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Sechstes Kapitel
In die Welt hinaus

Hänschens Hoffen war umsonst. Ohne Störung, ja, ohne jede Verspätung erreichte der Zug das schlesische Städtchen Hirschberg. Die einzige Störung unterwegs verursachte Hänschen selbst. Sie gab keinen Augenblick Ruhe. Rein und raus ging es, aus dem Abteil in den Gang des D-Zuges, und wieder zurück. Der Vater, der die Zeitung lesen wollte, erhob schließlich, im Interesse der Mitreisenden sowohl wie in seinem eigenen, Einspruch. Er ahnte ja nicht, daß seine Tochter nach beiden Seiten die Strecke zu beobachten hatte, ob denn noch immer kein Hindernis käme. Hänschen mußte ihre Tätigkeit auf die Heizungshebel beschränken. Nachdem sie dieselben eingehend studiert und sie einige Dutzend Male von Kalt auf Warm und von Warm auf Kalt geschoben hatte, ward ihr auch diese Unterhaltung vom Vater untersagt. Nun begann Hänschen mit der Notbremse zu liebäugeln. Es musste doch eine sinnreiche Einrichtung sein, die durch einen einzigen Griff einen ganzen Zug zum Stehen bringen konnte. Ob das wirklich tadellos funktionierte? Hänschen hatte die größte Lust, der Sache mal auf den Grund zu kommen. Und wer weiß – vielleicht fuhr solch ein Zug, wenn er erst mal zum Stehen gebracht war, überhaupt nicht mehr weiter. Es konnte doch dabei was entzweigehen. Ja, Hänschen fühlte sogar die Verpflichtung, das schwarze ratternde Ungetüm, das sie mit jedem schnaufenden Atemzug weiter von Mutti fortführte, das sie unbarmherzig dem »Gefängnis« ausliefern wollte, an der Weiterfahrt zu behindern.

Schon war Hänschen Tunichtgut trotz des kranken Beines auf die Bank geklettert, und noch ehe jemand ihre Absicht durchschauen konnte – war's schon geschehen.

Ein Ruck – der Zug hielt.

»Was machen Sie denn –« »um Himmels willen, was ist denn geschehen?« Große Aufregung bemächtigte sich der Mitreisenden.

Der Regierungsrat, der in seine Lektüre vertieft gewesen, fuhr erschreckt hoch. »Hanna, hast du etwa – –«

Aber das Töchterchen saß bereits wieder harmlos und brav auf seinem Platz.

Da wurde die Tür aufgerissen. Der Schaffner erschien.

»Ist hier die Notbremse gezogen worden?« forschte er.

Eine furchtbare Ahnung durchzuckte den Regierungsrat.

»Jawohl, das kleine Fräulein hier,« rief man.

»Hanna, – was fällt dir ein?« Der Regierungsrat mußte sehr an sich halten, um seine Hand nicht in nähere Beziehung zu Hänschens Wange zu bringen. »Weißt du denn nicht, daß dieser Hebel nur in höchster Not gezogen werden darf – – –« Der sonst so ruhige Mann war dunkelrot vor Ärger und peinlicher Beschämung, ein derartiges Aufsehen zu verursachen. Denn aus den Nebenabteilen drängte man sich jetzt auch neugierig hinzu und reckte die Hälse.

»Ich bin doch in höchster Not,« rief Hänschen, von ihrem guten Recht durchdrungen. »Wenn ich in die olle Pension kommen soll, und der Zug hat nicht einmal ein Eisenbahnunglück und fährt immer weiter – immer weiter – – –«

Lautes Gelächter des Publikums unterbrach Hänschens Verteidigungsrede.

Weder der Schaffner noch der Regierungsrat zeigten Verständnis für Hänschens Not so wenig, wie für die Komik der Situation.

»Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen,« sagte der Schaffner. »Dafür können Se ordentlich berappen.« Und er notierte den Namen des Regierungsrates, Wohnort nebst Straße und Hausnummer. Darauf verließ er gewichtigen Schrittes den Ort des Frevels.

Der Zug fuhr weiter. Es war leider nichts an der Maschine entzweigegangen. Die Zuschauer beruhigten sich und suchten wieder ihre Abteile auf. Dem Regierungsrat war die Lust zum Lesen vergangen.

»Ich bitte mir jetzt aus, Hanna, daß du deinen Platz nicht mehr verläßt,« sagte er nachdrücklich und behielt die kleine Missetäterin im Auge wie ein Tierbändiger.

Hänschen saß jetzt zahm da und beschäftigte sich damit, über die unzulängliche Konstruktion einer Eisenbahn nachzudenken. Eine Notbremse, die den Zug nur für Minuten zum Halten brachte, konnte ihr gar nicht imponieren. Dann begann sie in dem neuen Tagebuch mit dem buntblumigen Deckel, das Mutti ihr zum Abschied geschenkt, damit sie ihre Pensionserlebnisse hineinschreiben sollte, einige Bleistiftskizzen zu entwerfen. Der empörte Schaffner, Vaters ergrimmte Miene, der dicke Herr am Fenster, der mit vorgeschobener Unterlippe schlief, das magere Fräulein, das unentwegt futterte, sie alle weihten Hänschens Tagebuch ein. So kam man schließlich ohne weiteren Zwischenfall, ja, nicht einmal mit Verspätung nach Hirschberg. Hier mußte der D-Zug mit der Gebirgsbahn vertauscht werden.

Vater nahm Hänschen fest an die Hand.

»Ich bin doch kein Baby,« wehrte sich diese, in ihrer Backfischehre gekränkt.

»Für weitere Überraschungen danke ich, Hanna, und wenn du dich wie ein ungezogenes Kind benimmst, wirst du auch wie ein solches behandelt.«

Hänschen schielte seitwärts zum Vater. Er sah immer noch böse aus. So lange pflegte sonst seine Strenge nicht vorzuhalten.

»Nicht mal Pitt wird an die Leine genommen,« knurrte sie, während sie sich mitziehen ließ.

Am Büfett blieb der Vater stehen. Er trank ein Glas Bier. Hänschen warf zärtliche Blicke auf die verlockenden Würstchen.

»Möchtest du ein paar Würstchen, Hanna?« fragte der Vater, der ihren Blicken gefolgt war.

»Ach nee – danke, das habe ich nicht verdient. Du mußt ja schon das viele Geld wegen der Notbremse für mich bezahlen.« In ehrlicher Selbsterkenntnis schüttelte Hänschen den Kopf. Und als sie dann doch in das saftige Würstchen biß, beteuerte sie voller Dankbarkeit: »Ich werde auch gewiß keine Notbremse mehr ziehen, Vater.«

»Das will ich mir auch ausgebeten haben, du Strolch.« Der Regierungsrat mußte sich auf die Lippen beißen, um sein Lächeln zu verbergen. Die Freundschaft zwischen Vater und Tochter war wiederhergestellt.

Hänschens Dankbarkeit ging so weit, daß sie, als man jetzt in der Bahn nach Krummhübel hinauf fuhr, die Augen krampfhaft vom Fenster wegwandte. Denn eigentlich hatte sie sich vorgenommen, die Strecke, welche der Zug jetzt durchlief, ganz genau ihrem Gedächtnis einzuprägen. Man konnte ja nicht wissen, ob man dieselbe nicht noch mal zu Fuß zurücklegen mußte. Wenn es ihr im »Hühnerstall« nicht gefiel – und das war sicher der Fall – dann ging sie einfach wieder los. Aber nein, angesichts von Vaters Güte, die ihr trotz der Notbremse die Würstchen gespendet hatte, waren solche Gedanken geradezu Verrat.

Hänschen kniff die Augen zu, um nur ja nicht in Versuchung zu kommen hinauszuspähen.

Der Regierungsrat, der glaubte, daß sein Töchterchen schliefe, betrachtete es nachdenklich. Es wurde ihm gar nicht so leicht, wie er sich den Anschein gab, seine wilde Hummel, die das Haus mit Radau und Unruhe, aber auch mit Frohsinn erfüllt hatte, fortzugeben. Nun, hoffentlich erhielt er einen günstigen Eindruck von dem Brückenberger Pensionat, daß er sie ohne Bedenken dort zurücklassen und seiner Frau, die gewiß die Stunden bis zu seiner Rückkehr zählte, Gutes melden konnte.

Inzwischen hatte Hänschen wieder die Augen aufgeschlagen. Nanu – träumte sie im Wachen?

»Vati – es schneit!« Lebhaft sprang sie an das Fenster, vor dem lustiges Flockengewirbel vorbeitanzte. »Ja, reisen wir denn an den Nordpol? Schlesien liegt doch südöstlich von Potsdam.«

»Sieh mal an, soviel hast du also doch in der Geographiestunde gelernt, Hanna? Hätte ich dir gar nicht zugetraut,« neckte der Vater. »Der erste April zeigt uns heute wirklich sein Doppelgesicht.«

»Heute morgen habe ich die ersten Veilchen im Gartenwinkel gefunden. Und nächsten Sonntag sollen schon Sonderzüge nach Werder zur Baumblüte gehen. Und wir fahren hier durch tiefen Winter. Ach, du mein Schreck, ich habe ja meinen neuen Sommerhut auf!« Hänschen schwieg in ihrem lebhaften Geplauder ein wenig betreten.

Hatte Mutter nicht gleich gesagt, sie sollte die Mütze unterwegs aufsetzen? Der neublaue Strohhut mit dem Frühlingskränzchen sei nichts für die Reise.

Inzwischen hatte der Zug die Höhe erreicht.

»Krummhübel, alles aussteigen!« rief der Beamte, denn hier war die Endstation der Gebirgsbahn.

Nun mußte man zu Fuß oder Wagen weiter nach dem noch höher gelegenen Brückenberg.

Viel Passagiere waren nicht mit der Bahn heraufgekommen. Die Wintersportsaison war vorüber, und für Frühlingsausflügler war es noch zu zeitig im Jahr. Nur einige Einheimische, welche in Hirschberg oder einem der umliegenden Dörfer Sonntagsbesuche gemacht, verließen den Bahnhof.

Suchend sah sich Regierungsrat Wallenberg um. Wurden sie abgeholt?

Da trat ein alter Wann in blauer Strickjacke und einer ausgedienten Soldatenmütze auf sie zu. Ob er wohl der Herr aus Potsdam wäre? Dann wäre er der Liebig Franzl, der schon bei der seligen Frau Huhn, was halt die Muttel von unsern jetzigen Fräuleins ist, im Dienst gewesen sei. Und er habe den Schlitten genommen, als kleine Aufmunterung für das junge Fräulein, was ja wohl der neue Zögling wäre. So erzählte er treuherzig in breitem schlesischen Dialekt.

Hänschen nahm, erfreut über die Aufmunterung, in dem Schlitten neben dem Vater Platz. Der alte Liebig Franzl legte ihnen vorsorglich eine warme Decke über die Knie, denn »das kennt man heit ganz gutt vertrogen.« Hänschen knotete die vier Ecken ihres Taschentuches ein und zog die daraus entstandene Mütze über die schwarzen Locken, während sie das Frühjahrshütchen unter der Decke vor dem Schnee bewahrte.

Klinglingling – es ging los. Eine lustige Fahrt im tollsten Schneetreiben. Hänschen fand es wundervoll, so durch die Krummhübler Dorfstraße, wo die Bewohner an die Fenster liefen, wer denn da wohl seinen Einzug halte, dahinzufliegen. Ab und zu rief auch einer dem Liebig Franzl »A scheenen gutten Tag ooch, Vatter Liebig« zu. Hundegebell klang hinter ihnen mit den Schlittenglocken im Duett. Hänschen wandte den Kopf. Schwarz kam es durch den weißen Schnee hinter ihnen hergejagt.

»Das ist halt das Mullerchen, a su a lieb's Hundl,« stellte der Liebig Franzl vor, mit der Peitsche auf den bellenden und galoppierenden schwarzen Punkt weisend.

Hänschen betrachtete Mullerchen wehmütig. Wenigstens doch ein kleiner Ersatz für ihren »Pittewittewitt« daheim.

»Hanna, schau nach vorn, nicht zurück, es lohnt sich,« rief der Vater ihr zu.

»Ach, wie schön!« Das Riesengebirge in seinem schlohweißen Hermelinpelz ward für einen Augenblick sonnenbeleuchtet sichtbar, um gleich wieder hinter dem dichter werdenden Flockenvorhang zu verschwinden.

»Nicht wahr, Hanna, hier läßt es sich ganz gut leben?« sagte der Vater, froh, daß es ihr so gut gefiel.

Aber Hänschen schüttelte stumm den Kopf.

»Ist's noch weit?« erkundigte sich der Regierungsrat, denn es wurde empfindlich kalt.

»Nu, 's hat noch a bissel.« Aber als der Weg jetzt zur Höhe emporkletterte, stieg der Franzl von seinem Kutschersitz. »Nu sein mer bald daheeme in Brückenberg.«

Es ging stark aufwärts; die Gäule schnauften und dampften. Auch Regierungsrat Wallenberg stieg aus, um den Pferden ihre schwere Arbeit zu erleichtern, und ging zu Fuß neben dem bimmelnden Gefährt her.

»Das Fräuleinchen kann halt sitzenbleiben, für die ist das nischte nich, a su im Schnää zu troben; dafier sind das keene Schuh nich,« meinte der alte Mann sorglich.

Hänschen zog ihren Fuß, den sie bereits aus der schützenden Hülle auf das Trittbrett gesetzt hatte, schnell wieder zurück. Mutter hatte gewünscht, daß sie ihre derben Stiefel mit Doppelsohlen unterwegs anziehen sollte und den Wintermantel. Aber das Fräulein Tochter hatte bei dem schönen Frühlingswetter darauf bestanden, die Sonntagsschuhchen mit den Lackspitzen und das helle Frühjahrskostüm auf der Reise anzulegen. Nun fühlte sie den eisigen Bergwind empfindlich durch das nasse, dünne Kostüm dringen. Sie bibberte vor Kälte.

Da hielt der Schlitten.


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