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2. Kapitel. In Vaters Klinik

Eine Woche war es nur noch bis zu den Osterzensuren. Man sprach jetzt in der Schule eigentlich von nichts anderem mehr. Höchstens in der achten Klasse. Da war der bevorstehende Geburtstag von Annemarie Braun, und wen sie wohl zu ihrer Kindergesellschaft einladen würde, beinahe ebenso wichtig wie die Versetzung. Denn Annemarie war allgemein beliebt in der Klasse, und außerdem erschien es einer jeden als höchstes Ziel, bei der Ersten eingeladen zu werden. Wenn Annemarie auch meistens nur auf dem ersten Platz Gastrollen gab. Durch ihre guten Fähigkeiten überflügelte sie ihre Mitschülerinnen, doch ihr übermütiges und unachtsames Wesen ließ sie den Ehrenplatz nie lange behaupten.

Aber die Kindergesellschaft durfte nur stattfinden, wenn Annemarie »lobenswert« im Betragen bekam. Mutti hatte es ausdrücklich ihrem Nesthäkchen eröffnet. Annemarie hoffte, daß Fräulein Neudorf den Radau neulich vor der Rechenstunde vergessen haben würde – und mit ihr hofften es all ihre Freundinnen.

Überhaupt irgendwelche Sorgen pflegte sich der lustige Wildfang nie lange zu machen. Wie kam es dann nur, daß Annemarie jetzt gar nicht so ausgelassen sein konnte wie sonst? Daß sie unlustig zur Arbeit wie zum Spielen war, daß sie sich sogar mit dem Lieblingsbruder Hans nicht vertrug und losheulte, wenn man sie bloß schief ansah? Grade ihr liebenswürdiges Wesen gewann ihr doch sonst alle Herzen. Auch mit Freundin Margot hätte es sicherlich Streit gegeben, wenn diese nicht solch ein sanftes Kind gewesen wäre.

Nicht einmal die Handarbeitsstunde, in der Puppenkleider genäht wurden, und auf die sie sich so gefreut hatte, machte ihr Spaß. Auf ihrem ersten Platz saß Annemarie und hatte vor sich den wunderschönen hellblauen Puppenlappen, den sie Mutti abgebettelt, ausgebreitet. Ihre Negerpuppe Lolo, die sie nach der Schule begleitet hatte, grinste vor Freude über das neue Sonntagskleidchen, das sie bekommen sollte.

Es war ein drolliges Bild, wie die kleinen Schulmädel voll Eifer ihren Puppenkindern nach Fräulein Herings Angaben Maß nahmen. Jeder Schülerin sah man die Freude an der hübschen Beschäftigung an.

Nur Annmaries Gesicht schaute unlustig drein. Anstatt die Schulterbreite von Lolo zu messen, stützte sie ihren Blondkopf in die Hand. Wie der brannte und schmerzte! Und die Augenlider waren ihr so schwer, daß sie dieselben am liebsten geschlossen hätte.

Aber nein, sie wollte doch ihre Lieblingslehrerin nicht ärgern. Mit Anstrengung riß die Kleine die drückenden Blauaugen wieder auf.

Nanu, was fiel denn Puppe Lolo ein? Die steckte ihr ja ganz weit die rote Zunge, die sonst hinter den weißen Porzellanzähnchen kaum sichtbar war, heraus. Ja, war das denn überhaupt noch die Lolo? War das denn nicht der große braune Affe, den sie neulich im Zoologischen Garten gesehen? Jetzt fletschte er sogar noch die Zähne und - ein lauter Aufschrei gellte von Annemaries Lippen durch die achte Klasse.

Die neben ihr sitzende Margot packte die Freundin erschreckt beim Arm - wie konnte die Annmarie nur so ungezogen sein und mitten in der Stunde losschreien!

Aller Augen wandten sich halb lachend, halb erstaunt der Ersten zu - was die Annemarie Braun doch immer für Ulk machte!

Fräulein Hering aber trat kopfschüttelnd zur ersten Bank. Bei all ihrer Zuneigung für das reizende Mädchen, das durfte sie doch nicht durchgehen lassen.

»Annemarie, ist dir was?«fragte sie.

»Nein - ich weiß nicht - mein Kopf tut so doll weh - und - und ich graule mich so vor der Puppe.« Annemarie begann zu weinen, während die Klasse über das große dumme Mädel laut zu lachen begann.

Fräulein Hering gebot Ruhe und fühlte Annemaries Stirn.

»Genau wie Mutti« dachte Annemarie und schloß beruhigt die Augen. Mutti war bei ihr – sicher – wer konnte denn sonst so zärtlich über ihre Locken streichen? Ach, wenn Mutti bei ihr war, dann war ja alles gut.

»Du hast Fieber, mein Kind,« hörte sie jemand sagen. Doch das war nicht Muttis Stimme, nein, das war ja die von Fräulein Hering. Wie aus weiter Ferne klang sie an Annemaries Ohr. »Du mußt nach Haus gehen, mein Herzchen, aber ich wage nicht, dich allein zu schicken, da dir nicht gut zumute ist. Ich werde dich nach der Stunde selbst heimbringen.«

Es war zweifelhaft, ob das fiebernde Kind die freundlichen Worte begriffen hatte. Es hatte den Kopf auf den Schultisch gelegt, grade auf den hellblauen Puppenlappen. Die Mienen der anderen Kinder zeigten Bestürzung und Teilnahme; während die schwarze Lolo ein wütendes Gesicht machte, weil sie das schöne blaue Kleid nicht bekam.

Als die Schulglocke schrill durch alle Klassen gellte, fuhr Annemarie aus dem Halbschlaf, der sie umfangen, wieder weinend empor. Aber die gütigen Worte ihrer Lieblingslehrerin beruhigten sie. Fräulein Hering setzte Annemarie eigenhändig die Mütze auf die Locken und zog ihr den Mantel an. Vorsorglich schlug sie ihr den Kragen desselben hoch, damit sich das Kind, dessen Backen glühten, nicht noch draußen in der scharfen Märzluft erkälte. Margot schnallte ihr mit mitleidigen Augen die Mappe auf, und gab ihr Lolo in den Arm.

Da aber begann Annemarie wieder zu schreien. Das schwarze Negergesicht der Puppe flößte ihr Grauen ein. Fräulein Hering nahm die Puppe selbst. Mit dem anderen Arm umschlang sie die erkrankte Annemarie. Aber so liebevoll die Lehrerin sie auch stützte, die Kleine vermochte kaum zu gehen. Die Beine waren ihr so schwer, als ob tausend Gewichte daran hingen. Nur mit Mühe kamen sie die breiten Steintreppen hinab.

Der Schuldiener mußte ein Auto holen. Unter neidischen Kinderblicken nahm Annemarie mit der allgemein beliebten Lehrerin darin Platz.

Ach – Annemarie war nicht beneidenswert. In ihren Schläfen hämmerte und pochte es, der Kopf, den sie an Fräulein Herings Schulter lehnte, zersprang ihr fast vor Schmerzen. Das Töffen und Rattern des Autos, das ihr immer solchen Spaß gemacht, verursachte ihr geradezu eine körperliche Pein. Und die Fahrt, sonst für Annemarie der Gipfelpunkt aller Wünsche, ließ sie ganz gleichgültig. In wenigen Minuten hielt das Auto vor dem hohen Haus, in dem Doktor Braun wohnte.

Der Hausmeister stand im Vorgärtchen und beschnitt die Sträucher. Als er sah, daß die Dame sich vergeblich mühte, die Kleine von Doktors aus dem Wagen zu heben, sprang er herzu und trug Annemarie auf seinen Armen die Treppe hinauf. Denn selbst der Hausmeister hatte das freundliche Kind in sein Herz geschlossen.

O weh – was bekam Frau Doktor Braun für einen Schreck, als ihr Nesthäkchen ihr so nach Hause gebracht wurde. Nachdem sich Fräulein Hering mit den besten Wünschen für die kleine Patientin, die Fräulein inzwischen zu Bett gebracht hatte, empfohlen, legte die Mutter als tüchtige Doktorfrau sofort das Thermometer ein. Das schnellte fast bis vierzig Grad empor.

Um Himmelswillen – was war mit dem Kinde? So hoch hatte Annemarie noch nie gefiebert. Die geängstigte Mutter eilte ans Telephon, ihren Mann aus seiner Klinik herbeizurufen.

Bald stand Doktor Braun an dem Bett seines Kindes und untersuchte es eingehend. Zuerst erkannte es den Vater gar nicht, sondern hielt ihn für den Hausmeister. Aber als der Vater ihr seine kühle Hand auf die brennende Stirn legte und zärtlich sagte: »Meine dumme, kleine Lotte, das war nicht nötig gewesen!« da schlug Annemarie die Augen auf und sah den Vater mit unklarem Blick an.

»Mir tut mein Hals so doll weh!« wimmerte sie. Dann verschwommen Vaters blonder Bart mit dem Kornblumenmuster der Tapete – Annemarie tauchte wieder unter in die Welt der Fieberträume.

Sie hörte nicht die ernsten Worte, die der Vater zu der vor Aufregung blassen Mutter sprach: »Unsere Lotte ist sehr krank – sie hat Scharlach. Der Körper zeigt bereits die kennzeichnenden Flecke. Es ist unmöglich, daß wir das Kind im Hause behalten. Erstens der beiden Jungen wegen, und zweitens wegen der Ansteckungsgefahr für meine in die Sprechstunde kommenden Patienten. Ich muß das Kind, so schwer es mir wird, aus dem Hause geben und nach meiner Klinik bringen lassen.«

Da aber begann Frau Doktor Braun zu jammern: »Was, mein Nesthäkchen, meine Lotte soll ich fortgeben, wenn sie so krank ist – nein, Edmund, das bringe ich nicht übers Herz. Ich trenne mich nicht von meinem Kinde, dann siedele ich mit ihr in die Klinik über.«

»Daran habe ich auch gedacht, Elsbeth. Aber du bist dann für viele Wochen von unserm Hause und den Jungen vollständig getrennt. Annemarie bedarf deiner nicht, ich würde ihre Pflege Schwester Elfriede übergeben. Besser als bei der kann sie selbst bei der eigenen Mutter nicht aufgehoben sein. Und denke nur, wie Klaus in deiner Abwesenheit verwildern würde, vor Fräulein hat der Schlingel wenig Respekt. Und ich selbst bin doch nur während der Mahlzeiten und der Sprechstunden zu Hause. Ich komme ja täglich zweimal in die Klinik und sehe nach dem Kinde. Mit Gottes Hilfe bringe ich dir unsere Lotte ganz gesund wieder heim.« So überzeugungsvoll klang es aus dem Munde des Arztes, daß seine Frau sich schweren Herzens in das Unvermeidliche fügte.

Annemarie ahnte nichts von dem, was über ihre nächste Zukunft bestimmt wurde. Sie hörte nicht, daß Vater telephonisch einen Krankenwagen bestellte. Unruhig wälzte sie sich in ihren Kissen umher, stöhnte und wimmerte von Zeit zu Zeit. Auch als Vater sie, in Decken und Kissen verpackt, aus ihrem Kinderzimmer trug, um sie in den unten bereitstehenden Krankenwagen zu bringen, schlug sie die Augen nicht auf.

Mit tränenverschleierten Blicken sah Mutti ihr Nesthäkchen, von dem sie sich kaum jemals im Leben getrennt hatte, an sich vorübertragen. Ihre Hände falteten sich in Herzensangst, und ein inbrünstiges Gebet stieg aus gepreßtem Mutterherzen zum Allvater empor: »Lieber Gott, erhalte sie mir, – gib mir meine Lotte gesund wieder!«

Fräulein, das gute Gesicht selbst von Tränen benetzt, stützte Frau Doktor Braun. Ihr war es nicht viel leichter ums Herz als der Mutter, hatte sie doch Annemarie von klein auf unter ihrer treuen Obhut gehabt. Wie gern wäre sie mit in die Klinik gegangen und hätte die kleine Kranke gepflegt. Aber Doktor Braun meinte, eine Berufspflegerin sei besser am Platz.

Durch die Türspalte lugten Hans und Klaus mit erregten, ängstlichen Gesichtern. Köchin Hanne aber, die schon seit Annemaries Geburt im Hause war, schluchzte zum Gotterbarmen, daß man ihnen ihr Kind fortnahm. Auch Puck, das kleine Zwerghündchen, Annemaries lustiger Gespiele, empfand die Schwere der Stunde. Er lief bis zum ersten Treppenabsatz hinter seinem Herrn her und kroch dann leise winselnd zurück zu Frau Doktor, der er tröstend die Hand leckte.

»Selbst das unvernünftige Vieh weint um unser Kind!« schluchzte Hanne und wischte sich das nasse breite Gesicht mit dem blauen Schürzenzipfel.

Gerade als Annemarie in den Wagen mit dem roten Kreuz gebettet wurde, kam Margot Thielen aus der Schule. Mit entsetzten Augen sah sie den Menschenauflauf, der sich neugierig vor dem Haus zusammengefunden. Brachte man da die Annemie nicht fort? O Gott – so schlimm stand es also mit ihr?

Tage vergingen, ohne daß die kleine Patientin das Bewußtsein wieder erlangte. Immer sorgenvoller wurden Doktor Brauns Mienen, wenn er aus dem großen Krankensaal in das Privatzimmer seiner Klinik schritt, in das er sein Töchterchen gelegt. Kaum vermochte er seiner armen Frau, die voll Bangen auf seine Berichte wartete, Trost und Zuversicht zu spenden. Sollte er mit all seiner ärztlichen Kunst und Sorgfalt, die schon so vielen geholfen, nicht auch seinen Liebling erhalten können?

Der Zensurentag, vor dem Annemarie heimlich gebangt, war inzwischen herangekommen. Margot, die sich täglich nach dem Befinden ihrer kranken Freundin erkundigte, hatte Annemaries Zeugnis mit nach Haus gebracht. Den ersten Platz hatte Annemarie allerdings räumen müssen. Marlene Ulrich hatte ihn errungen. Annemarie war die Dritte geworden, aber im Betragen stand »lobenswert«. Nun hätte sie ihre Kindergesellschaft geben können, wenn – ja, wenn nicht eben alles ganz anders gekommen wäre.

Durch das unverhangene Fenster blinzelte die Aprilsonne in das Krankenzimmer. Seit acht Tagen gab sie sich redlich Mühe, die schönsten goldenen Kringel und Sterne an die weißgetünchte Wand zu malen, um das kranke kleine Mädchen zu erfreuen. Doch das hatte dessen nicht acht. Es machte seine Augen nicht auf.

Aber heute – die goldenen Strahlenbeinchen der Sonne vollführten einen Luftsprung vor Freude – heute hatte die Annemarie zum erstenmal ihre Blauaugen geöffnet. Verwundert sah sie sich in der fremden Umgebung um.

Nanu – was war denn mit ihrer Kinderstube vorgegangen? Die hatte doch früher schöne blaue Kornblumentapete gehabt? Und wo war denn ihr weißes Kindertischchen, ihr Pult, die Puppenecke und das Wandbrett mit all ihren Spielsachen hingekommen? Kahle weiße Wände, wohin sie auch blickte. Und der Baum, dessen Zweige der Wind gegen die Scheiben schlug, war doch früher auch nicht vor ihrem Kinderstubenfenster gewesen?

Annemarie versuchte nachzudenken. Doch der Kopf war ihr so wüst, als ob alle Gedanken darin durcheinandergewirbelt wären. Da tat sie das, was ein Kind immer tut, wenn es sich keinen Rat weiß, sie rief weinerlich »Mutti«.

Aber keine Mutti kam. Schwester Elfriede, welche hinausgegangen war, um eine Tasse Milch für die kleine Patientin zu holen, eilte auf das laute Schreien: »Mutti – Fräulein – Mutti!« schnell an das Bett ihrer Pflegebefohlenen zurück.

»Still, Herzchen, weine nicht« – freundlich strich die Schwester über Annemaries Locken, die ebenso wirr waren wie ihre Gedanken.

Doktors Nesthäkchen hielt jäh im Weinen inne. Die großen blauen Augen, die in dem schmalgewordenen Kindergesicht noch größer erschienen, weiteten sich vor Staunen unnatürlich.

Wer war denn das? Die kannte sie doch gar nicht. Wo hatte sie bloß schon mal jemand gesehen, der solch blauweiß gestreiftes Kleid und solch ein weißes Häubchen getragen hatte? Die Kleine konnte sich nicht darauf besinnen, denn der Kopf schmerzte sie noch immer. Hatte sie irgendeine böse Fee verzaubert, wie das in ihren Märchenbüchern öfters vorkam?

Inzwischen führte Schwester Elfriede dem kleinen Mädchen die Tasse Milch zum Munde.

»Trink, Herzchen.«

Aber Annemarie stieß die Hand mit der Milch fort: »Nein – nein, Mutti soll kommen oder Fräulein!« sie begann aufs neue zu weinen.

»Ei, Annemarie, wenn du schön brav bist und deine Milch trinkst, dann kommt bald der Papa, in einer halben Stunde ist er hier,« tröstete die sanfte Schwester.

Papa – den hatte doch bloß Margot. Sie hatte keinen Papa, sondern einen Vater oder »Vatchen«, wie sie ihn meistens nannte. Aber der freundliche Zuspruch verfehlte seine Wirkung nicht. Annemarie wurde ruhiger und trank ihre Milch.

Dann lag sie wieder ganz still in dem Gefühl lähmender Mattigkeit, die nach tagelangem hohen Fieber einzutreten pflegt. Durch die langen Wimpern blinzelnd, sah sie zu, wie die Fremde in dem blauweißgestreiften Kleid die gebrauchten Gegenstände säuberte.

Ach – es wurde plötzlich heller in Annemaries dämmernden Gedanken – das war sicher das neue Hausmädchen, das zu Ostern zuziehen sollte.

»Heißen Sie auch Frieda?« fragte sie. Denn so hatte die frühere geheißen.

»Nein, aber Elfriede«, lautete die freundliche Antwort. Die Schwester sprach mit Willen möglichst wenig mit dem kranken Kinde, um das gesunkene Fieber nicht wieder zu steigern.

»Waren Sie früher auch bei Kindern?« Annemaries Interesse an der Neuen war geweckt.

»Ja, ab und zu, wie es sich gerade machte.«

»Woher sind Sie denn?«

»Aus Berlin.«

Annemarie wunderte sich sehr. Die Mädchen, die sie sonst gehabt, waren aus Pommern, Schlesien oder Ostpreußen gewesen.

»Werden Sie sich auch mit Hanne vertragen? Unsere frühere Frieda hat sich oft mit ihr verkracht. Aber sie meint es nicht böse, die Hanne, wenn sie auch manchmal schimpft.«

Schwester Elfriede sah das Kind aufmerksam an. Fieberte es etwa schon wieder? Unter ihrem prüfenden Blick kam Annemarie wieder das Gefühl des Fremdseins, das sie während der Unterhaltung fast vergessen.

»Hanne soll kommen, wenn Mutti und Fräulein fortgegangen sind – ach bitte, bitte, rufen Sie wenigstens Hanne herein.«

»Hanne ist auch nicht hier, mein Herzchen – schlaf noch ein bißchen, und wenn du aufwachst, ist der Papa da«, redete ihr die Schwester zu.

Aber davon wollte die kleine Patientin nichts hören. Es begann wieder weinerlich um ihre Mundwinkel zu zucken. Denn Doktors Nesthäkchen war bei all seiner Liebenswürdigkeit ein etwas verwöhntes junges Fräulein. Und durch die Krankheit kam dies noch mehr zum Ausdruck.

Wieder begann ein lautes Rufen nach Mutti, Fräulein und Hanne – Schwester Elfriede stand ratlos. All ihre freundlichen Worte wollten nichts nützen.

Zum Glück war es gerade die Zeit für Doktor Brauns Nachmittagsbesuch in der Klinik. Sein erster Weg galt natürlich seinem Kinde.

Auf dem Flur schon vernahm der Arzt das Weinen und Rufen seines kranken Nesthäkchens. War es endlich bei Besinnung? War eine Besserung eingetreten?

Mit hastigem Schritt öffnete er die Tür.

»Vatchen –« das weinende Gesichtchen verklärte sich förmlich – »Vatchen, liebes Vatchen!« Annemarie klammerte sich fest an Vaters Hand.

Aber auch Doktor Brauns Gesicht sah verklärt drein. Ein Blick ließ den erfahrenen Arzt sofort die Wendung zum Guten erkennen.

»Lotte, dumme kleine Lotte, warum weinst du denn?« zärtlich wischte er seinem Liebling die Tränen von den bleich gewordenen Wangen.

»Weil – weil Mutti und Fräulein fortgegangen sind, und weil die neue Elfriede nicht mal Hanne rufen will. Und denn – meine Kinderstube sieht ja so komisch aus – ganz anders – nein, wirklich, Vatchen, der Baum da vorm Fenster muß über Nacht gewachsen sein.«

Doktor Braun und Schwester Elfriede sahen sich lächelnd an. Dann begann der Arzt die Untersuchung.

»Bin ich denn krank?« verwunderte sich Annemarie.

»Ja, mein Liebling, du warst sehr krank und hast uns große Sorgen gemacht. Aber nun wird meine Lotte mit Gottes Hilfe bald gesund werden, wenn sie brav folgt und nicht weint und nach Mutti ruft. Schwester Elfriede sorgt ja so lieb für dich – – –«

»Schwester Elfriede – ist denn das nicht unser neues Hausmädchen?« Annemarie fragte es flüsternd.

Da aber konnte der Vater ein Lachen nicht zurückhalten. Es war ja das erstemal seit Tagen, daß es ihm wieder leichter ums Herz war, daß er überhaupt zu lachen vermochte. Auch Schwester Elfriede stimmte mit ein.

»Nein, Lotte« – der Vater hielt es für das richtigste, der Kleinen die Wahrheit zu sagen. »Das ist Schwester Elfriede, die sehr lieb mit dir ist und dich gesund pflegen wird. Ich habe dich in meine Klinik nehmen müssen, damit die Jungen nicht auch noch Scharlach bekommen, und all meine Patienten dazu.«

Hatte Schwester Elfriede gedacht, daß auf diese Eröffnung hin eine neues Weinen erfolgen würde, so hatte sie sich gründlich geirrt.

»In deiner Klinik bin ich?« Mit glückseligen Augen blickte sich Annemarie in dem fremden Raum um. Ach, das war ja schon von jeher ihr sehnlichster Wunsch gewesen, mal in Vaters Klinik krank zu sein – und nun noch gar an Scharlach, nicht nur an Masern oder Windpocken, die jedes Kind bekam. Das dumme kleine Mädel war unsagbar stolz darauf.

»Das ist fein, Vatchen, daß ich in deiner Klinik sein darf, das habe ich mir schon immer mal gewünscht. Kommt Mutti bald und besucht mich?«

Der Vater zögerte einen Augenblick.

»Vorläufig nicht, mein Herzchen, Mutti darf wegen der Ansteckung nicht zu dir. Aber sie wird dir einen langen Brief schreiben.«

»Das ist ja noch viel feiner« – Annemarie hatte noch nie einen Brief von Mutti bekommen. »Und Fräulein und Hänschen und Kläuschen sollen mir auch schreiben, und – und Hanne auch.« Immer leiser war die Stimme der kleinen Kranken geworden. Sie wollte gern noch Mutti grüßen lassen, doch sie kam nicht mehr dazu. Ihre Augenlider waren wieder zugeklappt, denn die Schwäche war noch recht groß.

Aber das war jetzt kein unruhiger Fieberschlummer mehr, das war Genesungsschlaf. Ein Weilchen verweilte Doktor Braun noch am Bett seines Nesthäkchens, dann ging er glücklichen Herzens, seiner Frau die frohe Botschaft von der eingetretenen Besserung zu melden.


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