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Inzwischen hatte der Dezembersturm die letzten fahlen Blätter von den Bäumen gezerrt. Er heulte im Ofen, klirrte an den Fenstern, tutete den Winter, der in den Schneegruben seinen Sommerschlaf gehalten, mit seinem Eishorn wach. Hurra – eines Morgens, als man im Waldheim die grünen Fensterläden öffnete, war alles schimmernd weiß. Über Nacht hatte der Winter seinen Flockensack ausgeschüttelt. Der Rosengarten lag warm zugedeckt unter dem weißen Federbett. Die Türmchen hatten ihre Wintermützen aufgesetzt, jeder Zaun, ja, jede gewöhnliche Holzplatte war mit schneeigem Hermelin verbrämt. Und nun erst die Berge! In schlohweißer Pracht reckten sie ihre Häupter in die niedrigen Wolken. Nun kamen Rodel und Skier, die bunten Sportjacken und Mützen zu ihrem Recht – Hurra!
In Krummhübel und Brückenberg, wo der Fremdenverkehr mehrere Monate geruht hatte, begann es sich wieder zu beleben. Die Wintersportler rückten ein – die Weihnachtsgäste.
Von der Schlingelbaude herunter übte Hänschen die Rodelkunst mit Eifer und glühenden Wangen. Was tat's, daß sie mehr im Schnee lag, als auf dem Schlitten saß! Daß jeder harmlos ihr Entgegenkommende unbarmherzig von Hänschens Rodel über den Haufen gerannt wurde! Daß sie mit der kleinen Clemence, die sich ihrer Kunst anvertraute, in einen tiefen Schneegraben hineingaloppierte, aus dem sie nur mit Hilfe Vorübergehender wieder das Tageslicht erblickten. Unsagbar schön war's trotz alledem! Jetzt bedauerte Hänschen nicht mehr, daß sie zu der Weihnachtsbäckerei, die den größten Teil der Zöglinge in Mutter Liebigs Reich fesselte, im Interesse der guten Sachen nicht zugelassen worden war. Im Reich des Winters war es ja tausendmal schöner! Hänschens dunkle Locken flogen unter der kirschroten Rodelmütze, die schwarzen Augen blitzten vor Lebenslust und Daseinsfreude. Manch bewundernder Blick der Fremden ruhte auf dem bildhübschen Ding, dem der lichte Schneerahmen den wirksamsten Hintergrund gab. Hänschen merkte davon nichts; die plagte sich, nachdem sie die Rodelkunst einigermaßen intus hatte, mit den langen tückischen Schneeschuhen herum, die immer andere Wege gingen, als ihre Besitzerin wünschte.
»Hanna,« rief Fräulein Trudel von der Galerie herunter, »nimm schnell den Rodelschlitten und fahr' halt zur Apotheke hinunter. Wir brauchen noch zum Pfefferkuchenbacken Pottasche und doppeltkohlensaures Natron.«
Hänschen war sofort einverstanden.
»Ich gomme mit,« rief Kätchen Kugelmann, ihren Rodelschlitten an den Hänschens koppelnd.
Unweit von den beiden stand Marga Rinberg. Sie sah blaß und verfroren aus. Nicht mal die im Sonnengold mit Tausenden von Diamanten blitzende Schneelandschaft vermochte einen froheren Zug in ihr unlustiges Gesicht zu bringen.
»Willst du auch mit, Margarine?« rief Hänschen, der die Abseitsstehende leid tat.
Für eine Sekunde leuchtete es in den unfrohen Augen auf.
Stumm, ohne ein Wort zu erwidern, koppelte Marga ihren Schlitten als dritten hinten an.
»Du, Kätchen, die Margarine muß ich heute unbedingt zum Lachen bringen. Übermorgen ist Weihnachten. Bis dahin muß sie geschmolzen sein,« raunte Hänschen Kätchen Kugelmann zu.
»Fenn tu tas Gunststück werdig pegommst, grickst tu fon mir 'ne Dawel Schogolade, Hänschen,« kicherte die zurück.
Marga hatte mißtrauisch das Getuschel mit angehört. Sollte sie noch zurückbleiben?
Da aber schrie Hänschen bereits »Rodelheil!« Die drei Schlitten setzten sich in Bewegung. Zuerst sanft, ganz gemütlich. Dann, als das Gefälle zum Dorf hinunter stärker wurde, begann Hänschens Schlitten als erster seinen wilden Galopp. Hopp – über ein Schneeloch hinweggesprungen – hallo, den Berg hinabgesaust – – – »o jemersch, fir prechen uns tas Kenick!« zeterte Kätchen in heller Angst.
Sie hatte es kaum ausgesprochen, als das Schicksal sie auch schon ereilte. Eine zu starke Schwenkung nach links – pardauz – da lagen sie alle drei mit den Nasen tief in der Schneeböschung vergraben, während die Holzgäule, die sie abgeworfen, ohne sie weitergaloppierten.
Hänschen krabbelte als erste wieder aus dem kühlen Bettchen heraus. Sie rieb sich den Schnee aus Augen und Nase und lachte – lachte – – –
Kätchens kugelrundes Gesicht tauchte schimpfend hervor: »Fenn man nicht roteln gann, tenn soll man's beiseide lassen und nicht antere in ten Schnee 'reingudschieren.«
So räsonnierte sie.
»Gätchen, halt teine Gusche – – –«
»Margarine, bist du zu einem Eisklumpen erstarrt?« Hänschen zog Marga, die sich nicht rührte, an ihrem grauen, elefantenartigen Gamaschenbein. Zuschauer hatten sich inzwischen eingefunden, die ihre Witze machten über die verunglückte Expedition. Margas Gesicht schaute, als sie endlich geruhte, sich von dem weichen Lager zu erheben, aus, als ob es wirklich zu einem Eisklumpen erstarrt sei. Keine Miene verzog sie. Sie schimpfte nicht, und sie lachte nicht.
Vor der Apotheke hatte man die drei durchgegangenen Gäule angehalten.
Ein hochgewachsener, älterer Herr mit scharfgeschnittenem Profil, einem richtigen Goethekopf, hatte sie an der Leine.
»Was bekomme ich Finderlohn, meine jungen Damen?« scherzte er.
»Kar nix,« sagte Kätchen, rot werdend.
»Sie dürfen sich in der Apotheke was aussuchen,« rief das kecke Hänschen. »Lebertran – Rizinus – oder Rhabarber.«
»Hahaha – Sie sind ja äußerst einnehmend, kleines Fräulein. Da wird mir die Wahl schwer werden.« Während die Umstehenden Beifall lachten, die Hälse reckten und sich einen Namen zuraunten, betrat der Herr mit dem markanten grauen Kopf wirklich hinter den drei Backfischchen die Apotheke.
Der Provisor dienerte tief und fragte nach den Wünschen des Herrn Hauptmann.
Ja, wie ein alter Militär in Zivil sah der Herr auch aus, fand Hänschen. Sie war durch die Rutschpartie und durch die neckende Unterhaltung mit dem Fremden heute mal wieder ganz aus dem Häuschen. Als der Provisor sich nach ihren Wünschen erkundigte, sagte sie mit todernstem Gesicht: »Ich möchte Aschenpott und doppelsohlenkauendes Nashorn.«
»Wa–as?« Schallendes Gelächter übertönte jede weitere Frage des bestürzten jungen Mannes.
Der mit »Herr Hauptmann« Angeredete lachte, daß ihm die Tränen an der kühn geschwungenen Nase entlang liefen. Kätchen prustete und erstickte beinahe, und – o Wunder! – die Margarine schmolz. Sie lachte. Lachte hell und jung, wie man das mit fünfzehn Jahren zu tun pflegt.
Hänschen hatte sich zuerst gefaßt. »Verzeihung« – entschuldigte sie sich scheinheilig bei dem mit süßsaurem Gesicht dastehenden Provisor. »Ich habe mich versprochen. Ich meine Pottasche und doppeltkohlensaures Natron,« brachte sie schließlich heraus.
»Ein Kapitalmädel – in dem besten Lustspiel habe ich nicht derart gelacht,« rief der fremde Herr. »Wie heißen Sie denn, kleines Zigeunermädel?«
»Hanna – Hanna Wallenberg.«
»Ah – Hannele. Der Name ist mir vertraut.«
»Wohl von Gerhart Hauptmanns ›Hannele‹ her?« Hänschen mußte doch ihre neu errungenen Kenntnisse aus der Tanzstunde anbringen.
»Ei der Tausend – eine gebildete junge Dame!« Der Herr winkte dem Provisor, der etwas sagen wollte, mit den Augen zu.
»Haben wir etwa schon ›Hannele‹ gelesen?«
»Ih wo!« Hänschen wies diese Zumutung weit von sich. »Aber ein Autogramm möchte ich so schrecklich gern von Gerhart Hauptmann haben. Ich will nach Agnetendorf und ihn darum bitten,« erzählte sie zutraulich.
Jetzt lachte der Provisor, während der Herr vergeblich ein Schmunzeln zu unterdrücken versuchte.
»Hoffentlich setzt er mich nicht an die Luft. Er soll manchmal ganz eklig werden können, weil er ein so berühmter Mann ist,« plauderte Hänschen weiter. »Und Fräulein Trudel sagt, mit solchen Pensionsgänschen, wie ich eins bin, macht er kurzen Prozeß. Aber ich möchte ihn doch so schrecklich gern mal kennenlernen.«
»Wo ist denn das Pensionsgänschen zu Hause?« erkundigte sich der Herr, der vergebliche Anstrengungen machte, ernst zu bleiben. Der Provisor verschüttete das doppeltkohlensaure Natron, so lachte er.
»Im Hühnerstall – Pension Waldheim – bei Fräulein Huhn – so nun müssen wir aber gehen. Sonst wird der Pfefferkuchen bis Weihnachten nicht mehr fertig!«
Hänschen zahlte, knickste, und 'raus waren sie alle drei.
Draußen standen noch immer Winterfrischler und versuchten durch die vereisten Schaufenster zu spähen.
»Ist Hauptmann noch in der Apotheke?« fragte man die drei neugierig.
»Freilich, der Herr Hauptmann ist noch drin – wißt ihr, eigentlich sah er doch schon wie ein Major aus!« Hänschen band heimlich ihren Schlitten an den der vorausgehenden Marga, die ihn nichtsahnend auf diese Weise den steilen Anstieg hinaufziehen mußte.
»Hänschen, tu farst aper ooch kleich zu wrech. »Tobbelsohlengauentes Nashorn – – –« Kätchen kicherte den ganzen Weg über.
»Lache nicht, Gätchen – fer zuletzt lacht, lacht am pesten. Ich grieke eine Dawel Schokolade von tir wir tie keschmolsene Markarine.«
Die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest verwischten die lustige Begegnung mit dem fremden Herrn. Da wurden Pakete in die Heimat gesandt mit Weihnachtsarbeiten. »Warmbrunner Gebäck« und »Stonsdorfer« für den Vater. Pitt bekam sein Extrapäckchen, mit der Aufschrift: »An Herrn Pittewittewitt Wallenberg«. Ob ihm die Weihnachtswurst besser mundete, weil seine Freundin Hänschen sie gespendet hatte, muß allerdings dahingestellt bleiben.
Da wurden für sämtliche Mitglieder des Hühnerstalles Weihnachtsüberraschungen vorbereitet. Wohin man kam, klopfte man an verschlossene Türen. Ganz Waldheim war ein großes Geheimnis, das sich aus vielen, vielen kleinen Überraschungen mosaikartig zusammensetzte.
Da mußte man am Nachmittag des heiligen Abends noch ganz geschwind durch den Schnee nach Hain herüber stampfen, um den Försterkindern als Knecht Ruprecht heimlich die gewünschten Spielsachen ins Haus zu schmuggeln. Es war bereits dämmrig, als Hänschen und Mieke, in Begleitung von Fräulein Gretl, Brückenberg wieder erreichten. Weiße Schneeschleier wehten von den Bergen herab, und in dieses Silberweben gehüllt, schwebte lautlos die heilige Nacht zu den Menschen hernieder. Ganz anders kam sie hier, als in der lauten Stadt, die Weihenacht. Sie schritt über festlich weißgedeckte Wiesen, durch silberstillen Weihnachtswald. Sie rührte an die Glocken des Bergkirchleins Wang, daß sie die heilige Botschaft in die Täler hinaussangen. Sie winkte kaum merklich zu den Fenstern hin, wo erwartungsvolle Kinderaugen längst schon nach ihr ausschauten. Da flammten die Weihnachtskerzen auf – da jauchzten Kinderstimmen.
Im Waldheim war eine lange Tafel gedeckt. Die schönste Edeltanne, die er finden konnte, hatte Vater Liebig aus dem Walde geholt. Sie reichte vom Fußboden bis an die Zimmerdecke. Zierliche Mädchenhände hatten sie geschmückt, krause Mädchenköpfe lustige Überraschungen für ein jedes im grünen Geäst versteckt. Die feierlichen Klänge des Weihnachtsliedes waren verhallt. Ungeduldige Hände lösten Bindfaden und Papiere von den Heimatspaketen. Jubelnde Ausrufe – bewunderndes Staunen der anderen. Ab und zu auch ein heimlich zerdrücktes Tränchen, wenn Mutterhand mit ihrem liebevollen Sorgen die weite Entfernung überbrückte.
Jubelnd sprang die kleine Clemence, der keine Mutter eine Weihnachtsfreude machte, von einer zur anderen: »Oh, der deutsche Weihnacht sein magnifique.«
Hänschen stand vor ihrem reichbesetzten Platz. Die Heimatskiste war geleert. Die lustigen Gaben der Pensionsschwestern und die verständnisvollen der Huhnschen Damen teils lachend, teils mit warmem Dank entgegengenommen. Neben Hänschen hatte Marga ihren Platz. Ziemlich leer sah es auf dem weißen Viereck aus. Da gab es die bunte Schüssel, die Fräulein Trudel für jedes Küken hergerichtet, ein Buch von der Pensionsmutter und einige Ulkgegenstände, von den Zimmergefährtinnen gespendet. Ein Geheimmittel, um das Lachen zu erlernen, ein Plätteisen, um die Falten aus der Stirn zu bügeln, und einen Brummkreisel, als getreues Abbild von Margas Gemütsart.
»Hast du denn kein Weihnachtspaket von Hause bekommen, Margarine?« fragte Hänschen mitleidig erstaunt.
Marga zuckte gleichmütig die Achsel und furchte die Stirn noch tiefer als sonst. »Wir wohnen im besetzten Gebiet – da wird nichts durchgelassen worden sein.« Es klang abweisend wie meist – aber Hänschen fühlte ungeweinte Tränen aus den Worten. Mit plötzlichem Impuls schlang sie den Arm um die Nebenstehende: »Margarine, wir teilen pensionsschwesterlich. Komm, such' dir von meinen Sachen aus, was du haben magst.«
Da ging es wie ein Leuchten über das finstere Mädchengesicht. Marga schüttelte stumm den Kopf. Aber sie preßte die Hand Hänschens und ließ sie nicht wieder los.
Die Pensionsmutter, die den Vorgang beobachtete, strich Hänschen liebevoll über das weiche Gelock. Ein Prachtmädel – sie hatte es ja längst gewußt.
»Tu hast ja noch ein Baget verkessen, Hänschen.« Kätchen, die ihre Augen überall hatte, zog unter Hänschens Heimatsgaben ein unscheinbares kleines Päckchen in Buchformat hervor. Es trug die Aufschrift: »Fräulein Hanna Wallenberg.« Neugierig riß Hänschen es ihr fort. Nanu – wer hatte denn noch ein Geschenk für sie?
Ein geschmackvoll gebundenes Büchlein. »Hannele, von Gerhart Hauptmann« stand darauf gedruckt. Kein Brief, keine Karte – von wem mochte das Buch kommen? Hänschen schlug es kopfschüttelnd auf. Halt – auf der ersten Leite stand etwas in markanten Zügen geschrieben: »Dem Hannele zur Erinnerung an das Doppelsohlen kauende Nashorn von dem Verfasser.«
Von dem Verfasser? Hänschen griff sich an den Kopf. Ja, der Verfasser war doch kein anderer als Gerhart Hauptmann selber – – –
»Kätchen,« rief sie halb kläglich, halb beglückt, »Kätchen, ich selbst bin das Doppelsohlen kauende Nashorn! Dreimal gehörnt bin ich! Der fremde Herr in der Apotheke, das muß Gerhart Hauptmann selber gewesen sein – darum hat ihn auch der Provisor mit Herr Hauptmann angeredet. Und ich Kamel habe gedacht, er wäre vom Militär. Ach, nun habe ich ja mein Autogramm, und kennengelernt habe ich Gerhart Hauptmann auch – Hurra!« Ein Luftsprung, der Fräulein Gretls Grazienstunde alle Ehre machte, gab den Auftakt zu Hänschens uneingeschränkter Seligkeit.
»War er's denn auch wirklich gewesen?« fragte Tante Klärchen lächelnd und brachte ein Buch herbei, das Hauptmanns Bild zeigte.
»Ja, natürlich, das ist er ganz genau! Die hohe Stirn, die scharfe Nase und die Flattermähne – wie Goethe hat er ausgesehen – morgen zeichne ich ihn. Ach, und gelacht hat er über mein Nashorn – und ›Hannele‹ hat er mich genannt! Kinder, ich bin der glücklichste Mensch auf der ganzen Erde!«
Der am meisten Beneidetste war Hänschen heute zweifellos. Nicht etwa, daß ihr die andern ihr Glück nicht gönnten, nur – sie wären eben auch gern an Hänschens Stelle gewesen. Kätchen aber fand es gar nicht hübsch von Gerhart Hauptmann, daß er ihr, die doch ebenfalls dabei gewesen, nicht auch ein Buch verehrt hatte. Etwa »Das Gätchen von Heilpronn«, wenn es auch nicht von ihm, sondern von »Gleist« war.