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Zweites Kapitel
Wie Hänschen Tunichtgut ihren Namen erhielt

Es war in der englischen Lektürestunde.

Charlotte Menge leierte mit eintöniger Stimme: »Those evening bells – those evening bells ...«

»Dicke, hast du die Vokabeln rausgezogen?« wisperte Hänschen der Nachbarin zu. Sicher nahm Fräulein Schmidt sie jetzt zur Strafe für das Zuspätkommen heran. Sie hatte einen nachtragenden Charakter. Und Hänschen hatte gestern, anstatt zu präparieren, sich notwendig damit beschäftigen müssen, Pitt, dem klugen, weißen Pudel, auf seinen Hinterpfoten Kiebitzgang beizubringen.

Das kleine Vokabelheft wurde ihr bereitwillig von der »Dicken« zugeschoben, und Hänschen vertiefte sich mit lobenswertem Eifer in die »Abendglocken«. Da wurde sie rücksichtsloserweise in ihrem Fleiß gestört.

»Weiter – Johanna Wallenberg.«

Hänschen schnellte von ihrem Sitz. Das Vokabelheft der Dicken flog bei der jähen Bewegung unter den Tisch.

»Those evening bells – those evening bells,
How many a tale their music tells – – –«

begann sie mit stockender Stimme.

»Das haben wir soeben bereits genossen – du bist doch kein Wiederkäuer, Johanna. Den zweiten Vers von den Abendglocken!«

Ach, dem unvorbereiteten Hänschen klang es wie das Armesünderglöcklein. Sie begann zu stottern und dabei krampfhaft mit einem Auge auf den Fußboden zu schielen, wo das Vokabelheft der Dicken lag.

»Those joyous hours are passed away,
And many a heart, that than was gay,
Within the tomb now darkly dwells
And hears no more those evening bells –«

»Jammervoll gelesen, Johanna, ganz jammervoll! Those evening bells – das klingt wie Musik, da muß man den Glockenton daraus vernehmen. Noch einmal!«

Wieder begann Hänschen ihre Abendglocken und hatte nur den einen Wunsch, daß Frau Kurzmichel, die Schuldienerin, ein Einsehen haben und die Schulglocken statt der Abendglocken zum Stundenschluß läuten möchte.

Aber Frau Kurzmichel tat ihr diesen Gefallen nicht.

»Those evening bells« – Fräulein Schmidt versuchte allen Schmelz, alle Süße, deren ihre etwas heisere Stimme überhaupt fähig war, in jene Abendglocken zu legen.

»Fühlt ihr's nicht, wie die Glocken klingen und singen, hört ihr's nicht, den klagenden Ton – – –«

Ja, sie hörten es alle. Kein klagender, sondern ein schriller Ton – ein lautes Schnarren, heulendes Klingeln von Hänschens Platz her, als ob alle bösen Geister der Hölle plötzlich losgelassen wären.

»Feuer – Feuer – – –« schrie eine, es war Oberstaatsanwalts Agathe, und stürzte zur Tür.

»Feuer – – –« schrie die ganze Klasse in fürchterlicher Aufregung, während es immer weiter gellte und schnarrte. »Feuer – – –« eine allgemeine Panik brach aus, alles rannte hinter Oberstaatsanwalts Agathe drein.

Fräulein Schmidts Ruf: »Aber Kinder, was fällt euch denn ein?« verhallte ungehört. Da lief die Hirtin ebenfalls hinter ihrer Herde her.

Nur eine blieb in der Klasse zurück. Hänschen saß mitten in dem Aufruhr einsam auf ihrem Platz und lachte wie ein Kobold. In der Hand hielt sie Luisens Weckuhr, die noch immer ihre durchdringende Stimme ertönen ließ und den ganzen Tumult veranlaßt hatte. Zärtlich streichelte Hänschen die aus der Mappe hervorgezogene Uhr, die sie von den Qualen der Abendglocken erlöst hatte.

Da erschien die Schulvorsteherin wieder auf der Bildfläche, ihre aufgescheuchte Herde, die sie glücklich gesammelt, vor sich hertreibend.

»Schämt ihr euch denn gar nicht, Kinder, euch so ins Bockshorn jagen zu lassen,« rief sie mit empörter Stimme. »Aber die Sache wird untersucht und die Schuldige exemplarisch bestraft. Die Täterin melde sich selber.«

Neugierige und angstvolle Mädchenaugen ringsum. Aller Blicke wandten sich zu dem Platz, wo sich eine kleine, frostrote Hand, etwas Blinkendes zwischen den Fingern, in die Luft streckte.

»Eine Weckuhr – ach, bloß eine Weckuhr!« Die Klasse jubelte.

»Bloß eine Weckuhr – unerhört ist dieser Streich, eine Weckuhr mit in die Schule zu bringen. Natürlich Johanna Wallenberg – ich hatte schon richtig vermutet. Viel Gutes haben wir von dir noch nicht zu sehen bekommen, seitdem du unsere Schule besuchst. Aber ich werde die Eltern schriftlich davon in Kenntnis setzen, was für ein Tunichtgut ihre Tochter ist.« Fräulein Schmidts Stimme schnappte vor Erregung über.

»Ich kann doch nichts dafür, wenn die Weckuhr kaputt ist, und ich soll sie mit zum Uhrmacher nehmen, und es war heute morgen schon zu spät dazu,« verteidigte sich Hänschen trotzig.

»Ein Tunichtgut – ein richtiger Tunichtgut!« Fräulein Schmidt hörte ihre Einwendungen gar nicht, »Agathe, schnattere nicht wie eine Gans, einfältig wie eine solche hast du dich soeben benommen.« Jetzt bekam Oberstaatsanwalts Agathe, die ihrer Nachbarschaft gerade auseinandersetzte, daß das Feuerhorn auf dem Lande bei ihrem Onkel genau so geklungen hätte wie die Weckuhr, auch ihr Teil ab. Gut, daß Frau Kurzmichel endlich die Schulglocke in Bewegung setzte, sonst hätte noch manche daran glauben müssen. Mit der gestrengen Vorsteherin war heute nicht gut Kirschen essen.

»Hole dir den Brief an die Eltern nach Schulschluß aus meinem Zimmer ab, Johanna Wallenberg.« Damit rauschte Fräulein Schmidt zur Tür heraus.

»O weh, Hänschen, ein Brief von Fräulein Schmidt an die Eltern, das ist die schlimmste Strafe, die Fräulein Schmidt verhängt,« meinte die Dicke mitleidig.

»Ja, wenn du auch solchen Unfug machst und eine Weckuhr in die Schule mitbringst, kannst du dich nicht darüber wundern,« warf sich die Erste in die Brust. Sie sowohl, wie die meisten der II-O, glaubte nicht an Hänschens Unschuld. Kannten sie doch die Durchtriebenheit ihrer Schulkameradin nur zu gut.

»Wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann laßt ihr es bleiben!« Hänschen zuckte gleichmütig die Achsel.

»Hänschen Tunichtgut ist so dickfällig, daß es ihr auch gleich ist, wenn sie aus unserer Schule rausfliegt,« sagte Agathe laut genug, daß Hänschen es hören musste.

»Einfältige Schnattergans!« Hänschen wandte ihr verächtlich den Rücken.

»Du, das verbitte ich mir – du, das sag' ich meinem Vater!« Rote Flecken brannten auf Agathes Wangen.

»Wenn du mich Hänschen Tunichtgut nennst, werde ich dich doch wohl auch mit deinem Ehrentitel rufen können, den du von Fräulein Schmidt soeben erhalten hast.« Jetzt hatte Hänschen die Lacher auf ihrer Seite.

»Komm, Hänschen, ich glaube dir, daß du die Weckuhr nicht aus Ulk mit in die Schule gebracht hast.« Lore Schwarz, eine helle Blondine, schlang den Arm um Hänschens Schulter. Ach, das tat wohl, daß wenigstens die Lore, ihre »Beste«, an sie glaubte. Denn so dickfällig Hänschen auch tat, im Grunde genommen war es ihr gar nicht gleichgültig, daß überall, wo sie sich heute zeigte, der Name »Hänschen Tunichtgut« gewispert wurde. Und daß die Agathe Fräulein Neuberg, der einzigen von all den Lehrerinnen, bei der Hänschen sich Mühe gab, etwas braver zu sein, ja, daß die Agathe gerade Fräulein Neuberg von der fatalen Weckuhrgeschichte erzählen mußte, war eine ausgesuchte Bosheit.

Ganz traurig hatte Fräulein Neuberg Hänschen angeschaut. »Ei, Hanna, das hätte ich nicht von dir gedacht,« sagte sie.

Verstockt schwieg Hänschen, zu stolz, um sich noch einmal vor der Klasse zu verteidigen. Lore aber, die Getreue, rief eifrig: »Sie kann ja nichts dafür, sie hat ja die Uhr zum Uhrmacher bringen sollen.«

»Ist das wahr, Hänschen?« fragte Fräulein Neuberg freundlich.

Hänschen nickte stumm.

»Schön, ich glaube dir.« Damit war die Sache für die Lehrerin abgetan.

Nicht so für Hänschen. Der Agathe, der mußte sie eins auswischen für ihre Petzerei. Nach der Zwischenpause prangte an der Schultafel ein seltsames Bild. In wenigen markanten Kreidestrichen war es hingeworfen. Es stellte eine Gans dar, die über dem spitzen Schnabel ein Menschengesicht hatte, das unverkennbare Ähnlichkeit mit Agathe zeigte.

Leider konnte man es nicht schnell genug fortlöschen. Fräulein Liebold, die Naturkunde gab, betrat schon die Klasse.

»Was ist denn das für ein merkwürdiger Vogel?« verwunderte sie sich, auf die Tafel weisend. »Wir nehmen doch augenblicklich die Käfer durch. Agathe, lösch' es fort.«

Wirklich, die zunächstsitzende Agathe mußte zum heimlichen Gaudium der Klasse Hänschen Tunichtguts Kunstwerk, ihr eigenes Porträt, von der Tafel löschen. Aber Agathe tröstete sich damit, daß ihre Feindin zur Strafe den Brief von der Schulvorsteherin heimtragen mußte; das war Hänschen Tunichtgut recht!

So eilig es Hänschen am Morgen gehabt hatte, nach der Schule zu kommen, so wenig eilte es ihr am Mittag mit dem Heimkehren. Vater kam erst um drei Uhr von der Regierung, eher wurde nicht gespeist. Und der Brief – ein schmaler langer Brief, genau dasselbe Format wie Fräulein Schmidt selbst – wog trotz seiner Leichtigkeit merkwürdig schwer in Hänschens Mappe. Ach, mit Mutti, da würde sie schon fertig. Die würde es gleich ihr empörend finden, daß man ihrem Töchterchen unrecht getan und ihr eine Schuld in die Schuhe geschoben hatte, für die sie nichts konnte. Aber Vater, der war manchmal unberechenbar. Der konnte die Sache vielleicht anders auffassen. Man wusste ja doch nicht, was in dem Brief alles drin stand. Wenig war es nicht, was Hänschen auf dem Kerbholz hatte!

Na, vorläufig ließ sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen. Erst wurde die Weckuhr, die die Missetäterin war, abgeliefert, dann die Dicke nach Hause begleitet, darauf die Lore, die wohnte am Brandenburger Tore. Hänschen hatte Zeit.

Als sie endlich am Kanalufer heimschlenderte, saß Oberstaatsanwalts Agathe längst schon droben beim Mittagessen und berichtete den Eltern getreulich die Heldentaten von Hänschen Tunichtgut. Was sie aber nicht berichtete, war ihr eigener Ehrentitel.

»Ja, ja,« sagte die Frau Oberstaatsanwalt und nickte, daß die schön gewickelten Löckchen im Takt auf und nieder wippten, »ja, ja, die kleine Wallenberg ist wirklich ein Hänschen Tunichtgut. Erst heute Morgen habe ich mich mit eigenen Augen davon überzeugt, daß sie den Herrn Regierungspräsidenten in höchst eigener Person naseweis ausgelacht und ihn dann noch obendrein mit ihrer triefenden Mütze bespritzt hat. Ja, ja, es ist höchst bedauerlich, daß solch ein ungezogenes Mädchen mit unseren Kindern zusammen die Schule besucht. Aber unser Agathchen kann sie uns gottlob nicht verderben. Die ist zu wohlerzogen!« Frau Oberstaatsanwalt nickte, die Löckchen nickten, der Herr Oberstaatsanwalt nickte beifällig, und Agathchen nickte, von ihrer Wohlerzogenheit überzeugt.

Inzwischen starrte Hänschen Tunichtgut, die droben den Unterhaltungsstoff bei Oberstaatsanwalts geliefert, in tiefem Sinnen in das schwarze Kanalwasser. Nahm sie sich ihren Beinamen, den sie heute in der Schule davongetragen, etwa so zu Herzen, daß sie sich ein Leids antun wollte? O nein! Daran dachte Hänschen nicht. Die hatte ganz andere Überlegungen.

Noch immer raste der Februarsturm am Ufer entlang. Hatte er heute morgen ihre Mütze ins Wasser geweht, nun, vielleicht tat er ihr den Gefallen und nahm jetzt Fräulein Schmidts Brief mit. Versuchen konnte man es immerhin.

Der schmale lange Brief lag auf Hänschens frostroter Hand. So sehr der Wind auch blies, er rührte sich nicht. Sie mußte ein wenig nachhelfen. Die Hand verwandelte sich in eine schiefe Ebene, und der Brief rutschte gehorsam hinab auf das Straßenpflaster. Da lag er nun. Sollte sie ihn wieder aufheben? Hänschen brauchte lange, um zu einem Entschluß dieser Überlegung zu kommen. So lange, daß der Wind ihr zuvorkam und plötzlich Fräulein Schmidts Strafbrief mit knochiger Faust ergriff. Ritsch – ratsch – da flog er im lustigen Wirbeltanz, gar nicht zu dem ernsten Inhalt passend, vor Hänschen her, das Kanalufer entlang. Es wäre dem flinken Hänschen ein leichtes gewesen, den Ausreißer wieder einzufangen. Aber das lohnte sich wirklich nicht. Wenn er nur ein ganz kleines bißchen mehr nach links halten würde, wo das schwarze Wasser gähnte.

Hurra – aus der Querstraße, gerade an der Stelle, wo Hänschens Mütze morgens hinabgesegelt war, stürmte ein Zwillingsbruder des Sturmes, ebenso wild und ungestüm wie dieser. Sie begannen sich wie Gassenbuben um Fräulein Schmidts Brief zu balgen, ihn sich gegenseitig fortzureißen. Bald zerrte ihn der eine nach links, bald der andere nach rechts. Hänschen beobachtete atemlos den Kampf – hurra! – bei der Lauferei verlor der Brief plötzlich den festen Boden unter sich.

Da schwamm er, der Strafbrief der gestrengen Schulvorsteherin, weiß und unschuldig in dem schwarzen Kanalwasser. Und nur die Fische erfuhren etwas von seinem Inhalt. Aber die verrieten nichts.


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