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»Mein Pittewittewitt, mein Hundetier,
Ach, komm doch her und tanz' mit mir.
Mein Pittewittewitt – mein Pittewittewitt,
Das freut den Pitt gar sehr!«
so klang's aus dem kleinen Potsdamer Hausgärtchen, das zu einem Havelarm hinabführte, mit heller Mädchenstimme, mehr schmetternd als melodisch. Auf dem noch bräunlich schimmernden Rasen, in dem die ersten Krokuspflänzchen sich zaghaft hervorwagten, hüpften zwei braunbestrumpfte Mädchenbeine und ein Paar zottigweißer Hundebeine dazu im Takt. Hänschen hatte Pitt bei den Vorderpfoten gepackt und sprang in der warmen Märzsonne mit ihm laut singend umher:
»Mein Pittewittewitt, mein Hundetier,
Ach, komm doch her und tanz' mit mir,
Mein Pittewittewitt, mein Pittewittewitt,
Das freut den Pitt gar sehr!«
Pitt gab seiner Freude durch nicht weniger melodisches Gekläff Ausdruck.
Droben auf dem Balkon, von dem man den hübschen Havelblick hatte, stand der Vater. Aber er sah heute nicht das weidenverhangene Ufer, nicht das silberne Schlängelband der Havel und auch nicht die verwitterte Heilige-Geist-Kirche, deren altersgrauer Turm über noch kahlem Geäst sichtbar war und ihn sonst stets von neuem begeisterte. Halb lächelnd, halb ernst blickte er auf sein fröhliches Kind da unten, dem er gleich einen Schmerz zufügen musste. Ja, es musste sein! Der Regierungsrat schaute nachdenklich auf den Brief in seiner Hand. Er musste fest bleiben. Er durfte sich weder durch die Tränen seiner Frau, welche die peinlichen Aufregungen, die Hänschen ihr bei dem Damenkaffee neulich verursacht hatte, längst vergessen hatte, noch durch die stürmischen Bitten seines Töchterchens beeinflussen lassen. Hanna musste in Pension; die zarte Mutter war nicht dazu imstande, den Unband zu zähmen.
»Hanna,« rief der Vater in das melodische Pittlied hinein, »Hanna, komm doch mal zu mir herauf.«
Hänschen ließ ihren Pittewittewitt los und stürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Pitt hinterdrein.
»Schieß los, Vati –« erwartungsvoll blickte sie auf den Brief in seiner Hand.
»Hm – Kind, der Brief hier ist aus Brückenberg im Riesengebirge.« Er machte eine kleine Kunstpause.
»Wollen wir in den Osterferien hinreisen? Au fein!« Hänschen vollführte einen Luftsprung.
»Ja, wir wollen beide hinreisen, du und ich, Hanna. Der Brief ist aus der Pension von Fräulein Huhn – –«
»Hahaha« – Hänschens Lachen unterbrach die etwas mühsame Rede des Vaters. »Hahaha – – zu einem Huhn wollen wir in Pension gehen?«
»Ich nicht, Hanna, nur du! Ich bringe dich bloß hin.« Da war es heraus.
Hänschens große dunkle Augen wurden noch größer.
»Ich soll allein in den Osterferien in Brückenberg bleiben? Das macht mir gar keinen Spaß. Überhaupt, Mutti braucht die Erholung viel notwendiger als ich. Nein, ich bleib' hier bei meinem Pitt. Was, mein Pittewittewitt, wir trennen uns nicht. Du hast ja auch keine roten Backen.« Sie drückte Pitts Kopf zärtlich an ihre Brust.
»Ganz recht, Hanna. Es handelt sich in erster Reihe um die Erholung, die Mutter so notwendig hat. Aus diesem Grunde und aus manchem anderen habe ich dich zu Ostern auf ein Jahr in dem Huhnschen Mädchenpensionat angemeldet. Ich hoffe, daß du uns jetzt endlich Freude machen und dort zu einem wohlerzogenen Mädchen heranwachsen wirst. Erst neulich der Damenkaffee hat uns gezeigt, wie notwendig es ist – – –«
Jetzt kam Leben in Hänschen, die bisher ganz erstarrt, mit schreckensweiten Augen der Eröffnung des Vaters gelauscht hatte, als begriffe sie gar nicht, was er sagte. Sie trampste mit dem Fuß auf und rief, nein, schrie mit zorniger Stimme: »Das hat mir die Frau Oberstaatsanwalt eingebrockt, die Mutter von der Schnattergans! Und bloß, weil ich die Schüssel ausgeleckt habe – als ob ihr Agathchen das nicht geradeso macht, aber in den Hühnerstall gehe ich nicht, und überhaupt – Mutti läßt mich ja gar nicht fort!« Sie brach in wildes Weinen aus.
»Deine ungestüme Heftigkeit zeigt mir am besten, Hanna, wie notwendig dir eine strengere Erziehung ist, als deine zarte, leidende Mutter sie dir zuteil werden lassen kann. Meinst du, es ist mir gleichgültig, wenn man meine Tochter hier in Potsdam allgemein ›Hänschen Tunichtgut‹ nennt?« Vater sah recht traurig aus.
Hänschen aber rief empört: »Wer hat das gesagt? Solch eine Gemeinheit, zu klatschen! Sicher Agathchen – ich weiß schon, woher der Wind weht; die ist ganz allein schuld daran, daß ich in den Hühnerstall auf ein ganzes Jahr gesperrt werden soll. Aber ich halte es da nicht aus! Entweder ich brenne durch, oder ich sterbe vor Heimweh, und ihr habt dann kein Hänschen mehr!« Bitterlich weinend – ob über ihre Verbannung oder über ihren frühen Tod, blieb ungewiß – warf sich Hänschen der eintretenden Mutter an den Hals. Fest hielt die Mutter ihr Kind, das ihr genommen werden sollte, im Arm. Ihre Tränen mischten sich.
»Ludwig – – –«, flehentlich gingen Mutters Augen zu den ernsten Zügen des Gatten.
»Nein, Hedwig, ich bleibe fest. Sowohl in deinem Interesse wie zum Wohl unseres Kindes. Du selbst warst neulich, am Abend des Damenkaffees, davon durchdrungen, daß es notwendig sei, Hanna in Pension zu geben. Wir wollen uns nicht durch sentimentale Schwäche von dem, was wir einmal als richtig erkannt haben, abbringen lassen. In acht Tagen, am 1. April, reisen wir.«
»Geht ja gar nicht – da haben wir überhaupt noch Schule,« triumphierte Hänschen unter Tränen.
»So verläßt du die Schule ein paar Tage vor Quartalschluß. Fräulein Huhn erwartet dich zum Ersten.«
Damit ging der Vater in sein Zimmer.
Die Angelegenheit war für ihn erledigt.
Aber nicht für Hänschen. Die Schule vor den Osterzensuren verlassen – das war allerdings ein Lichtblick in all der Finsternis, die sich vor Hänschen auftat. Wenn Fräulein Schmidt ihre Drohung wirklich wahr machte und sie in der II O sitzenließ, dann war sie bereits über alle Berge. Aber nein – Hänschen blickte auf die immer noch weinende Mutter.
»Weine nicht, Muttichen,« flüsterte sie tröstend, »acht Tage sind lang. Bis dahin kann noch viel passieren. Ich kann krank werden, dann muß ich hierbleiben – – –«
»Behüte Gott!« unterbrach Frau Wallenberg sie erschreckt.
»Nun, es braucht ja bloß ein Schnupfen zu sein. Oder ich kann mir vielleicht auch ein Bein brechen,« überlegte Hänschen weiter.
»Red' keinen Unsinn, Kind. Mit so ernsten Sachen treibt man keinen Scherz.« Frau Regierungsrat wischte sich mit mühsamer Energie die Augen und zog ein Taschenbüchlein hervor, um zu notieren, was noch alles für ihr Hänschen, das nun unerbittlich ins Exil sollte, vorzubereiten und einzukaufen sei. Vor allem warmes Zeug. Dort oben in den Bergen war es gewiß kalt. Wie leicht konnte sich das Kind dort erkälten!
Während die Mutter schweren Herzens die Vorbereitungen für das Pensionsjahr traf, nahm Hänschens sorgloses Temperament die Angelegenheit noch immer nicht ganz ernst. Zwar übte sie täglich, auf welche Weise man sich wohl am besten ein Bein brechen konnte. Denn sie hatte gehört, daß man dann wochenlang liegen müsse. Aber soviel sie auch kletterte und sprang – täglich eine Treppenstufe mehr hinabsauste – das Bein tat ihr den Gefallen nicht. Es blieb heil. Nun, auch ein Eisenbahnstreik war nicht ausgeschlossen. Im vorigen Jahr war doch auch einer gewesen. Irgend etwas würde sicher kommen, um sie von der gräßlichen Pension zu befreien. Und wenn nicht – ei, Hänschen fand den Weg wieder zurück. Nur Geld mußte man haben. Sie überzählte ihre kleine Barschaft.
In der Schule tat Hänschen merkwürdigerweise so, als ob sie sich wunder wie auf das Pensionsjahr freue. Nur um die »Schnattergans« zu ärgern. Denn sie glaubte steif und fest, daß Agathe durch die Verbreitung ihres Namens als Hänschen Tunichtgut schuld an der ganzen Geschichte sei. Oder auch deren Mutter. Weil sie Pitt Frau Oberstaatsanwalts neuen Federhut aufgesetzt und ihr den vierten Pfannkuchen nicht gegönnt hatte. Sicher, das war der Grund, daß sie jetzt in Pension mußte.
»Brückenberg soll wundervoll sein,« erzählte sie frohlockend. »Da ist das Riesengebirge, dagegen ist Potsdam überhaupt gar nichts. Und eine Pension ist auch etwas ganz anderes als solche langweilige Schule. Da kann man ruhig Unsinn machen, es gibt ja keine Tadel. Und sitzenlassen kann einen auch keiner.«
»Aber an die Luft gesetzt werden kann man, wenn man's zu arg treibt. Hänschen Tunichtgut wird sicher bald wieder heimgeschickt,« sagte Agathe mit vernehmlicher Stimme.
Freudiger Schreck durchzuckte Hänschen. Wieder heimgeschickt konnte man werden, wenn man es zu arg trieb!
Oh, Hänschen wollte schon ihr möglichstes tun, daß man sie nicht dort behielt. Nun wußte sie es ja, wie man's anzufangen hatte! Ordentlich dankbar war sie der Agathe.
»Übrigens kenne ich das Huhnsche Pensionat,« wandte sich jetzt Agathe direkt an Hänschen. »Meine Kusine aus Breslau ist dort, es gefällt ihr gar nicht – Fräulein Huhn soll mächtig streng sein.« Agathe wäre auch recht gern in die Pension gekommen. Nun wollte sie wenigstens Hänschens Freude möglichst dämpfen.
»Ein Huhn ist mir jedenfalls angenehmer als eine Schnattergans.« So – da hatte es Agathe. Der Neid sprach ja deutlich aus ihren Worten.
»Sie werden es dort bald genug erfahren, was für einen Tunichtgut sie ins Haus kriegen,« sagte Agathe höhnisch unter dem Beifall ihrer Partei.
»Freilich, für petzen bist du ja bekannt.« Hänschen nahm den Arm ihrer Lore und drehte den Schnattergänsen den Rücken.
»Siehst du, Lore, selbst wenn ich die Absicht gehabt hätte, mich in der Pension anständig zu benehmen, es wäre umsonst. Die Schnattergans schreibt es sicher ihrer Kusine, daß ich solch ein Tunichtgut bin – na, mir soll's recht sein.« Hänschen lachte durchtrieben. »Ich werde dem Spottnamen schon Ehre zu machen wissen.«
»Im Gegenteil, Hänschen, ich würde die Agathe Lügen strafen. Ich würde meine Ehre gerade dareinsetzen, in der Pension zu zeigen, daß ich kein Hänschen Tunichtgut bin. Probiere es doch mal, es ist ja gar nicht schwer.« Oft schon hatte die brave Lore ihren günstigen Einfluß auf Hänschen auszuüben versucht, aber leider selten mit Erfolg.
Auch jetzt rief Hänschen: »Furchtbar schwer ist es und langweilig obendrein! Nein, nein, sie sollen mich so schnell wie möglich wieder nach Hause schicken. Ich will nicht in dem ekligen Hühnerstall bleiben!« Nur die Lore wußte es in der Schule, wie es eigentlich in Hänschen ausschaute. Wie schwer sie die über sie verhängte Verbannung aus dem Elternhaus empfand.
»Glaubst du, daß noch bis Sonntag ein Eisenbahnstreik kommen wird, Lore?« Sorgenvoll blickte Hänschen auf die regelmäßig verkehrenden Züge am Bahnhof, an dem sie gerade vorübergingen.
Lore bezweifelte es. Auch Hänschen schien dieser Hoffnungsstrahl ziemlich erloschen. Blieb nur noch das Bein.
Auf sechs Treppenstufen hatte sie es inzwischen gebracht. Mit einem Satz nahm Hänschen sie. Morgen kam die letzte heran. Würde die endlich was nützen? Und wenn es nur eine kleine Verrenkung gab, Hänschen wäre auch damit schon zufrieden gewesen. Übermorgen war schon der gefürchtete Reisesonntag. Es war wirklich schrecklich, daß sie so kerngesund blieb.
Der letzte Schultag für Hänschen Tunichtgut im Schmidtschen Töchterlyzeum. Mit den verschiedenartigsten Gefühlen begrüßte das Backfischchen ihn. Zu der Freude, daß es dem strengen Schulzwang entrann, kam das Abschiedsweh. Denn Hänschen Tunichtgut hatte trotz all ihrer losen Streiche ein warmes Herz.
Freilich das Lebewohl von Fräulein Schmidt ging ihr nicht allzu nahe. Die Schulvorsteherin sah so unnahbar und so lang aus wie nur je, als sie Hänschen das Abgangszeugnis mit den Worten überreichte: »In Anbetracht dessen, daß du unsere Schule verläßt, Johanna Wallenberg, haben wir ein Auge zugedrückt und dich in die I O versetzt.«
»Au – fein!« unterbrach Hänschen die Rede Fräulein Schmidts lebhaft.
»Willst du mich nicht aussprechen lassen, Johanna? Ich muß leider sagen, daß du mir wenig Freude gemacht hast in den drei Monaten, welche du in unserer Schule zugebracht hast. Aber ich erwarte jetzt von dir, daß du dich in dem Pensionat zusammennimmst. Du giltst dort als eine Schülerin meiner Anstalt. Und ich möchte mein wohlrenommiertes Lyzeum nicht durch einen ungezogenen Zögling in Mißkredit gebracht sehen.« Das klang so strafend, als ob Hänschen Gott weiß was wieder ausgefressen hatte.
Hänschen fühlte denn auch durchaus die Schwere der Verantwortung, die auf ihre Schultern gewälzt wurde. Sie hatte nun auch noch für den guten Ruf des Potsdamer Töchterlyzeums zu stehen. O Gott, es wurde immer schwerer. Trotzdem versprach sie bereitwillig: »Ich will sehen, was sich tun läßt, Fräulein Schmidt. Weil Sie so nett waren und mich versetzt haben.«
Fräulein Schmidt schien damit nicht zufrieden.
»Du weißt immer noch nicht, Johanna, wie du mit deiner Schulvorsteherin zu sprechen hast. Dir fehlt jede Ehrerbietung, jeder Respekt. Nun geh, Kind, und versuche, ein brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden.«
»Wie macht man das?« Es klang so treuherzig, daß Fräulein Schmidt die Rüge wegen einer neuen Unehrerbietung, die ihr auf der Zunge schwebte, hinunterschluckte und mit erhobenem Finger sagte: »Versuche nur, deine Fehler abzulegen, Johanna – alles Weitere findet sich dann schon.«
Hänschen machte ihren Abschiedsknicks sehr flüchtig. Auch dachte sie nicht daran, Fräulein Schmidt die lange schmale Hand, die durch den erhobenen Zeigefinger ins Endlose wuchs, zu küssen. Erleichtert sprang sie davon.
»Versetzt! Hätt' ich der Schmidt gar nicht zugetraut!« rief sie der draußen wartenden Freundin zu. »Weißt du, Lore, die Schmidt hat gesagt, ich soll ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden. Ob sie damit Muttis Kaffeegesellschaft von neulich meint, wegen der ich überhaupt nur in Pension muß? Am Ende hat Agathe auch hier gepetzt. Na, von der Schnattergans wird mir der Abschied nicht schwer.«
»Aber von mir, ja, Hänschen?« Lore hatte Tränen in den blauen Augen.
Stumm umarmte Hänschen die Freundin. »Vielleicht breche ich mir bis morgen doch noch ein Bein, dann kann ich nicht reisen.« Als Zeichen ihres höchsten Freundschaftsgefühls machte Hänschen die Lore zur Mitwisserin ihrer geheimen Hoffnungen. Aber Lore sah ebenso zweifelnd drein wie gestern im Hinblick auf den Eisenbahnstreik.
Nun waren alle Abschiedsknickse glücklich gemacht. Fräulein Neuberg hatte Hänschen die Backe geklopft: »Na, Hanna, nun grüß' das Riesengebirge von mir. Vielleicht besuche ich dich mal in den Sommerferien.«
»Wirklich, Fräulein Neuberg? Au, das wäre famos! Falls ich nämlich dann überhaupt noch da bin.«
»Du nimmst es dir ja gut vor, Hanna. Ärgere nur deinen neuen Lehrer nicht so, wie uns hier,« scherzte die liebenswürdige Dame.
»Sie wollte ich niemals ärgern, Fräulein Neuberg. Sie nicht! Sie sind die einzige nette von all den Schultunten – – –«
»Aber Hanna!« unterbrach sie Fräulein Neuberg mahnend. Und als sie ihr dann die Hand zum Abschied reichte: »Alles Gute, mein Kind, für dein neues Leben!« Da neigte sich Hänschen Tunichtgut in plötzlicher Aufwallung über Fräulein Neubergs Rechte und drückte ihre Lippen darauf. Und war doch sonst so gegen »Pfotenlecken«.
Die Lehrerin sah der schmächtigen Mädchengestalt lächelnd nach. Sie hatte es ja von Anfang an gewußt, daß Hänschen Tunichtgut, trotz all der nichtsnutzigen Streiche, ein warmes Herz hatte. Es war eben ein urwüchsiges Naturkind, das sich in die Form des Hergebrachten nicht hineinpressen lassen wollte. Aber wenn sie in verständige Hände kam ... vor allem in liebevolle, denn das war Fräulein Neuberg klar, daß man nur im Guten etwas bei Hanna Wallenberg ausrichten konnte.
Inzwischen hatte diese auch der Klasse Lebewohl gesagt. Die meisten bedauerten aufrichtig ihr Fortgehen. Denn Hänschen war allezeit eine gute, lustige Kameradin gewesen und hatte ausgiebig dafür gesorgt, daß Leben in die Unterrichtsstunden kam.
Selbst den »Schnattergänsen« reichte sie die Hand. Agathe sagte beim Abschied: »Grüß' meine Kusine, und sie soll sich nicht mit dir anfreunden, sonst wird sie verdorben.« Worauf Hänschen prompt erwiderte: »Wenn sie so ist wie du, freunde ich mich sicher nicht mit ihr an.« Das war die letzte Liebenswürdigkeit, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen.
Frau Kurzmichel, die Schuldienerin, trocknete sich die nasse Hand an der blaubedruckten Schürze und reichte sie treuherzig der Abgehenden: »Lassen Se sich's jut jehen, Fräuleinchen, und bleiben Se man so hübsch vajnüjt. Das Leben ist noch ernst jenuch.«
Bums – da schlug die Tür des Schmidtschen Töchterlyzeums hinter Hänschen Tunichtgut zu.
Sahen die Potsdamer Straßen heute nicht ganz anders aus, wo man den Schulweg zum letzten Male Arm in Arm mit der Lore machte?
Viel ernster und feierlicher. All die Steinfiguren, die Rokoko-Pausback, die Häuser und Gärten schmückten, schauten gar nicht so lustig drein wie sonst. Als wüßten sie, daß Hänschen Tunichtgut scheiden sollte. Nun klang's auch noch von der Garnisonkirche: Lobe den Herren meine Seele – – nein, Hänschen wischte sich energisch die Augen. Sie wollte nicht heulen. Es war ja so hell und frühlingsfreudig ringsum. Dort die Bittstellerlinde des alten Fritzen hatte über Nacht die braunen Knospen gesprengt und zeigte das erste junge Blattgrün. Im Lustgarten die Kastanien tasteten behutsam mit zartgrünen Fingerchen in den Sonnenschein, ob es wohl schon Zeit sei. Die Osterbeete blühten leuchtend bunt – nein, heute war kein Tag zum Traurigsein.
Aber als Hänschen jetzt auch von ihrer Lore Abschied nehmen mußte, da zog sie dieselbe schnell mit in den Hausflur hinein, denn sie schämte sich vor der lachenden Sonne draußen ihrer Tränen.
»Leb' wohl, Lore, vergiß mich nicht – ich schreibe dir schrecklich lange Briefe. Ach, vielleicht bleibe ich doch noch hier!« Ein letzter Kuß – Hänschen jagte die Treppe hinauf, um im nächsten Augenblick, noch ehe Lore den Hausflur verlassen hatte, mit lautem Knall wieder unten neben Lore anzugelangen.
»Um Himmels willen – bist du die Treppe heruntergefallen, Hänschen?« rief diese erschreckt.
»Nee – bloß runtergesprungen. Aber ich hab' mir eklig weh getan!« Sie rieb sich das Bein. »Du, Lore« – Hänschens schwarze Augen strahlten – »heute hat's doch was genützt!«
»Zeig her!« Lore griff hilfsbereit zu. »Ach, du hast dir ja bloß ein bißchen Haut abgeschürft. Das heilt bald wieder.«
»Kann sehr gefährlich werden. Da kann man leicht 'ne Blutvergiftung dran kriegen. Reisen darf ich auf keinen Fall morgen.« Hänschen sah selig auf das ein wenig zerkratzte Bein.
»Wirklich nicht? Kommst du dann Montag wieder in die Schule, Hänschen?«
»Hm – da bin ich ja nun glücklich raus. Und die Schmidt kriegt es fertig, mich noch nachträglich sitzen zu lassen. Nee – in die Schule gehe ich nicht mehr. Vorläufig bin ich ja auch viel zu krank dazu. Auf Wiedersehen, Lore!«
Hänschen ging die Treppe jetzt langsam und mühselig hinauf. Humpelnd betrat sie oben das Zimmer, in dem Frau Wallenberg mit feuchten Augen den Koffer packte.
»Tag, Muttichen. Du brauchst dich nicht mehr mit dem dummen Koffer abzuquälen. Ich reise nicht.«
»Du reist nicht?« Freudiger Schreck durchzuckte die Mutter.
»Ich bin krank,« erklärte Hänschen. »Mein Bein ist entweder gebrochen oder verstaucht. Ich muß einen Verband kriegen.«
»Kind – Kind – wie hast du dir das bloß zugezogen? Komm, leg' dich auf die Chaiselongue. Ist es denn sehr geschwollen?« Die Mutter untersuchte das abgeschürfte Bein. Hänschen hielt es für notwendig, ein bißchen dabei zu stöhnen.
»So weh tut es dir, Hänschen?« Frau Wallenberg wagte nicht, weiter zu untersuchen. »Ich werde dir gleich kalte Umschläge machen und an Sanitätsrat Klopfer telephonieren.«
»Ach nee – ach nee – das wird nicht notwendig sein. Solch gebrochenes Bein braucht nur ein paar Wochen Ruhe, dann heilt es auch ohne Doktor wieder zusammen,« erhob Hänschen Anspruch.
Aber die ängstliche Mutter lief doch zum Telephon und bat den Arzt um seinen Besuch.
Noch bevor er erschien, kam der Vater vom Dienst heim. Der zog die Augenbrauen hoch, als die Mutter ihm Hänschens »Pech« meldete.
»Zeig mal her, mein Kind.« Er nahm das nasse Tuch von dem verschrammten Bein.
»Nicht anfassen – es tut so weh – – –« jammerte Hänschen schon im voraus.
Nichtsdestoweniger begann der Vater das kranke Bein nach allen Himmelsrichtungen hin zu bewegen. Hänschen stöhnte jetzt nicht nur, sie wimmerte sogar.
»Meiner Ansicht nach hat es nichts auf sich. Sag mal, mein Kind, solltest du etwa schulkrank sein?« Durchdringend blickte der Vater seinem Töchterchen in die Augen.
Die senkten sich. Während Hänschens Mund verlegen hervorstieß: »Wenn es doch geblutet hat.«
Aber auch der hinzukommende Herr Sanitätsrat konnte den Fall nicht allzu ernst finden. Ja, er meinte sogar, daß Hänschen ganz ruhig am nächsten Tage reisen könnte.
So wurde der Koffer weiter gepackt, trotzdem Hänschen unentwegt Umschläge machte und der Mutter zu bedenken gab, ob es nicht doch besser sei, noch einen Spezialisten zu befragen.
Am nächsten Morgen humpelte Hänschen zwischen Vater und Mutter durch das lenzerwachende Potsdam zum Bahnhof. Pitt und die mit Gepäck beladene Luise hinterdrein.
»Einsteigen,« rief der Schaffner bereits, und noch immer konnte sich Hänschen nicht aus den Armen der Mutter lösen. Ihr sollte es nur recht sein, wenn der Zug ohne sie abdampfte.
Aber dann saß sie doch drin. Immer kleiner wurde Mutti, kaum sah man mehr, daß sie das Taschentuch gegen die Augen drückte. Auch Luise verschwand im Sonntagsgedränge. Nur Pitt raste wie besessen neben dem abfahrenden Zuge her, bis auch er den Wettlauf mit dem Schnellzuge aufgab.
»Vielleicht haben wir unterwegs ein Eisenbahnunglück!« Das war der einzige Trost, der Hänschen Tunichtgut in ihrem Abschiedsjammer noch blieb.