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Zwölftes Kapitel
In Angst und Sorge

In Pension Waldheim war man eifrig bei den Vorbereitungen zum Osterfest. Die großen Zöglinge standen, mit Ärmelschürzen ausgerüstet, im Souterrain in der Küche um Fräulein Trudel herum, die als Küchengeneral den Oberbefehl führte. Hier wurden Mandeln enthäutet, dort durch die Maschine gedreht. Butter wurde schaumig gerührt, Mehl geknetet, Eiweiß zu steifem Schnee geschlagen. Da wurde gequirlt und gerieben, Schüsseln ausgeleckt, Teig durchgewalkt, Herzen und Sterne geformt, einander mit Mehl bestäubt, gescherzt und gelacht. Am Backofen stand Mutter Liebig, glühend rot wie das Backfeuer, als Wachtmeister und drillte ihre Rekruten ein. Wie die Soldaten nebeneinander aufmarschiert standen die braunirdenen Napfkuchenformen, die gefetteten Bleche und die Tortenplatten. Es war ein rühriges Treiben, ein systematisches Durcheinanderkribbeln und -krabbeln wie in einem Ameisenstaat.

»Elli, du rührst ja die Sandtorte, als ob einer einen Trauermarsch dazu bläst – munter – munter – – – nicht so ungestüm den Schnee schlagen, Margot, laß halt den Topf ganz – Gustel, zum Lecken bist du nicht hier – Kinder, wenn ihr die Rosinen roh aufnascht, haben wir keine im Kuchen. Gleich, Mutter Liebig, gleich sind wieder zwei Bleche zum Schieben. Mieke, wo ist dir denn deine Petersilie verhagelt, du machst ja ein Gesichtel wie drei Tage Regenwetter. Da kannst du noch soviel Zucker auf den Kuchen streuen, er wird doch nicht süß, wenn du dabei so essigtöpfisch dreinschaust.« Fräulein Trudel schien heute zehn Augen und doppelt soviel Hände zu haben. An fünf verschiedenen Orten war sie zu gleicher Zeit.

Ja, was hatte die Mieke Jeserich nur heute, die sonst immer gleichmäßig heiter und freundlich war? Gewiß ging es ihr nahe, daß die Hanna Wallenberg ihr vor allen die Freundschaft gekündigt hatte. Aber so zu haben brauchte sie sich deshalb auch nicht. Es gab ja noch genug nette Mädels hier in Waldheim. So dachten die Pensionsschwestern.

Der Zwist mit der Freundin war es nicht allein, was Mieke verstimmte. Es tat ihrem guten Herzen gar zu weh, daß Hanna ausgestoßen war von diesem fröhlichen Treiben vor dem Feste, worauf man sich schon wochenlang in Waldheim gefreut, daß die Ärmste einsam da oben hocken mußte. Wie gern wäre Mieke mal einen Augenblick hinaufgesprungen und hätte sie getröstet. Aber sie fürchtete eine schroffe Abweisung. Das war es, weshalb die Mieke nicht fröhlich mit den Fröhlichen sein konnte. Sie überlegte und grübelte, während sie den Blechkuchen mit Mandeln und Zucker bestreute, was sie tun sollte, ohne ihrem Stolz allzuviel zu vergeben. Halt, heute abend nach dem Schlafengehen – Kätchen schlief gleich wie ein Murmeltier, und auch Elli pflegte alsbald zu schnarchen – ja, da wollte sie leise aufstehen und sich mit der erzürnten Freundin wieder versöhnen. Wenn sie ihr dann einen Kuß gab, dann war sicher alles wieder gut. In dieser Hoffnung erhellte sich Miekes liebes Gesicht wieder.

Von der langen Tafel im Speisezimmer hatte man die Tischtücher abgenommen. Auf der Wachstuchdecke waren Farbentöpfchen, Pinsel, bunte Abziehbilder, Oblaten, lustige Verse ausgebreitet. Dazwischen Körbe von Eiern. Die Hühner Fräulein Huhns machten ihrem Namen alle Ehre. Sie waren ganz besonders fleißig und legetüchtig.

Die jüngeren Zöglinge scharten sich hier um Fräulein Gretl, welche ihnen Anweisung zu besonders hübschem, originellem Ostereierschmuck gab. Da wurden blaue, hier rote, dort zitronengelbe Eier fabriziert. Durch Auflegen von Papiersternen, Blumen und Figuren, die von der Farbe frei gelassen wurden, brachte man sogar Muster hinein. Selbst gedichtete, auf die kleinen Schwächen der betreffenden bezügliche Verse wurden daraufgeklebt oder gemalt. Das war ein heimliches Tuscheln und Kichern, daß Fräulein Huhn, die im Nebenzimmer Abrechnungen zu machen hatte, mehrmals den weißen Kopf zur Tür hereinsteckte und lächelnd drohte: »Kinder, treibt ihr's mir auch nicht zu bunt?«

Worauf sie jedesmal mit lebhaftem Protest: »Nicht gucken, – Fräulein Huhn, Sie dürfen heute noch nichts sehen!« wieder herauskomplimentiert wurde. Denn jedes der Mädel hatte irgendeine kleine Überraschung für die verehrte Pensionsmutter in Vorbereitung.

Fräulein Gretl war aller Vertraute. Sie war selbst so kindlich heiter mit den Backfischchen, daß keines vor ihr ein Blatt vor den Mund nahm.

»Fräulein Gretl, sehen Sie mal, das soll die Gustel kriegen, ein Pfau ist drauf, weil sie so eitel ist.« – »Die beiden Täubchen, die sich schnäbeln, muß die Mieke bekommen – au ja – aus Ulk, weil sie mit der Hanna verkracht ist.« – »Nein, lieber das kaputtige Ei – – –«

»Es heißt das entzwei gegangene Ei, Ruth,« verbesserte Fräulein Gretl lachend.

»Ja, das zerknickte Ei must die Hanna Wallenberg haben als Symbol ihrer Freundschaft – – –«

»Nee – ei, so härt toch mal! Hänschen Dunichtkud griekt hier den Biebmatz im Wokelpauer. Tas peteidet eich Hänschen im Gäwich.«

Allgemeines Lachen, jubelnde Zustimmung belohnte Kätchen Kugelmann für diesen Witz. Nur Fräulein Gretl fragte: »Wie hast du die Hanna Wallenberg soeben genannt, Kätchen?«

Die Mädel schwiegen verlegen und wurden rot. Denn sie waren alle bereits von Kätchen eingeweiht. Aber Kätchen gab sich einen Ruck: »Ach, Hänschen Dunichtkud hieß se auch in Bodstam, weil se lauder Tummheiten kemacht hat. Die Gusine von der Miege hat's keschriepen.«

»Aber wohl kaum, Kätchen, daß du es allgemein ausposaunst,« verwies sie Fräulein Gretl ernst. »Wie wär's denn, wenn wir dem Kätchen ein Ei mit der geschwätzigen Elster hier schmücken würden? Siehst du, das wär dir nicht recht, gelt?«

Jetzt war es Kätchen, die von den ausgelassenen jungen Dingern weidlich ausgelacht wurde. Denn sie war als Plaudertäschchen bekannt.

»Ja, ja, wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen. Im übrigen könnt ihr euch das sparen, für Hanna Ostereier vorzubereiten. Sie darf morgen am Eiersuchen nicht teilnehmen. Sie bleibt oben in ihrem Zimmer.« Fräulein Gretls Worte ließen auf einen Schlag die laute Heiterkeit verstummen. Allgemein bestürzte Gesichter.

Was – so was Schlimmes hatte die Hanna ausgefressen, daß Fräulein Huhn, deren gütiges Herz bekannt war, sie sogar von den Osterfreuden ausschloß? Nur Gustel hatte einen Blick in das Blatt, das Fräulein Huhn sogleich an sich genommen hatte, geworfen. Ein Hahn sei drauf gewesen, der Monsieur Lecoq vorstellen sollte. Aber daß die sonst so milde Vorsteherin deshalb eine so strenge Strafe verhängte, fand man unverständlich. Ob man sich hinter die kleine Clemence, die begeistert von einem zum andern lief und jeden störte und die das Ostereiersuchen gar nicht erwarten konnte, steckte? Daß sie ihren Vater bat, doch selbst ein gutes Wort für Hanna Wallenberg bei der Vorsteherin einzulegen? Ja, das wollte man tun. Denn die lustige Hanna erfreute sich trotz der Kürze der Zeit schon allgemeiner Sympathie.

Die Gedanken der Vorsteherin im Nebenzimmer wanderten zwischen Butter-, Fleisch- und Konservenberechnungen die gleichen Wege wie die ihrer Zöglinge. Zu dem Zimmer im oberen Stockwerk, wo eine ausgeschlossen war von der fröhlichen Gemeinschaft. Wie gut hätte die Hanna Wallenberg ihr Zeichentalent, das man ihr unbedingt zusprechen mußte, jetzt beim Ostereiermalen benutzen können. – Zehn Pfund Butter, zwanzig Pfund Rindfleisch, zwölf Büchsen – – – war sie nicht doch am Ende zu streng gewesen mit dem neuen Zögling? Diese Frage kam immer wieder. In alle Rechnereien hinein drängte sie sich. Ehrlich und aufrichtig, wie sie es von den Kindern verlangte, pflegte Fräulein Huhn auch sich selbst über ihr Tun Rechenschaft abzulegen. Nein – nein – jeder andern hätte sie die übermütige Zeichnung mit einer gelinderen Strafe verziehen. Aber die Hanna Wallenberg mußte energisch angefaßt werden. Der Regierungsrat hatte sie ganz besonders darum gebeten. Und sie selbst hatte das frische Mädel in den wenigen Tagen schon so in ihr Herz geschlossen, um ebenfalls den Wunsch zu hegen, die Schlacken, die vorläufig noch das Edelmetall umhüllten, mit geschickter Hand zu lösen. Denn Edelmetall war Hanna Wallenberg bei all ihren übermütigen Streichen. Das hatte Fräulein Huhn sogleich erkannt. Nein, sie mußte fest bleiben. Das verzogene Dingelchen mußte einsehen lernen, daß nicht alles nach ihrem Kopfe ging, daß ein junger Mensch Achtung und Ehrfurcht vor seinen Lehrern wie überhaupt vor älteren Leuten haben muß. Sie dankte es der Pensionsmutter sicher einmal, wenn sie es ihr beibrachte, erst zu überlegen und dann zu handeln, erst nachzudenken, ob ihre Handlungsweise auch keinen kränken könnte. Das Leben war ein noch strengerer Lehrmeister, das schonte sie später noch viel weniger.

Noch zwei in Waldheim beschäftigten sich angelegentlich mit Hänschen Tunichtgut: Mullerchen und Putzerle. Die beiden, die sonst wie Hund und Katze miteinander zu leben pflegten, saßen heute einträchtig beieinander unter der Treppe. Das war der einzige Ort, wo sie nicht getreten wurden. Am Küchenherd, Putzerles sonstigem Reich, gab es heute zu viele gefährliche Mädchenfüße, und Mutter Liebig hatte keine Zeit, ihren Liebling zu schützen. Mullerchen dagegen hatte bereits einen grünen und einen roten Farbenklecks von Eierpinseln abbekommen. Er sah einem Stieglitz ähnlicher als einem wohlanständigen schlesischen Hunde, Putzerle schnurrte – Mullerchen knurrte. So tauschten sie ihre Meinung darüber aus, wo denn eigentlich das lustige junge Fräulein mit der kurzen Jungstolle stecke, die Putzerle stets nach einem Wollknäuel springen ließ und Mullerchen bei den Vorderpfoten packte, mit ihm im Kreise herumwirbelte und dazu ein Lied von irgendeinem Herrn Pittewitt sang. Warum fehlte sie unter der lustigen Gesellschaft, sie, die lustigste von allen?

Die Vespermahlzeit war heute recht abgekürzt in Waldheim. Keiner hatte Zeit dazu. Meta, das Zimmermädchen, hatte den Auftrag, Hanna Wallenberg den Kaffee und die gestrichenen Schnitten auf ihr Zimmer zu bringen. Das Mädchen hatte heute, am Vorabend vor dem Feste, noch so viel zu scheuern, daß sie nicht einmal Zeit hatte, sich zu wundern, daß sie das Nest oben leer fand und den Vogel ausgeflogen. Sie stellte ihr Teebrett auf den Tisch und dachte: Sie wird schon kommen und ihren Kaffee trinken.

So kam es, daß Hänschens Fortlaufen in dem geschäftigen Treiben der Festvorbereitungen im Waldheim unbemerkt blieb. Erst als Elli, Kätchen und Mieke vor dem Abendessen nach oben gingen, um das Haar überzubürsten und die Hände zu seifen, hielten sie verwundert Umschau.

»Nu aper – wo ist tenn unser Hänschen Dunichtkud hinkegommen?« Kätchen gab ihrer Verwunderung zuerst Ausdruck.

»Du sollst das doch nicht sagen!« fuhr sie Mieke so heftig an, wie das sonst gar nicht ihre Art war.

»Nu aper – tu hast es doch selber erst aufkepracht,« verteidigte sich Kätchen.

Das war es ja gerade. Die Mieke hatte ein gar zu schlechtes Gewissen, daß sie selbst den Spottnamen verbreitet hatte.

»Sie wird sich vers-teckt haben, die Hanna macht immer solche S-treiche,« meinte die Bremer Elli mit Gemütsruhe.

»Nu aper – ihr Gawee sieht toch noch kanz unperiehrt da.« Kätchen schüttelte den Kopf.

»Ja, was soll denn das heißen?« Mieke fühlte plötzlich eine ganz unerklärliche Unruhe.

»Sie fird auskegniwen sein, das sähe Hänschen Dunichtkud ähnlich.«

Mieke hatte plötzlich die Empfindung, als ob ihr jemand die Kehle zuschnüre. Sie dachte nicht daran, Kätchen die Bezeichnung Hänschen Tunichtgut noch einmal zu verweisen. »Hanna – Hanna – wo bist du?« Kaum konnte sie diese Worte herausbringen.

»Aber so reg' dich doch nicht auf, Mieke, die Hanne hat sich ganz sicher vers-teckt.« Elli behielt ihre Ruhe.

Mieke schaute bereits in den Schrank, unter die Betten, in die Ecke, wo die Kleiderriegel hingen, – nirgends eine Spur von der Zimmergenossin.

»Das Haus ist groß, sie kann sich überall vers-teckt haben, der S-trolch.« Elli begann den Gang und die Galerie abzusuchen.

»Härt auf mich, sie ist wort. Hänschen Dunichtkud ist durchkeprannt.« Kätchen war ganz Sensation.

»Die Hanna ist feck, die Hanna ist vertuwdet,« rief sie ebenso erregt, wie stolz über ihre Neuigkeit den aus den Nebenzimmern Kommenden zu.

»Wa – as?« Die standen starr.

»Ach, macht doch nicht solch Aufhebens, wir wollen erst mal das ganze Haus durchsuchen.« Mieke flog am ganzen Körper.

Das geschah. Jedes Eckchen, jedes Winkelchen wurde durchstöbert. Alles umsonst.

»Ja, Kinder, was treibt denn ihr? Heute ist doch noch kein Ostereiersuchen,« rief Fräulein Trudel lachend, einen großen Blechkuchen in den Vorratsräumen unterbringend.

»Ach, Fräulein Trudel, es ist etwas Schreckliches passiert – – –«

»Die Hanna Fallenperg ist auskegniwen.« Kätchen überschrie die Sprecherin. Sie wollte die erste sein, welche die Hiobspost mitteilte.

»Was ist los?« Das Blech schwankte bedenklich in Fräulein Trudels Händen. »Das ist ein schlechter Scherz, Kätchen – – –«

»Es ist ja kein Scherz – es ist Wahrheit – die Hanna ist verschwunden – wir haben schon das ganze Haus durchsucht – sie ist nirgends zu finden!« Die Mädchen riefen es in höchster Aufregung, eine immer lauter als die andere. Mieke schluchzte herzbrechend.

Die Türen öffneten sich. Fräulein Gretl erschien mit mehreren Zöglingen, denen sie gerade einen Osterhasenreigen einstudierte.

»What is the matter?« Miß Pinshes fragte vergebens. Keiner hatte jetzt Zeit, Englisch zu sprechen.

Plötzlich trat Stille ein. Fräulein Huhn trat unter die Erregten. Ihre Gegenwart allein genügte schon, die aufgewirbelten Wogen zu glätten.

»Ruhe – vor allem Ruhe und Besonnenheit! Elli, du bist ein vernünftiges Mädchen, berichte du der Reihe nach – ihr andern seid still.« Fräulein Huhn brachte sogleich Ordnung in das Durcheinander.

Elli berichtete.

»Hat die Hanna ihren Kaffee getrunken?«

»Nein – es s-teht alles unberührt oben.«

»Meta – Meta soll gleich mal kommen.« Fräulein Huhn wurde die Sache jetzt auch ängstlich.

Meta war bereits zur Stelle. Das gesamte Küchenpersonal, einschließlich Putzerle, hatte sich eingefunden, um sich nichts von dem aufregenden Ereignis entgehen zu lassen.

»Wo war Hanna Wallenberg, als Sie ihr die Vespermahlzeit hinaufbrachten, Meta?« examinierte Fräulein Huhn.

»Ich – ich weeß halt von nischte nich.«

»War sie oben?«

»Nee – ich gloob – ich gloob, ich hob se ne gesähen. Se war halt gor ne do.«

»Ja, Meta, da wäre es doch Ihre Pflicht gewesen, sofort davon Meldung zu machen.«

Jetzt begann Meta zu weinen.

»Nu – ich hob halt gedenkt, se wird jo gleich wiederkummen, hob ich gemeent. Und weil ich halt noch so ville reene zu machen hatte, die Plättstube und 's Badezimmer und de Stiegen halt alle – – –«

»Es ist gut, Meta, es ist schon gut,« unterbrach Fräulein Huhn ungeduldiger als sonst die langatmige Auseinandersetzung. »Springen Sie geschwind zum Liebig-Häusel nüber, ob sie dort ist. Am Ende hockt sie drüben mit Ihrer Enkelin, der Martel, zusammen, Mutter Liebig. Und Vater Liebig möchte gleich zu mir kommen.« Trotzdem die Erregung und die Verantwortung der Vorsteherin das Herz zusammenschnürte, blieb sie äußerlich ruhig.

Im Liebig-Häusel! Ja, im Liebig-Häusel war die Hanna gewiß! Sicher hatte sie die Liebig Martel, die tagsüber in einer Spinnerei in der Umgegend tätig war, besucht. Die sechzehnjährige Enkelin der alten Liebigs war mit allen Zöglingen des Waldheims gut Freund. Ein Stein fiel den Pensionsschwestern vom Herzen. Nur Kätchen Kugelmann wollte sich das sensationelle Ereignis durchaus nicht entgehen lassen. Die blieb dabei: »Ihr wärt's ja sähen, die Hanna Fallenperk ist ausgerickt, sie ist ieber alle Perke.«

Inzwischen hatte Mutter Liebig Fräulein Huhn mitgeteilt, daß die Hanna sie mittags um Brot gebeten habe, und daß das ganze Brot mit ihr verschwunden sei.

Immer rätselhafter wurde die Sache.

»Mieke, höre auf zu weinen, damit schaffst du die Hanna auch nicht wieder zur Stelle,« beruhigte Fräulein Gretl die schluchzende Freundin.

»Ich bin schuld – ich ganz allein – ich habe mich dazu hinreißen lassen, ihren Spottnamen zu veröffentlichen – ich habe sie in den Tod getrieben!« Eine Tränenüberschwemmung folgte.

Auch die andern zogen ihre Taschentücher.

»Kinder, zu diesen Trauerbezeugungen habt ihr Zeit, wenn es soweit ist, was aber hoffentlich nicht der Fall sein wird! Sie ist sicher drüben bei der Liebig Martel – da kommt ja Vater Liebig. Nun, Vater Liebig, habt Ihr die Hanna Wallenberg nicht gesehen?«

Aller Augen hingen gespannt an dem Alten.

»Nu nä – nu nä, Fräuln Klärchen. Bei uns is se halt ne gewäst. Ich war den ganzen Nachmittag im Häusel drieben am Fenster und meine Mattel äbenfalls. Wir hoben keenen ne gesähen. Wenn und de Wallenberg Hanna is fottgemacht, denn mecht man sprechen, sie kennt halt nur durch den Wald marschiert sein.«

»Ja, um Himmels willen, wo soll sie denn aber nur hingegangen sein bei diesem fürchterlichen Unwetter?« Fräulein Trudel, die nicht die Ruhe ihrer Schwester besaß, rang die Hände.

»Nu, in ten Dot!« Kätchen verkündete es mit Grabesstimme.

»Red' keinen Unsinn, Käte!« Fräulein Huhn mußte doch sehr aufgeregt sein, daß sie eine Schülerin so anfuhr. »Wenn man in den Tod geht, nimmt man sich nicht ein ganzes Brot als Wegzehrung mit.«

Das Unglaubliche geschah. Die jungen Mädel, die eben noch weinten und Leichenbittermienen machten, brachen in lautes Lachen aus. So schmal ist die Grenze bei der Jugend zwischen Lachen und Weinen.

Nur Mieke schluchzte unentwegt weiter. »Bei dem entsetzlichen Wetter, da holt sie sich den Tod, auch wenn sie gar nicht die Absicht gehabt hat, sich ein Leids anzutun. Und ich – ich bin schuld.« Das arme Ding zerfloß in Reuetränen.

»Die Lomnitz soll von der Schneeschmelze so angeschwollen sein, daß drunten im Ort bereits alles überschwemmt ist. Wenn das Mädel in den reißenden Strudel geraten ist – – –« Fräulein Gretl schloß erschauernd die Augen.

»Ich feiß schon, fo sie hin ist.« Kätchen machte ein verschmitztes Gesicht. »Nach Bodstam ist se auskegratzt zu den Osterweiertaken, feil se hier Stupenarrest haben sollte. Meerschtendeels, fenn se Strawe pegommt, sagt se, se macht fieter nach Haus, nach Bodstam.«

Eine Zentnerlast löste sich von der Seele der Vorsteherin. Sicher, dieser Heißsporn war heimgefahren, Hals über Kopf, weil er Strafe erhalten hatte. Gott sei Dank, das war unter diesen Umständen noch immer die befriedigendste Lösung. Wenn es auch den Eltern des Zöglings gegenüber ungemein peinlich war. Das mitgenommene Brot sprach ebenfalls dafür, daß Hanna ihr Vorhaben, bei der erstbesten Gelegenheit wieder heimzufahren, wirklich in die Tat umgesetzt hatte.

»Vater Liebig, es tut mir leid, Sie bei diesem entsetzlichen Wetter fortschicken zu müssen. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen drunten in Krummhübel am Bahnhof nachforschen, ob ein junges Mädchen heute nachmittag mit dem Zuge nach Hirschberg heruntergefahren ist und wie weit sie die Fahrkarte gelöst hat. Vielleicht hat sie den Zug gar nicht mehr erreicht und sitzt noch unten im Wartesaal.« Das war wieder ein Hoffnungsstrahl.

»Nu, jo, jo, nä, nä – ich gäh schon, Fräuln Klärchen, ich gäh' balde. Ich gäh halt den Waldweg, da kommt man äher durch und hat noch a bissel a Schutz vor a Sturm! Jo – jo – ich wärd' die Wallenberg Hannele schon wieder härschaffen.« Der Alte ging, um seine Laterne zu entzünden.

»Moi, j'accompagnerai, Monsieur Liebig.« Monsieur Lecoq hatte bereits seinen Wettermantel umgehängt.

»Oh, vous êtes très aimable, Monsieur.« Fräulein Huhn sowohl wie die jungen Pensionärinnen hatten die Empfindung, daß Hanna Wallenberg das nicht um Monsieur verdient hatte.

Clemence, von der allgemeinen Aufregung angesteckt, hängte sich weinend an den Arm des Vaters.

»Non pas aller!« bat sie.

»Sprich deutsch, Clemence.« Fräulein Huhn gewann es über sich, selbst in diesem Augenblick die kleine Französin, welche die deutsche Sprache erlernen sollte, zu erinnern.

»Oh, nicht gehen in das Nacht bei die Regen.« Alles Betteln half der Kleinen nicht. Nachdem Mutter Liebig auch Monsieur mit einer Laterne versehen hatte und ihrem Alten noch vorsorglich einen selbstgestrickten Wollschal um die Ohren gebunden hatte, zogen die beiden Männer in das Unwetter hinaus. Mullerchen gab ihnen das Geleit bis zum Liebig-Häusel. Er schnüffelte in die Sturmnacht hinaus. Dann machte er kurzentschlossen kehrt. Nein – selbst für einen Hund war das Hundewetter zu hundsgemein!

»Gott gebe, daß sie uns das Kind wohlbehalten heimbringen!« Für einen Augenblick verließ Fräulein Huhn doch die gewaltsame Fassung. Sie lehnte den weißhaarigen Kopf an die Schulter der Schwester, und Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Ruhig, Klärchen, ruhig, der da droben wird schon helfen!« Jetzt war es Fräulein Trudel, die Mut zusprach.

Tiefbewegt blickten die Zöglinge auf ihre Pensionsmutter. Das konnte Hanna Wallenberg nie wieder gutmachen, daß Fräulein Huhn, ihr vergöttertes Fräulein Huhn, um ihretwillen Tränen vergoß.

»So, Kinder, nun kommt, jetzt wird Abendbrot gegessen, Mutter Liebig wird sonst ungeduldig.« Da hatte Fräulein Huhn die Schwächeanwandlung mit aller Energie überwunden.

Man setzte sich zu Tisch. Man würgte das Essen hinein. Mieke versalzte es mit ihren Tränen. Man unterhielt sich gedämpft über alle Möglichkeiten, die Hanna zugestoßen sein konnten. Besonders Kätchen Kugelmann zeigte eine lebhafte Phantasie im Ausmalen von Unglücksfällen. Im Nebenzimmer standen die schön bepinselten Ostereier, all die lustigen Verse und Überraschungen. Drunten im Vorratsraum wohlgeraten Kuchen neben Kuchen, goldbraune Torten. War das wirklich erst wenige Stunden her, daß man sich fröhlichen Herzens bei den Vorbereitungen zum Osterfest getummelt hatte? Müde und zerschlagen saßen die Mädchen beieinander, lauschten auf das Heulen des Sturmes, auf das Pladdern des Regens gegen das Fensterglas und rückten näher zusammen. Wenn die Hanna bei diesem entsetzlichen Wolkenbruch noch in dunkler Nacht umherirrte! Dann lief wieder eins zum Fenster – zur Tür – ob denn noch immer keine Laterne in der undurchdringlichen Finsternis aufleuchten wollte. Keins war ins Bett zu kriegen. Selbst die kleine Clemence hatte den Kopf gegen Fräulein Trudels Schulter gelehnt und sich in den Schlaf geweint.

So saßen sie, immer einsilbiger, immer hoffnungsloser, bis schließlich Schritte durch den Garten hallten. Laternenschein aufzitterte.

Sie kamen zurück. Allein.

»Rien« – aus Monsieurs Haar und Bart floß es wie aus einer Dachrinne.

»Nu nä, nu nä, 's Mädel wird schon wiederkummen.« Auch der alte Liebig glich mehr einem Meergott als einem menschlichen Wesen.

Am Bahnhof hatte kein junges Mädchen heute nachmittag eine Fahrkarte gelöst. Bei dem schlechten Wetter und der Überschwemmung war der Personenverkehr so gering gewesen, daß der Beamte es genau feststellen konnte.

Mutter Liebig brachte heißen Glühwein für die Durchweichten. Fräulein Huhn scheuchte ihre müden Küchlein ins Nest.

»Wir wollen den da oben bitten, daß er Hanna in seinen Schutz nehmen möge. Mehr können wir heute nicht tun. Morgen freilich müssen wir, wenn auch unsere weiteren Nachforschungen erfolglos bleiben, die Eltern benachrichtigen.« Fräulein Huhn schlug die Hände vor das Gesicht. Die entsetzliche Verantwortung erdrückte die Ärmste fast.

Eine lange, bange Nacht zog über das Waldheim auf. Weder die Pensionsvorsteherin noch ihre Zöglinge taten in dieser Nacht ein Auge zu. Bis das Morgenlicht hoffnungweckend durch die Vorhänge blinzelte, bis die Osterglocken verheißungsvoll ins Land hinausklangen.


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