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Puh – war das ein Wetter! So scheußlich hatte es von drinnen gar nicht ausgeschaut. Es regnete Bindfaden. Der Schnee war getaut. Bei jedem Schritt hatte man das Gefühl, in einem See zu waten. Dabei gab der Wald noch einigermaßen Schutz vor dem Sturm, der vom Riesengebirgskamm herunter mit eisigem Atem pfiff. Als wolle der Winter noch mal seine ganze Wut an dem Hirschberger Tal auslassen, bevor er endgültig abziehen mußte. Es tropfte wie unter einer Dachtraufe von den Bäumen. Nicht allein der Regen, sondern auch die grau gefärbten Schneemassen, die sich von den Zweigen lösten.
In wenigen Minuten war Hänschen trotz der Lodenkapuze total durchweicht. O Gott, war das ungemütlich heute in dem noch vor wenigen Tagen so feierlich weißen Schneewald. Es tropfte, es rauschte, es rieselte. Äste ächzten, knackten, zerbarsten. Und über den Wipfeln zog es heulend im Sturmgebraus, als habe Rübezahl, der Herr des Riesengebirges, sein ganzes Heer von Luftgeistern aufgeboten, um Hänschen Tunichtgut das Geleit zu geben. Wirklich, unheimlich war es heute!
Sollte sie umkehren? Noch konnte sie es. Noch hatte wohl keiner ihre Flucht bemerkt. Auf demselben Wege, auf dem sie ausgekniffen, kam sie auch wieder hinein.
»Feiges Ding – schämst du dich nicht? Tust immer wunder wie keck, und wenn es mal darauf ankommt, willst du zurückzupfen. Vorwärts – marsch!« So trieb Hänschen sich selbst an.
Um das Heulen und Ächzen in den Lüften zu übertönen, begann sie zu singen. Trotzdem ihr eigentlich gar nicht so fröhlich zumute war. Bis ihr plötzlich einfiel: Himmel, es konnte sie ja irgend jemand hören. Sie konnte sich dadurch verraten, auf ihre Spur lenken.
Hänschen hatte sich im Bogen um die Brotbaude herumgepirscht, und schlug nun den Weg nach den Vorderhäusern ein. Dort waren sie alle erst vorgestern gewesen. Fräulein Gretl hatte ihnen den Weg gezeigt, der nach Giersdorf hinabführte. Von dort sollte eine elektrische Bahn nach Hirschberg fahren. War sie zu kostspielig, nun, so ging sie einfach immer den Schienen nach. Dann konnte sie den Weg nicht verfehlen.
Die Barberhäuser lagen auf einem Hochplateau. Der Sturm hatte dort freie Bahn. Er raste denn auch wie besessen über die überschwemmte Halde. Er ließ die von den Bergen kommenden Gießbäche wie Wasserfälle zu Tal brausen. Er jagte schwere Felssteine hinab wie ein Junge, der mit Murmeln spielt. Hänschen riß er die Kapuze vom Haupt, zauste sie an den Locken, als wollte er sie dafür strafen, daß sie heimlich davongelaufen war. Schritt um Schritt mußte man sich förmlich erkämpfen.
Jetzt saßen sie im Waldheim beim Vesper. Warm, hell und gemütlich war's dort. Nun würde man ihr Verschwinden merken. Fräulein Huhn würde ganz traurige, ängstliche Augen machen. Oh, Hänschen sah sie genau vor sich. Etwas tat weh, irgendwo in der Brust. Hänschen verstand plötzlich nicht, wie sie Fräulein Huhn, die sie doch liebgewonnen hatte, solchen Kummer zufügen konnte.
»Ach was, sie wollte mich ja nicht mehr sehen, sie hat es ja selbst gesagt. Nun wird ihr Wunsch ja erfüllt,« bestärkte sich Hänschen von neuem.
Dann flogen ihre Gedanken voran, nach Potsdam. Ach, würde sich Mutti freuen, wenn ihr Hänschen plötzlich unvermutet vor ihr stand. Und ihr Pittewittewitt! Der war sicher ganz aus dem Häuschen vor Freude. In Potsdam gab es kein derartiges Sturmgeheul und Unwetter – da war es Frühling. Ob wohl schon die Magnolienbäume in Sanssouci blühten? Nur der Vater! Wieder gab es Hänschen einen Stich durchs Herz. Aber anderer Art als vorhin. Beklemmend, die Brust wie einen Reif zusammenpressend. Vater würde schrecklich böse sein. Das wußte Hänschen ganz genau. Nun, das mußte durchgekämpft werden. Sie war ja nicht feige.
War sie es wirklich nicht? Der Wald, der sie jetzt wieder aufnahm, schien noch viel unheimlicher als der vorige. Frühe Dämmerung kauerte zwischen den Bäumen. Nebelspuk wob wallend in der feuchten Einsamkeit. Alle Sagen, die Hänschen in ihrer Kinderzeit vom Rübezahl gelesen, wurden hier plötzlich wieder lebendig. Strafte der Herr der Berge nicht die ungehorsamen Kinder? Wie mochte er es erst mit denen machen, die davonliefen? Verwandelte er nicht aus Schabernack Brot in Stein und sich selbst in eine Baumwurzel, über die man stolpern mußte?
Bautz – da lag sie. Sie war in der Tat über eine knorrige Wurzel gestolpert. Ob es der verwandelte Rübezahl gewesen, konnte Hänschen nicht ergründen. Trotzdem sie die schuldige Wurzel mit eingehendem Mißtrauen betrachtete. Das Brot, das sie trotz Sturm und Regen krampfhaft unter ihrer Lodenpelerine geborgen hatte, lag ein Ende weiter, mitten in einer großen Wasserlache. Es hatte sich nicht in Stein verwandelt, eher in Brotsuppe. Denn es war von der Nässe ziemlich aufgeweicht.
Ach was – jetzt wollte Hänschen erst mal tafeln. Das war das beste Mittel gegen dumme Hirngespinste. Sie suchte sich ein möglichst geschütztes Plätzchen unter einem vorspringenden Felsen. Das Kotelett sollte zu morgen bleiben. Sie mußte möglichst billig leben. Aber die armen Ritter wurden verspeist. Als ob Hänschen sich von ihnen frischen Mut holen wollte. Denn tiefer, immer tiefer wurden die Schatten zwischen den Bäumen.
Ach, wer doch jetzt gemütlich bei hellem Licht im Waldheim säße. Dort war man jetzt mit dem Backen des Osterkuchens beschäftigt. Da wurden Ostereier bemalt und bepinselt. Aber hier – hu – wie dunkel! Die Nacht kam mit ihrem Schrecken, auch wurde es empfindlich kalt in den durchnäßten Sachen. Sie mußte weiter. Sie mußte sehen, ein schützendes Dach zu erreichen. Es konnte ja gar nicht mehr weit sein bis Giersdorf.
Fester zog sie die triefende Lodenpelerine um die erschauernden Schultern. Kaum erkannte man noch einen Weg vor Nässe und Finsternis.
»Ich gehe ja heim zu Mutti und Vater,« versuchte sich Hänschen neue Zuversicht zuzusprechen. Aber selbst das wollte nichts nützen.
Hänschens Fuß stockte. Ohrenbetäubendes Krachen und Dröhnen kam von den Bergen. Wildes Heulen und Bersten antwortete. Große Schneemassen mußten sich gelöst haben und wälzten sich, alles mit sich reißend, zu Tal.
Barmherziger – wenn solch eine Schneelawine sie lebendig begrub? Und keiner wußte, wo Hänschen Tunichtgut ihr frühes Grab gefunden. Sie lehnte sich erschöpft gegen einen im Sturm wie ein Halm schwankenden Baumstamm.
»Lieber Gott, laß mich nicht hier so jung und allein im Walde sterben. Ich will ja auch nach Brückenberg zurückgehen und Fräulein Huhn um Verzeihung bitten,« flehte das einsame Mädchen mit zitternden Lippen.
Hohnlachend nahm ihr der Sturm die Worte vom Munde. Der Baum, an dem sie Schutz gesucht, ächzte – krachte – die Krone zerbarst, polternd stürzte nasses Gezweig um Hänschen und auf Hänschen herab. Es schlug ihr das Gesicht blutig und riß sie zu Boden.
»Nun ist mein letztes Stündlein gekommen,« dachte sie und stieß noch mit dem letzten Rest von Lebenswillen ein gellendes »Hilfe – – –« aus. Dann schwanden ihr die Sinne vor Erschöpfung und Erregung.
Gelblicher Lichtschein traf ihre geschlossenen Lider. Mit Anstrengung hob sie dieselben wieder. War sie bereits in einer anderen Welt?
Der Zitterschein einer Laterne war es, der sie beleuchtete.
»Nu, wos sull denn dos bedeiten, hä? Do hot sich gar eens bei dem Wetter, dem miserablichten, in a Wald verirrt. Jo, jo, keen Wunder ist's ne, wenn das Unwetter und schlägt eim mausetot. Nu, dos Mensch scheint jo hier noch zu läben. So wach ooch uff, du Jungele. Heit ist ne gutt im Wald dahier. Heit treibt der Herr Riebezahl sein Wäsen.«
Der letzte Zusatz bewog Hänschen, die Augen nur noch fester zuzukneifen.
Die zu der Stimme – es war eine rauhe Männerstimme – gehörende Hand begann Hänschen kräftig zu schütteln.
»So wach doch ooch uff – so kumm ooch mitte – die Nacht hier in a Wald, dos is nischte nich.«
Hänschen begann durch die Wimpern zu blinzeln. Ein verwittertes Männergesicht mit wild zerzaustem, langem Graubart beugte sich über sie. Das war – Rübezahl!
Die langen, schwarzen Seidenwimpern senkten sich wieder tief auf die erblaßten Wangen herab. Hänschen legte absolut keinen Wert darauf, mehr zu sehen.
»Jo, denn hilft's halt nischte ne, denn must ich das Jungele uff a Arm nähmen. Man kann's do ne hier liggenlassen wie a Stick Vichel.«
Der Mann machte Miene, Hänschen aufzuladen.
Was – auf den Arm des Herrn Rübezahl? Daß er mit ihr durch die Lüfte in sein unterirdisches Bergreich fuhr oder sie zur Strafe in einen Felsen verwandelte? Es gab hier im Riesengebirge genug Felsen, die eine menschliche Gestalt, ja, sogar ein deutlich erkennbares Antlitz trugen. Nein, lieber ging sie selbständig und sah dem Unheil ins Gesicht.
»Ich kann schon wieder allein gehen.« Nach einigen vergeblichen Anstrengungen stand Hänschen wieder auf ihren Füßen.
»Wer sind Sie denn?« erkundigte sie sich ganz unnötigerweise, denn sie wußte es ja ganz genau.
»Ich bin halt der Kleinert Karle von Hain här. Hob halt Holz in a Wald gefällt, aber der Sturm, der konnt's heite besser als unsereens.«
Holzhauer – das konnte jeder sagen. Ja, Hänschen erinnerte sich sogar ganz deutlich aus ihrem einstigen Rübezahlmärchenbuch, daß der Herr des Riesengebirges sich ganz besonders gern in Gestalt eines Holzhackers den Menschen zeigte. Sie war fest davon überzeugt, daß kein anderer als Rübezahl neben ihr stand.
»Und wer bist denn halt du?«
Als ob er's nicht ganz genau wüßte, daß sie Hänschen Tunichtgut sei und daß sie heimlich aus der Pension entlaufen war.
»Ich bin Hanna Wallenberg,« zaghaft klang es aus dem sonst so kecken Mund.
»A Mädele? Hob halt gemeent, du wärscht halt a Jungele. Und wo willst denn hin – hä?«
»Nach Potsdam.« Vielleicht hatte er ein Einsehen, der Herr Rübezahl, und führte sie in seinem Sturmmantel geradeswegs ins Elternhaus.
»Bis nach Potsdam willst heite noch? Nu, dos is gutt – dos is jo gutt!« Rübezahl lachte dröhnend. »Nu, do laß dir ooch Zeit bis murgen, Mädele. Heit kummst ne weiter nich als bis nach Hain.«
»Ich wollte ja nach Giersdorf.« Hänschen fand es weniger unheimlich, ganz allein in dem finsteren Walde zu sein als in der Gesellschaft ihres zweifelhaften Begleiters.
»Nach Gierschdorf kummst heit ne mehr, do haste an a Barberheisern den richtigen Weg halt verpaßt. Aber in Hain sein mehr balde. So – jetzt kumm ooch.« Rübezahl griff nach Hänschens Arm und stützte sie, mit der Laterne sorglich den Weg, oder vielmehr den See, in dem sie herumpantschten, beleuchtend.
Sollte sie ihn bitten, ihr nichts zuleide zu tun? Sollte sie Besserung geloben? Rübezahl war ja nicht hartherzig gegen den Reuigen, wenn er auch seinen Schabernack mit ihm trieb.
Unmöglich, sich bei dem Heulen und Winseln des Sturmes verständlich zu machen. Alle bösen Geister schienen heute losgelassen. Kaum vermochte sich Hänschen aufrecht zu halten. Schwer schwankte sie am Arm ihres unheimlichen Beschützers.
»Do sein halt schon de Lichtle von Hain. Gleich ho' mersch.« Hänschen verstand im Sturmesgeheul diese Worte so wenig wie ihr Begleiter die ihrigen. Aber sie sah aus der schwarzen Nacht Lichter aufblinken. Dort mußten Menschenwohnungen sein, Gottlob! Sie konnte auch kaum noch weiter.
»Nur noch a kleenes, a ganz a kleenes Stickel. Noch dorte num und dorte nuff und do sein mer gleich daheeme. Jo, ich werd' das Mädele der Muttel ins Haus dahär bringen missen. Bis zum Kretscham schofft's die ne mähr,« hielt der Rübezahl Selbstgespräche. Denn Hänschen hing wie ein Bleigewicht an seinem Arm; kaum konnte er sie noch vorwärtsziehen.
An einem der ersten Häuser von Hain machte der Kleinert Karl halt. Ein arg zerfallenes Häuslein war's. Das Dach schadhaft, mit Felssteinen beschwert. Die Tür hing schief in der Angel. Es stand abseits von der Ortschaft, das Hüttlein, zunächst dem Walde. Und es war Hänschen nicht zu verdenken, daß sie mit ihrer letzten Kraft das Häuschen mißtrauisch musterte. Denn daß Rübezahl plötzlich irgendwo eine Hütte aus der Erde herauswachsen ließ, das war ja für ihn eine Kleinigkeit.
»Mutterle, mach ooch uff! Ich bring' halt eens mitte. Läbendig ist's noch, aber uff a Beenen kann's kaum noch stähen. Nu geh ooch, Mädele, nu mach ooch zu.« Die Tür zu einem kleinen Küchenraum wurde geöffnet. Eine Frau steckte den grausträhnigen Kopf heraus.
»Jedid – is eens verunglickt? Wart ooch, Vatterle, ich bring's schon mit hinne.« Hänschen fühlte sich plötzlich auch an den Beinen gepackt und in den Küchenraum getragen. Dort legte man sie auf ein Bettgestell in der Ecke. Sie vermochte nicht mehr den geringsten Widerstand zu leisten, trotzdem sie darauf gefaßt war, daß die Rübezahlhütte plötzlich mit ihr in der Versenkung verschwinden könnte.
»Je – das Wirmerle is jo reene wie'n Eesklumpen. Setz ooch erscht a bissel Milch an a Herd, Vatterle, 's hot noch a bissel im Teppel. Und kläben tut's halt von a Rägen. Wo nähm ich jetzt halt trockenes Zeich här? Han alleene nischte nich. Vatterle, ich glaub halt, das is a Zigeinersche!« Das letzte kam scheu geflüstert heraus.
»Ganz gleiche, Mutterle, bei su a Wetter kann man ne eins in a Wald und man läßt ihn liggen. So, nu supp ooch, supp ooch, Mädele, 's wird dir halt gutt tun.«
Das klang durchaus menschlich.
Das erschöpfte Mädchen schluckte gierig die heiße Ziegenmilch. Sie dachte nicht daran, daß sie in Waldheim stets ihre Milch verschmäht hatte, daß es ein abgebrochener brauner Topf war, aus dem möglichenfalls Rübezahl sie ihr bot. Hänschen war vor Erschöpfung und Kälte gänzlich willenlos. Wie aus weiter Ferne hörte sie die Worte: »Nu supp ooch, Mädele, supp ooch 's Teppel aus.«
»Vatterle,« sagte die Frau, »a Zigeinersche is' halt, grad su hat die, wo Kummedie gespielt in a griene Wogen, mit a schwarzen Locken ausgesähen. Aberscht ma kennen das Wirmle ne so klitschenoß dahier liggenlossen. Ich hol halt mein Sunntagszeich. Se wird ja wull ne damit durchgähen.«
Ach, Hänschen Tunichtgut war nicht mehr nach Durchbrennen zumute. Die war froh, daß ihr eine hilfreiche Hand die nassen, am Körper klebenden Sachen abstreifte, sie in ein grobes, handgesponnenes Hemd hüllte und ihr einen derben Drillichrock und eine blaugemusterte Barchentjacke überzog, wie die schlesischen Dorffrauen sie trugen. Dazu selbstgestrickte, rot und blau geringelte Wollstrümpfe. Denn die Reservestrümpfe, die Hänschen vorsorglich eingesteckt hatte, waren ebenso durchweicht wie sie selbst. Aber ungeachtet der trockenen Sachen wollte keine Wärme in die durchkälteten Glieder kommen.
»A Wärmkruken mißten mer halt ins Bett gäben, Mutterle.«
»Nu jo, jo nä, nä – du, Korle, wenn de Zigeinersche und se stirbt uns halt – – –« Die Frau schien nicht sehr erbaut von dem Gast.
Da wurde gegen die Tür gepocht.
»Guten Abend auch, Vater Kleinert. Habt Ihr noch a bissel Feuer im Herd? Bei dem vermaledeiten Sturm kriegt man die Pfeife nicht in Brand. Holla, habt Ihr Euch noch was Kleines angeschafft, Mutter Kleinerten?« Der Eintretende, ein blonder Hüne, zeigte lachend auf das Bett.
»Nee aber – nee aber, der Herr Förster – nu gutten Obend ooch, Herr Förster. Was Kleenes, nu das fählt uns Olschen noch grode. Nee, a Zigeinersche tutt mir der Vattel halt ins Haus schleppen. Wenn's nur nä und es stirbt uns hier unter a Händen, hier's Mädele.« Die Frau wischte mit der Schürze die Ofenbank für den Gast ab.
»Nee, laßt auch, Mutter Kleinerten, ich will heim.« Der Förster stieß bereits dicke blaue Wolken aus seiner kurzen Rübezahlpfeife. »Aber ansehen muß ich mir das Mädel doch amal. Schließlich geh ich erscht noch zum Doktor heran, daß er mal hereinsieht bei Euch.« Der Förster neigte sich über das Bett. Die Frau leuchtete ihm mit der zerbrochenen Küchenlampe.
Da der Lichtschein Hänschens geschlossene Augen traf, schlug sie dieselben auf.
»Donnerwetter,« sagte der Förster, als er in die großen schwarzen Sterne blickte – die heute nicht einmal so strahlend dreinschauten wie sonst –, »Donnerwetter, Mädel, was hast du für a Paar Lichter im Kopp! Nu sag auch amal, woher bist denn?«
»Von Potsdam,« war die leise Antwort.
»Nu, das ist ja der nächste Weg von hier.« Der Förster lachte so dröhnend, daß Hänschens Unbehagen vor dem Rübezahl zu schwinden begann. »Und wo kommst du denn jetzt her?«
»Aus Brückenberg.«
»Bei wem bist denn da gewesen? Zur Sommerfrische ist's noch a bissel zu zeitig im Jahr und auch noch zu ungemütlich.«
Hänschen schwieg.
»Nu, so sag's auch! Deine Leut' werden in Sorg' um dich sein, Mädel. Hast dich doch sicher verirrt, gelt? Ich kenn' sie halt alle, Haus bei Haus, da oben in Brückenberg,« drängte der Förster.
Nun gab's kein Entrinnen mehr. Nun kam's heraus, daß sie heimlich ausgekniffen war. Wie bereute Hänschen ihr unüberlegtes Handeln jetzt!
»Von Waldheim« – ganz leise klang die Antwort.
»Ih, der Tausend! Da gehörst du am Ende gar zu den Huhnschen Kücheln? Und ich denk' halt, du bist a Bauernmädele. Und verlaufen hast dich, gelt? Je, da werden die Klucken aber in Angst sein. Was machen wir denn halt da?« Der Förster kratzte sich das Ohr. Dann wandte er sich zu dem Alten. »Je, Vater Kleinert, das ist eine sakramentsche Geschichte mit dem Mädel da. 's ist keine Zigeunersche – Ihr braucht keine Angst zu haben, Mutter Kleinerten. Aus dem Huhnschen Töchterpensionat ist das Mädel. Verirrt hat sich's. Und nun kann man den Damen nicht mal Botschaft zukommen lassen, wo es bei dem Unwetter glücklich gelandet ist. Das Postfräulein hat schon vor einer Stunde geschlossen. Die macht heut schon Feiertag. Aber vom Kretscham könnt' man halt hinauftelephonieren. Nu, erst must das Mädel in ein warmes Bett. Ihr könnt sie nicht hierbehalten, Kleinert Karl, habt allein keinen Platz nicht. Ich werd' sie halt mitnehmen zu mir. Das Fremdenstüble steht leer. Die paar Schritt wird's noch gehen können, 's Mädel. Ja, Waldmann, nu ja, ich komm' ja schon, Hundel.« Die letzten Worte waren an den draußen vor der Tür schon eine ganze Weile kratzenden und winselnden Dackel gerichtet.
»Nu, wie ist's, Mädel, wirst du die paar Schritt bis zu meinem Haus noch gehen können, hm?« wandte sich der Förster wieder an Hänschen.
Die öffnete mit Anstrengung die schweren Augenlider.
Ja – ja – sie konnte gehen! Nur fort hier aus der unheimlichen Rübezahlhütte, wo das Herdfeuer so gespenstisch flammte und die Ziege im Verschlag nebenan so laut meckerte, als sei sie mit in demselben Raum. Zu dem großen blonden Förster hatte Hänschen Vertrauen.
Sie richtete sich auf. O Gott, brannten die Augenlider und der Kopf. Schwer wie Eisengewichte waren ihr die Beine.
»Nu wart ooch, Mädele, ich zieh dir halt noch a paar feste Schuhe an. So – a bissel groß sein se jo, aber bis nüber zum Herrn Förster wird's halt gähen. Nu fall ooch nich, Mädele – sie is Ihn halt schwach uff a Fissen, Herr Förster.« Vom Kleinert Karl und dem Förster gestützt, wankte Hänschen ein paar Schritte. Mutter Kleinert hatte ihr noch ein altes, zerlöchertes Tuch um den Kopf und die Schultern gebunden, das abscheulich muffig roch.
Schon an der Tür sah der Förster, daß es so nicht ging. »Ich werd's halt tragen müssen, 's Mädel, viel schwerer als a Rehböckle wird's ja auch nicht sein. Das Deckbett, Mutter Kleinerten, ich pack's Mädel ins Deckbett, da liegt's wenigstens warm.« Der menschenfreundliche Mann schlug das blaugewürfelte Bett um die schmächtige Mädchengestalt. »So, also Gott befohlen, Vater Kleinert. Daß der Doktor gleich amal bei mir nachschaut – und ein gesegnetes Fest!«
»A gesägnetes Osterfest, Herr Förster!«
Der blonde Riese schritt unter lautem Geblaff Waldmanns, der das merkwürdige Wild, das sein Herr heimschleppte, erstaunt beschnupperte, in das noch immer tobende Unwetter hinaus.
Hänschen fühlte wieder Nässe, Kälte, Sturmgeheul, dazwischen Hundegebell – sie wußte nicht, war das Pitt oder Mullerchen. Dann jubelnde Kinderstimmen: »Der Vattel kommt – – – der Vattel ist da! Vattel, hast uns auch Ostereier mitgebracht?«
»Sogar den Osterhasen in Person. Hier im Bett bring' ich ihn angeschleppt.« Hänschen hörte dröhnendes Lachen und fühlte, wie das Kopfkissen, an das sie den schmerzenden Kopf lehnte, auf und nieder ging.
»Frau – Frau – wo steckst denn? Kinder, ruft rasch die Muttel.«
»Die Muttel kann ne kummen, die Muttel backt Osterkuchen – Vattel, hast wirklich den Osterhasen mitgebracht – gelt, du machst nur Spick, Vattel?« Vier Blondköpfe schrien es durcheinander. Wie Meeresrauschen hörte Hänschen die Stimmen der Kinder an ihr Ohr schlagen. Den Sinn konnte sie nicht mehr erfassen. Dazwischen immer wieder das Gebell von Pitt oder Mullerchen.
Inzwischen hatte die Frau Förster, von dem Lärm angelockt, schon selbst ihren Osterkuchen im Stich gelassen.
»Ja, was gibt's denn, Vatel? Was bringst du mir denn da für eine Jagdbeute heim?«
»Den Osterhasen bring' ich. Aber er ist halt krank, er muß ins Bett. Laß das Fremdenstübl heizen, Lisel, und mach' a Warmkruken. Und Tee, heißen Pfefferminztee.«
Nicht lange währte es, so dehnte Hänschen die kältegeschüttelten Glieder in einem gut ausgewärmten, sauberen Bett. Im Ofen knisterte das Holz behaglich, und die freundliche Försterfrau, ebenso blond wie ihr Mann und ihre Kinder, flößte dem kranken Mädchen heißen Tee ein. Ach, das tat gut. Hänschen vermochte die Augen nicht zu öffnen. Aber sie empfand wohliges Geborgensein nach dem langen Umherirren im Unwetter.
Drunten in der Stube mit den vielen Hirschgeweihen sagte der Arzt, der soeben die Patientin beklopft und behorcht hatte: »Ich fürchte, Förster, wir kriegen da die schönste Lungenentzündung. Ein zarter Organismus, der dem Unbill dieses Hundewetters nicht standhalten konnte. Nicht dran zu denken, das Mädel vorläufig nach Brückenberg zu transportieren. Wir müssen die Huhnschen Damen vom Verbleib ihres Zöglings in Kenntnis setzen.«
»Soll gleich geschehen, Herr Doktor. Ich werde vom Kretscham 'nauftelephonieren.«
»Das wird Ihnen schwer fallen, Förster. Der furchtbare Stürm hat die Leitung zerstört. Wir müssen morgen früh einen Boten senden. Heute ist es zu spät.«
»Potz Kuckuck noch eins! Die Ärmsten werden arg in Sorge sein. Morgen früh geh' ich selber gleich nach Brückenberg, ihnen Nachricht zu bringen.«
»Nee, Vattel, du kannst nicht gähen, du mußt doch beim Ostereiersuchen helfen,« erhob einer von den Blondköpfen energisch Einspruch.
»Erst seid amal brav und ganz leise, Kinderle, daß der Osterhase wieder gesund wird! Sonst gibt's halt keine Ostereier,« mahnte der Vater.
Still wurd's in dem Försterhaus am Berghang. Die Blondköpfe wagten nur noch auf den Zehen einherzuschleichen, um den Osterhasen bloß nicht zu stören.
Nur im Windfang heult und rast der Sturm. Und wenn einer richtig hinhört, dann kann er deutlich im Sturmgebraus das Lachen Rübezahls vernehmen. Hänschen Tunichtgut hat er für ihr Fortlaufen tüchtig bestraft!