken und dem alten Bauernschmuck auf dem geblümten Mieder. Das fanden auch die Kurgäste, die sich in Scharen an das Geländer des Steges drängten. Besonders oll Modder Antje mit ihrem runzligen braven Gesicht unter all dem jungen Blut wirkte rührend. Sie hatte als älteste den Ehrenplatz in der Mitte.
Auch der Prinzessin Heinrich, die beim Landen von den Herren der Badedirektion begrüßt wurde, fiel das alte Mütterchen unter den blühenden Friesinnen auf. Freundlich sprach die Prinzessin es an und fragte es nach seinem Namen.
»Oll Modder Antje, dat weiß jo hier jedes Kind,« gab die verwundert, daß eine Prinzessin das nicht mal wußte, zur Antwort.
»Ich freue mich, daß Sie noch so rüstig sind.«
»Ih, dat soll woll so sind. Aber wat oll Vadder Hinrich is – de Fru Prinzessin hat ihn all kennen lernt, indem dat er ihr doch entgegengefohren is – jo, wat der is, der is noch all ganz fixing bei Weg, better (besser) als ick.« Es machte Mutter Antje keinen großen Unterschied, ob sie mit einer Prinzessin sprach oder sonst mit einem Badegast. Aber als diese der alten, treuherzigen Frau jetzt leutselig die Hand reichte, ehe sie weiterschritt, meinte Mutter Antje doch erfreut zu ihrer Gevatterin: »Kiek eins, wo fründlich so'ne Fru Prinzessin sein dut!«
Vor Villa Daheim warteten inzwischen die Clarsenschen Kinder, ganz allerliebst in ihren weißen Stickereikleidern mit den Rosenkränzen im Blond- und Braunhaar anzusehen, neben den Damen in atemloser Spannung. Besonders Klein-Annekathrein, die einen Busch roter Purpurrosen im Händchen hielt, war ganz blaß vor Aufregung. Wenn sie nun mit ihrem Vers stecken blieb – immer wieder betete die Kleine den Anfang: »Im freundlichen, meerumkränzten Wittdün« vor sich hin. Tante Lenchen tat es schon leid, daß sie das arme Kleinchen mit dieser Aufgabe betraut. Die Annemarie wäre entschieden kecker gewesen.
Die stand hinten in der dritten Reihe auf den Zehenspitzen und reckte vergebens den Hals, um etwas zu erspähen. Solche Gemeinheit – da hatten sich die Lies' und Lott', die beiden langen Backfische, grade im letzten Augenblick vor sie hingestellt. Und die rückten und rührten sich auch nicht von der Stelle, ob Annemarie auch heimlich puffte und schubste.
Die Tränen waren dem armen kleinen Mädel nah. Nun sollte eine Prinzessin vorbeikommen, und sie konnte sie nicht sehen! Da fiel ihr Blick auf die Nebenvilla, in der ebenfalls ein Kapitän wohnte. Als Zeichen dafür war vor dem Hause, wie überall auf der Insel, ein hoher Segelmast aufgepflanzt.
Wer aber saß da oben an der höchsten Spitze des Segelmastes? Kein anderer als der Peter, der sich diesen hohen Auslug als besten Platz ausgesucht hatte. Seine grüne Rückseite war den Untenstehenden leuchtend zugekehrt.
Da besann sich Doktors Nesthäkchen nicht lange. Ganz dicht neben ihr stand ja auch der Clarsensche Segelmast. War sie nicht in Arnsdorf mit Klaus um die Wette auf die höchsten Bäume geklettert?
Während Ihre Königliche Hoheit sich vom Landungssteg her der Villa näherte, während aller Augen gespannt die Straße entlang gerichtet waren, begann Annemarie lustig an dem Segelmast emporzuklimmen. Sie war eine tüchtige Turnerin – bald saß sie hoch oben wie der Peter.
War das famos! Annemarie dachte nicht an ihr reines Stickereikleid, nicht daran, daß sie ja für alle Fälle als Ersatz für Klein-Annekathrein den Willkommensvers sprechen sollte. Die beobachtete nur, wie die Prinzessin mit ihrem Gefolge näher und näher kam – so fein wie sie konnte außer dem Peter sicher kein anderes Kind sehen!
»So, Annekathrein, jetzt tritt vor und sprich laut,« flüsterte Tante Lenchen der Kleinen zu, als die Prinzessin nur noch wenige Schritte von der Villa Daheim entfernt war.
Aber anstatt vorzutreten, verkroch sich Klein-Annekathrein hinter Tante Lenchens Rücken und fing vor Angst an zu weinen.
Zum Zureden war es zu spät – der »Ersatzmann« mußte vor.
»Annemarie, schnell, du mußt den Vers sprechen – wo ist Annemarie?« in höchster Aufregung flüsterte es Tante Lenchen ihren Zöglingen zu. Denn schon hatte Prinzessin Heinrich vor der blumengeschmückten Kinderschar haltgemacht.
Die Backfische waren zur Seite getreten, um Annemarie, von der sie annahmen, daß sie noch hinter ihnen stände, vortreten zu lassen. Aber keine Annemarie erschien, die klammerte sich hoch oben fest an ihrem Segelmast – sollte sie sich zu erkennen geben?
»Annemarie Braun« – das war die Stimme der Frau Kapitän – der mußte unbedingt Gehorsam geleistet werden.
»Hier bin ich« – erklang es zur allgemeinen Verwunderung aus der Höhe in die beklemmende Stille hinein. Und da kam es auch schon wie der Wind den Segelmast herabgerutscht, gerade zu Füßen der Prinzessin Heinrich.
Mit zerdrücktem und beschmutztem Stickereikleid, mit schiefem Rosenkranz, glühenden Wangen und schallender Stimme begann Doktors Nesthäkchen:
»Im freundlichen, meerumkränzten Wittdün,
Mit seiner Dünen sanftem Grün,
Die sich wie erstarrte Wellen von Sand
Erheben über den weißen Strand,
Mit seinen Möwen, den schwebenden, schnellen,
Lieblichen, schlanken Gespielen der Wellen,
Wohin zu uns den Weg du genommen,
Sei, hohe Frau, von Herzen willkommen!«
Ihre Königliche Hoheit konnte nicht ernst bleiben. Viele feierliche Empfänge waren ihr schon in ihrem Leben bereitet worden, aber ein derartiger doch noch nicht. Sie verbarg das lachende Gesicht in dem Rosenstrauß, den Klein-Annekathrein sich nun doch noch zu überreichen bequemte.
Dann aber wandte sie sich freundlich zu dem reizenden Blondkopf: »Du hast deine Sache ja sehr schön gemacht – ich danke dir für dein Willkommen, mein Kind.« Die Prinzessin reichte Doktors Nesthäkchen die Hand, die diese als wohlerzogenes Mädchen mit einem tiefen Knicks an die Lippen zog. Nur schade, daß dabei nun auch noch die schönen weißen Handschuhe Ihrer Königlichen Hoheit mit dem Staub und Ruß des Segelmastes Bekanntschaft machen mußten, denn Annemaries Hände sahen lustig aus. Die Prinzessin aber schritt unter den lauten Hurrarufen der übrigen Kinder dem Kurhaus zu.
Was nützten alle Vorwürfe und nachträglichen Ermahnungen jetzt noch? Frau Kapitän, Tante Lenchen und Mutti, die natürlich von der merkwürdigen Begrüßung ihres Töchterchens erfuhr, ließen es daran nicht fehlen. Leider aber muß ich berichten, daß Annemarie sich dieselben gar nicht sehr zu Herzen nahm. Die Prinzessin war ja so freundlich zu ihr gewesen – einen Handkuß hatte sie ihr sogar geben dürfen!
Oll Modder Antje und Doktors Nesthäkchen, das waren heute die beiden Stolzesten auf ganz Wittdün.