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Vierzehntes Kapitel
Backfischgeburtstag

Rosen blühten. Pension Waldheim stand über und über im Rosenschmuck. An den meisten Hauswänden kletterten sie empor, die tiefroten Blüten. »Cimson rambler« nannte Miß Pinsches sie. Jedes Gitter, jede Galerie, all die lustigen Erker und Balkons umrankten sie in üppiger Purpurfülle. Bis hinauf zu dem Türmchen verstiegen sie sich unternehmungslustig. Auch das weiße Gartenstaket, das Waldheim von der Welt draußen abschloß, war in eine Rosenhecke verwandelt. Über der Eingangstür bildeten sie einen rosenroten Rundbogen. Der Gartensteg war von blühenden Zentifolien besäumt, die jeden Morgen einen rosa Samtteppich über den Weg breiteten. Das waren aber nur die wilden Rosen. Nun erst all die Edelrosen, die in ganz besonders herrlichen Exemplaren im Waldheim gezogen wurden. Jede der Pensionärinnen hatte ihr eigenes Rosenbäumchen, für das sie Sorge zu tragen hatte. Wie im Winter bei der Hyazinthenzucht entbrannte ein Wetteifer unter ihnen, wer die schönsten Rosen Fräulein Huhn auf ihren Schreibtisch setzen konnte.

Man schritt auf Rosenblättern. Rosenduft zog durch die geöffneten Fenster ins Haus und versuchte sogar Mutter Liebigs Kuchendunst den Rang streitig zu machen.

Auf dem Rasenrondell war eine lange Tafel gedeckt. Rosensträuße wechselten darauf mit Kuchenschüsseln ab. An dreißig junge Mädchen, taufrischer als die Rosenknospen am Strauch, hatten sich bei der Geburtstagsschokolade darum versammelt. Das war ein Summen wie in einem Bienenstock.

Die Sommergäste, die jetzt in den Ferien Brückenberg bevölkerten, blieben auf ihrem Spaziergang nach der Annakapelle an der Rosenhecke stehen und versuchten neugierig einen Blick hindurchzuwerfen.

»Da wird wohl Geburtstag gefeiert – na, vergnügt scheint es ja unter dem jungen Volk herzugehen.« Das war fast immer das Ergebnis, ehe man sich zum Weitergehen entschloß.

Die Kinder, besonders die Backfische, waren nicht fortzubekommen von der Rosenhecke. Neidisch blickten sie auf die Glücklichen, welche in dem lustigen Rosenreich daheim sein durften. Viel lieber, als mit den Eltern nach der Annakapelle oder Heinzelmannshöhe zu wandern, hätten sie da drinnen mit der fidelen Gesellschaft Dritten abschlagen, Reifen werfen, Krocket oder Tennis gespielt. Und heute besonders wurden die jungen Zaungäste nicht müde, durch das Rosengerank zu spähen.

Wer von all den Mädels mochte wohl das Geburtstagskind sein? Es war nicht schwer, das zu erraten. Sicher die Schlanke, Schwarzlockige, mit dem tiefroten Rosenkranz im Haar. Sie hatte den Ehrenplatz neben der weißhaarigen Dame – man erkannte diese sofort als die Pensionsvorsteherin heraus – und ihre schwarzen Augen blitzten vor Übermut und Lebenslust.

»Hänschen soll leben – hoch – hoch – hoch – – !« schrien sie an der Geburtstagstafel und stießen mit den Schokoladentassen an.

»Hoch soll sie leben – hoch soll sie leben – dreimal hoch!« erschallte es plötzlich hinter der Rosenhecke von den Zaungästen im Chor. Wer es zuerst begonnen, wußte man nicht. Aber alle, groß und klein, stimmten lustig in das Hoch mit ein.

»Nanu?« Für einen Augenblick wurde es ruhig da drinnen im Bienenstock. Und dann brach ein nicht endenwollendes Gelächter aus. »Tu, Hänschen, tie Sommerkäste von Prückenberk prinken tir ein Ständchen –« »du mußt sie mit Schokolade und Kuchen bewirten,« – »hole dir nur die Geburtstagsgeschenke von ihnen ab,« so gingen die Scherzworte hin und her.

Das Geburtstagskind war bereits aufgesprungen. Leichtfüßig wie eine Gazelle lief es über den Rosenteppich zur Rosenpforte. Wer hätte in dem blühenden, von Lebensfreude und Jugendfrische überschäumenden Ding das bleiche Mädchen wiedererkannt, das vor etwa sieben Wochen, mühselig sich stützend, hier hineingewankt war?

Die Rosenhecke war zu hoch, um drüber weg zu schauen. Eins, zwei, drei war Hänschen trotz des weißen Mullkleides in den unweit des Eingangs stehenden Birnbaum geklettert, um von dort aus Umschau auf die Straße zu halten.

»Ach, du mein Schreck – das ist ja ein Massenauflauf!« lachte es zur größten Verwunderung der Zaungäste plötzlich hoch oben aus dem Birnbaum.

»Ei, was wächst denn da auf dem Birnbaum? Eine wilde Rose? Ganz merkwürdige botanische Seltenheit,« schmunzelte ein alter Professor im Vorübergehen.

Ein junger, blonder Tourist, den Rucksack auf dem Rücken, Malgerät in der Hand, zog geschwind sein Skizzenbuch hervor und hielt mit kernigen Strichen das anmutige Bild fest, das sich ihm plötzlich darbot. Es war ihm nicht zu verdenken. Auch wenn man keine Künstleraugen hatte, konnte einen das wilde Zigeunerkind, mit dem Rosenkranz aus grüner Blattwildnis lugend, entzücken.

Der Kinderchor begann aufs neue zu schmettern: »Hoch soll sie leben – – –«

»Tut sie schon – höher, als bis in den Birnbaum geht's nicht. Wartet mal – ich lade euch alle zu meiner Geburtstagsschokolade ein.« Wie der Wind war Hänschen am Stamm herabgerutscht, unbekümmert darum, daß ein stattliches Dreieck das weiße Kleid zierte.

»Tante Klärchen – liebe Tante Klärchen, ich habe eine schrecklich grosse Bitte. Du darfst sie mir nicht abschlagen, weil heute mein Geburtstag ist.« Ganz atemlos war sie vom Laufen und von der Aufregung.

»Schelten werde ich erst mal, Hänschen, trotz des Geburtstages. Erstens, daß du dich so abläufst. Zweitens, daß du so unmädchenhaft in die Bäume kletterst als großes, heute fünfzehnjähriges Mädchen. Was sollen denn die Fremden von meiner Erziehung hier im Waldheim denken. Und drittens – – – «

»Shocking indeed,« ließ sich Miß Pinshes vernehmen.

»Fortsetzung folgt in der nächsten Nummer! Geliebte Tante Klärchen, kanzele mich erst morgen ab. Wenn du es heute tust, bekomme ich sicher das ganze Jahr hindurch Anschnauzer. Draußen sind lauter Kinder – wohl ein Dutzend – und Mutter Liebig hat noch eine große Kanne Schokolade unten – Kuchen ist auch noch da – dürfen die Kinder nicht hereinkommen und mit Geburtstag feiern? Sie haben so sehnsüchtige Augen. Nicht wahr, du erlaubst es?« Ohne die Erlaubnis erst abzuwarten, jagte Hänschen bereits in die Küche hinunter zu Mutter Liebig, die den Gartenschlüssel in Gewahrsam hatte.

»Mutter Liebig, es kommen noch Gäste, 'ne ganze Menge, anderthalb Dutzend werden's wohl sein. Bitte, bitte, fahren Sie noch 'ne ordentliche Ladung Kuchen und Schokolade an.«

»Nu jo, jo,« schmunzelte Mutter Liebig, »heite missen mer halt härgäben, was mer Guttes hoben tun. Wenn unser Herzel seinen Geburtstag feiern tutt« – – –

Hänschen, seit ihrer Krankheit, wo ein jeder um sie gebangt, der erklärte Liebling von Waldheim, war schon wieder davon. Sie hörte nicht mehr Tante Klärchen lächelnd mahnen: »Aber schleppe mir nicht etwa ganz Brückenberg an, Hänschen.« Nicht mehr, daß Kätchen sich abfällig äußerte: »Hänschen muß euch toch immer was kanz Pesonteres haben!«

Mit strahlendem Gesicht drehte das Geburtstagskind den Schlüssel im Schloß. Dort vor der Rosenhecke hatten sich inzwischen die sehnsüchtigen Augen in erwartungsvolle verwandelt.

»Kommt nur rein, alle miteinander,« rief sie ebenso glückstrahlend wie die, denen die Einladung galt. »Es ist noch mächtig viel Schokolade und Kuchen da. Ihr dürft meinen Geburtstag mitfeiern helfen.«

»Ich auch?« Der blonde Tourist mit der Staffelei fragte es lachend.

»Meinetwegen Sie auch.« Hänschen nickte gnädig.

»Und ich? Ich bin wohl nicht mehr jung genug als Kavalier zum Backfischgeburtstag, wie?« Dem alten Professor machte die Sache ungeheuren Spaß.

»Och – – – « Hänschen überlegte nur eine Sekunde. »Fräulein Huhn hat ja auch schon weiße Haare.«

»Hahaha – ja freilich, dann kann solch alter Knabe wie ich es wagen.«

Inzwischen hatten die jungen Gäste der Aufforderung, näherzutreten, Folge geleistet, sich drängend und gegenseitig stoßend. Sie konnten es nicht erwarten, den schönen Rosengarten mit den lustigen Mädchen zu betreten, der stets im Vorübergehen das Ziel ihrer Sehnsucht bildete. Aber noch andere Gäste kamen, nicht nur Kinder der Sommerfrischler. Da waren zwei kleine Barfüßel, Blaubeerkannen in der Hand, mit blaubeerverschmierten Mäulchen, die konnte Hänschen mit ihrem warmen Herzen doch unmöglich von dem lockenden Paradies ausschließen. Da war die Liebig-Martel, die gerade von der Fabrik heimkam. Sie sah zwar nichts weniger als geburtstagsmäßig aus in ihrem blaubedruckten Kattunkleid. Aber Hänschen ruhte nicht: »Martel, du mußt auch mitkommen zu meiner Geburtstagsschokolade!« rief sie über die Straße.

»Nu nä, ich wär halt schnell mein Sunntagskleidel überziehen, Hannele,« wandte die verlegen ein.

»Ach Unsinn, du bist mir auch so fein genug, Martel. Und inzwischen trinken dir die andern die Schokolade aus.«

Zwei Leinwandfrauen mit Kopftüchern, den Packen auf dem Rücken, gingen ebenfalls ganz selbstverständlich hinter den andern drein. Ob sie ihre Ware anbieten wollten, oder ob sie dachten, daß dies ein Schlaraffenland sei, das jedem offen stünde, war nicht zu ergründen.

Es war Fräulein Huhn und ihrer Schwester nicht zu verdenken, daß sie ziemlich verdutzte Gesichter machten über die merkwürdigen Gäste, die sich das Geburtstagskind da eingeladen hatte, daß Miß Pinshes ein »shocking« über das andere ausstieß und Monsieur das Monokel fester ins Auge klemmte.

»Notre petite demoiselle Jeanne est une originale.«

Fräulein Gretl wußte nicht, wo sie Tassen genug herbekommen sollte, und die Mädel, anstatt ihr zu helfen, kicherten und machten ihre Glossen. Die kleine Clemence aber hängte sich jubelnd an den Arm des Geburtstagskindes:

»Oh, 'änsken, kommen alle Kinders von die la rue

Inzwischen hatte sich der Professor Fräulein Huhn genähert und sich vorgestellt: »Strömer ist mein Name. Verzeihen Sie, meine Damen, wenn ich ganz ungeniert der freundlichen Einladung des kleinen Fräuleins gefolgt bin. Es war zu verlockend, sich Ihren herrlichen Rosengarten mit all den jungen Mädchenknospen, der sonst den Sterblichen verschlossen ist, einmal näher zu betrachten.«

»Ich freue mich, Sie in unserm Hause, oder vielmehr Garten, begrüßen zu können.« Fräulein Huhn hatte zuviel gesellschaftliche Formen, um ihr Erstaunen zu zeigen. Auch der junge Maler, der um Entschuldigung für sein keckes Eindringen bat und sich als Kunstjünger Weiß aus Berlin vorstellte, wurde zur großen Freude der Backfische zugelassen. Nun hatten sie doch einen Kavalier zum Tanzen.

Inzwischen hatten die Leinwandfrauen, da keine Stühle mehr vorhanden waren, auf ihren Packen Platz genommen und ließen sich dort die Schokolade munden, mit denen Hänschen sie freigebig versorgte. Auch den andern Mädeln machte es riesigen Spaß, die fremden Gäste zu bewirten. Nur Kätchen Kugelmann, die nun mal etwas verfressen war, seufzte wehmütig: »Ter Guchen hätt' euch pestimmt tie kanze Foche ieper kereicht, fenn Hänschen nicht auf die tämliche Itee kegommen wär, sich tie vremten Pälker herein zu pidden.«

Es war ein entzückendes Bild, die Schar anmutiger Mädchen in ihren hellen Sommerkleidern, so geschäftig im Grünen. Der junge Künstler vergaß Schokolade und Kuchen über diesem malerischen Anblick. Immer wieder aber kehrte sein Blick zu der eigenartigen Schönheit des schwarzlockigen Backfisches zurück, der unbekümmert darum den beiden Barfüßeln, die sich nicht recht trauten, zuzugreifen, Kuchen in die blauen Mäuler stopfte. Dann wieder ganz plötzlich die nichtsahnende Mieke, die geschäftig mit der Schokoladenkanne die Runde machte, um die Taille zu packen kriegte und sie ein paarmal unter einem entblätternden Rosenregen herumwirbelte: »Ach, Miekentierchen, ich bin ja so selig, daß mein Geburtstag doch noch so famos geworden ist!«

In der Frühe war das fünfzehnjährige Geburtstagskind eigentlich gar nicht besonders vergnügt gewesen, trotzdem die Rosen ihren süßesten Morgengruß zu ihm emporgesandt hatten, trotzdem die Amsel, die in dem Apfelbaum vor Hänschens Fenster wohnte, pfiff und jubilierte, als wüßte sie ganz genau, daß das Ständchen heute einem Geburtstagskinde gelte, trotzdem Mieke ihr bereits in aller Herrgottsfrühe das eigenhändig in bunte Seide gebundene Pensionsalbum, in das jede der Pensionsschwestern selbst einen bezüglichen Vers hineindichten mußte, an das Bett gebracht hatte. Ja, trotz der zärtlichen Glückwünsche der getreuen Mieke war Hänschen nicht so fidel wie sonst. Das Geburtstagskind hatte Heimweh. Ganz plötzlich war dieses Gefühl heute am Geburtstagsmorgen wieder über Hänschen gekommen, nachdem es wochenlang geschlafen hatte. Sie fühlte sich jetzt im Waldheim so wohl, sie strahlte, wenn sie ein Lächeln der Zufriedenheit in Tante Klärchens lieben Gesicht wahrnehmen konnte. Ihr zuliebe nahm sie sich auch in den andern Stunden zusammen und ärgerte Miß Pinshes und Monsieur nur gerade soviel, wie man es einem ausgelassenen Backfisch zugute halten konnte, Aber heute wollte die Ausgelassenheit, die fidele Backfischfröhlichkeit sich nicht einstellen. Hänschen machte schwermütige Augen zur Prinz-Heinrichs-Baude hinauf, verglich sie mit der Heiligen-Geist-Kirche in Potsdam, die sie von ihrem Balkon dort sehen konnte – trotzdem dieselbe auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit der Baude aufwies. Sie verglich das schwarze Mullerchen, das mit einem Blumensträußchen, welches die Pensionsschwestern ihm an die rechte Vorderpfote gebunden hatten, vor dem Geburtstagskind schönmachen mußte, mit ihrem weißen Plttewittewitt daheim. Aber als Tante Klärchen ihr Pflegekind so liebevoll in die Arme schloß mit innigem Segenswunsch, da vergaß Hänschen zu vergleichen. Da war es ihr, als ob Mutti sie daheim an ihr Herz zöge. Jede der Pensionsschwestern, selbst die fremden, die nur während der Sommerferien im Waldheim Aufnahme gefunden, hatten Hanna mit einer kleinen Gabe erfreut. Tante Klärchen jedoch hatte ihr die größte Freude von allen gemacht: sie hatte Hänschen ihr Bild geschenkt. Das sollte nun droben auf ihrem Tischchen stehen und aufpassen, daß Hänschen auch dort nicht zuviel Unfug trieb. So hatte Tante Klärchen lachend geäußert. Fräulein Trudel hatte ihr Meisterwerk, eine Schokoladen-Nußtorte, fabriziert. Schwarzes Silhouettenpapier nebst Scherchen und Vorlagen hatte Fräulein Gretl ihr verehrt. Hänschen lernte nämlich bei Fräulein Gretl neuerdings die Kunst des Silhouettenschneidens. Sie übertraf bereits ihre Lehrerin in der Sicherheit, mit der sie die Ähnlichkeit mit dem Modell aus dem schwarzen Papier herauszauberte. Nur ihre Huschlichkeit, ihr Mangel an Ausdauer verdarb alles wieder, so daß selten eine wohlgeratene Silhouette zustande kam.

Ja, Hänschen hatte wirklich allen Grund, heute vergnügt zu sein. Sie wäre es auch sicher gewesen, wenn nur das Heimatspaket und der Brief von den Eltern nicht ausgeblieben wäre.

Solche Gemeinheit von der Post! Sobald sich die rotgeränderte Mütze des alten Landbriefträgers sehen ließ, war Hänschen an der Gartentür – stets vergebens.

Und nun war es heute nachmittag doch noch so wunderschön geworden. Hänschen hätte nie gedacht, daß sie heute, trotz des ausgebliebenen Heimatsgrußes, so vergnügt sein könnte. Das kam daher, daß sie auch andern eine Freude gemacht hatte. Die glücklichen Augen der fremden kleinen Gäste gaben das Glück vervielfältigt ihr wieder zurück.

Man spielte »Dritten abschlagen«. Alle mußten sich daran beteiligen. Sogar die verschrumpelten alten Leinwandfrauen wollte Hänschen zum Spielplatz schleifen. Aber da die eine ein Humpelbein hatte und die andere die Gicht in den Knochen, stand Hänschen von ihrem Vorhaben denn doch ab und ließ sie ihre Waren ausbreiten, denn sie hofften, mit Fräulein Huhn später in Geschäftsverbindung zu treten.

Hänschen hatte es auf die arme Miß Pinshes abgesehen. Die jagte sie umher, daß die etwas steife Dame atemlos ausrief: »Oh, a very painful game!«

Auch Monsieur mußte daran glauben. Hänschen ließ ihn wie einen Kreisel in der Runde umherwirbeln, daß sein Augenscherben ebenfalls ins Wirbeln kam und in taufend Splittern zerschellte. Die ausgelassenen Mädchen sahen voll Genugtuung Monsieur betrübt auf seinen zerborstenen »Pariser Chik« starren.

»Das bringt Glück, Monsieur,« tröstete Hänschen ihn noch obendrein.

»Le bonheur pour moi – jamais!« Das klang so niedergeschlagen, daß Hänschen sich recht herzlos vorkam. Monsieur hatte vor zwei Jahren erst seine Frau verloren und war mit seinem mutterlosen Kinde nach Deutschland gekommen, weil er in Paris kein Heim mehr hatte. Nein, Hänschen nahm sich vor, Monsieur nur noch so wenig zu ärgern, als es ihr irgend möglich war.

»Wir wollen lieber ein etwas ruhigeres Spiel vornehmen, Kinder, ihr erhitzt euch so sehr,« schlug Fräulein Huhn vor, als auch der alte Professor Strömer, der etwas asthmatisch war, von Hänschen im Kreise herumgehetzt wurde.

Es regnete von allen Seiten die verschiedensten Vorschläge. Schließlich einigte man sich auf das Taschentuchspiel »Aber ich«. Dabei konnte man seinen Kameradinnen in aller Freundschaft so wunderschön kleine Anzüglichkeiten und Bosheiten an den Kopf werfen.

Das Geburtstagskind war die erste, der man das Taschentuch zuwarf. »Ich lasse mir meine Milch nicht von andern austrinken.«

»Ich auch nicht – nicht wahr, Tante Klärchen, das tue ich doch schon längst nicht mehr?« beteuerte Hänschen.

»Du mußt ›aber ich‹ sagen oder ein Pfand geben,« bestürmte man sie.

Hänschen war zu wahrheitsliebend, um nicht lieber das Pfand zu geben.

Monsieur mußte hören: »Ich trage kein Monokel.«

»Moi, maintenant non pas aussi.« Das klang ganz kläglich. Zum großen Jubel mußte Monsieur sich eines Pfandes entledigen.

Aber von Kätchen war es wirklich nicht hübsch, daß sie Hanna vor allen blamierte: »Ich pin gein Hänschen Dunichtkud und gneiwe nicht heimlich aus.«

Hänschen wurde so rot, wie der Rosenkranz in ihren Locken. Die sanfte Mieke ballte sogar zornig die Hände. Hänschen schielte ein kleines bischen zu dem Professor und dem Maler hin, warf dann den Kopf zurück und sagte laut: »Aber ich!«

»Donnerwetter, die Kleine hat Rückgrat,« dachte der Malerjüngling. Und Witz hat sie auch.

Denn da flog Hänschens Taschentuch nebst ihrer Stichelei Kätchen als Retourkutsche schon an den Blondkopf: »Ich pin Sie nicht poshaft.«

Kätchen druckste und – gab ein Pfand unter allgemeinem Gelächter.

Als aber die Geschichte zu intim wurde, als man Miß Pinshes beschuldigte, falsche Zähne zu haben, Fräulein Trudel, zu wenig Butter auf die Schnitten zu streichen und Gustel, niemals saubere Nägel aufzuweisen, hielt Fräulein Huhn es doch an der Zeit, lieber ein harmloseres Spiel vorzuschlagen.

»Tanzen – wir wollen tanzen,« hieß es plötzlich von allen Seiten. Elli, eine besonders gute Pianistin, saß schon am Klavier.

»Dann ist es Zeit für mich, mich aus dem Staube zu machen,« sagte der Professor lachend zu Fräulein Huhn. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundlichkeit, mein gnädiges Fräulein. Ich habe heute den genußreichsten Nachmittag – – – «

Er kam nicht weiter. Hänschen hatte bereits ihren Knicks vor ihm gemacht, und ehe der alte Herr Einspruch erheben konnte, führte sie ihn triumphierend zum Tanzplatz, dem großen Rasen. Und während Elli »Lieschen, mein liebes Lieschen« auf den Tasten im Fortissimo hämmerte, damit man es auch draußen durch das offene Fenster hörte, während die andern »onestepten«, begann der Professor sich mit seiner Dame gravitätisch im Walzer zu drehen.

Einen merkwürdigen Anblick mochte es wohl darbieten, das ungleiche Paar, der weißhaarige alte Herr und das Backfischchen mit den noch etwas eckigen Bewegungen. Der junge Maler vergaß darüber seine Pflicht, als einziger jugendlicher Kavalier eine der erwartungsvoll auf ihn schauenden Schönen zum Tanze zu führen. Er holte sein Skizzenbuch hervor und hielt das eigenartige Bild fest.

Aber noch andere Zuschauer hatten sich eingefunden. Sie standen an der Gartentür, die Hänschen in ihrer Unachtsamkeit wieder zu verschließen vergessen hatte. Ein Herr und eine Dame waren es, in Reisekleidern. Langsam kamen sie näher, unbemerkt von der tanzenden Jugend, von den mit den Leinwandfrauen über Handtücher und Servietten konferierenden Damen.

Unter der Holunderhecke hatten sie Posto gefaßt. Merkte das Geburtstagskind, das sich gerade mit dem Malerjüngling drehte, denn nicht die zärtlichen Blicke, die von der Holunderhecke her zu ihm flogen? Ahnte es gar nicht die Nähe von zwei Herzen, die schneller schlugen vor Glück, ihr Kind so blühend und froh wiederzusehen?

»Mein Hänschen!« Wie ein Hauch kam es aus dem Munde der unter dem Holundergesträuch sich verbergenden Frau. Unmöglich konnte Hänschen es gehört haben, denn Elli paukte augenblicklich mit ganz besonderer Muskelkraft. Und doch – hatte ein gefälliges Lüftchen die Worte aufgefangen und zu ihr hingefächelt? Hänschen empfand sie mitten im Tanz wie eine Liebkosung, als ob die Hand der Mutter ihr über das Ohr strich. Mit magnetischer Kraft zog es ihr Auge in die Richtung der weißen Blütenhecke und – – – »Mutti – mein Muttichen!« Bis auf die Schneekoppe hinauf mußte man den Jubelschrei vernehmen.

Der verdutzte Malerjüngling stand plötzlich allein. Seine Tänzerin flog den Gartensteig hinunter, hing lachend und weinend zugleich am Hals einer schlanken Dame, die sie gar nicht wieder aus den Armen lassen wollte, sprang mit einem erneuten Jubelruf »Vatichen!« dem stattlichen Herrn an die Brust, um gleich wieder die Arme um alle beide zugleich zu schlingen. »Mutti – mein Muttichen!«

Auf dem Rosenrondell war man aufmerksam geworden. Man hatte aufgehört zu tanzen. Auch Fräulein Huhn prüfte nicht mehr die Tadellosigkeit des Fadens. Alle blickten sie erwartungsvoll zur Holunderhecke hinunter. Nur Elli hämmerte unentwegt weiter.

Und nun kamen sie. Hänschen in der Mitte zwischen Vater und Mutter, schon von weitem jubelnd: »Tante Klärchen, sie sind da – Vati und Muttichen sind gekommen!«

Warm bis ins innerste Herz hinein wurde es einem jeden bei dieser Kindesseligkeit, selbst der Miß Pinshes, welche die sentimentalen Deutschen sonst nicht begriff.

Hänschen wußte nichts mehr von ihrer Umgebung. Sie hörte gar nicht, daß der Professor und der Malerjüngling sich empfahlen. Merkte es nicht, daß auch die andern jungen Gäste dankend abzogen. Weder Mutter Liebigs knusperiger »Schwärtelbraten mit schläsischen Kleeßen« noch die »italienische Nacht«, welche die Mädel mittels eigenhändig gefertigter Lampions in Szene setzten, kam recht zur Geltung.

Das Geburtstagskind wußte nur eins: »Mutti – mein Muttichen ist da!«


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