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Fünfzehntes Kapitel
Rübezahlspossen

Eine lustige Karawane schob sich an einem sonnenklaren Augustmorgen den steilen Hang zu den »Teichen« empor.

Wohl an fünfzehn junge Mädchen, mit blondem und braunem Backfischzopf, die schwarze breite Seidenschleife im Nacken und den Rucksack auf dem Rücken. In der Hand den derben Knotenstock mit der Eisenspitze, der aber weniger zum Stützen als zum Köpfen von Kieferlatschen und Teufelsbart, zum übermütigen Kitzeln der Voranmarschierenden benutzt wurde. Denn das junge Volk sprang wie die Gemsen den Zickzackweg über den steinigsteilen Abhang empor. Das wußte nichts von Anstrengung und Herzklopfen, von Müdigkeit und Verschnaufen. Das schnabberte, lachte und sang, ja, machte sogar noch kleine Seitenexkursionen, um Enzian zwischen den Felsblöcken zu suchen.

»Es ist doch etwas Beneidenswertes um die Jugend!« Ein stattlicher Herr zog die Lodenjoppe ab und trocknete sich die erhitzte Stirn, denn die Sonne meinte es hier oben trotz der frühen Stunde schon recht gut.

»Bist du angestrengt, Hedwig?«

Liebevoll besorgt wandte er sich zu seiner Gattin zurück, die neben Miß Pinshes langsam, sehr langsam, oftmals Atem schöpfend, hinterdrein kam.

»Es wird schon gehen, wenn auch etwas moderato oder gar andante. Das Allegro von Hänschens Bergtempo ist mir allerdings ein bißchen zu lebhaft,« lächelte Frau Wallenberg und blieb atemschöpfend stehen.

»Jane likes zu tun all schnell, schnell.« Miß Pinshes kletterte den Berg hinauf, als ob sie eine Zaunlatte verschluckt hätte.

»Ja, das liegt nun mal in ihrem lebhaften Temperament,« pflichtete die Mutter bei. »Ich bin ja aufs freudigste überrascht, Miß Pinshes, welchen günstigen Einfluß Pension Waldheim auf mein Hänschen ausgeübt hat. Sie ist in den wenigen Monaten viel mädchenhafter geworden. Der Wildfang ist nicht wiederzuerkennen.«

»Oh –« sagte Miß Pinshes nur, und man konnte nicht genau unterscheiden, ob dies ein Anspruch oder ein Schnaufer, vom Klettern hervorgerufen, war.

Frau Wallenberg nahm es wohl für letzteres, denn sie fuhr fort: »Wirklich, mir ist manchmal ganz ängstlich zumute, wenn ich das Kind so zahm und sittsam sehe. Ob das nicht noch mit ihrer überstandenen Krankheit zusammenhängt? Ich möchte doch noch mal einen Arzt befragen.«

»Oh –« meinte Miß Pinshes aufs neue. »No matter!« Sie fand Hänschens Sittsamkeit noch durchaus nicht beängstigend. Kam sie doch kaum aus dem Shocking-Rufen heraus.

Wenn Frau Wallenberg ihr Hänschen in diesem Augenblick, da eine freundliche Wegbiegung sie ihren Blicken entzog, hätte sehen können, wäre die mütterliche Besorgnis bezüglich ihrer allzu großen Zahmheit wohl zum Schweigen gekommen.

Hänschen hatte sich geschickt auf einen Felskoloß hinaufgeschwungen, den sogenannten Rübezahlturm, um von dort aus besser Umschau über das noch von einigen Nebelschwaden verschleierte Hirschberger Tal zu halten.

»Hänschen, du fällst, komm herunter,« flehte Mieke inbrünstig.

»Mademoiselle 'änsken, Sie werden brecken le cou und gehen zu sterben,« mahnte auch Monsieur, seine kleine Clemence, die nicht übel Lust zeigte, es dem tollkühnen Ding nachzutun, fest an der Hand haltend.

»Weeß Knebbchen, tas Freilein Hänschen gäkelt Ihnen pestimmt herunder!« Es war ein kleiner kugelrunder Herr, der ebenfalls warnend in unverfälschtem Sächsisch seine Stimme erhob.

»Nu nä, Herr Gukelmann, sie gäkelt Ihnen pestimmt nicht herunder.« Der dreiste Backfisch wagte es, zum unverhohlenen Entsetzen der Pensionsschwestern, nicht nur Kätchen, sondern jetzt sogar ihrem Vater nachzuahmen. »Sie will tem Herrn Riepezohl ploß mal uff's Tach steichen.«

»Fenn der Herr Riepezohl nur nicht Ihnen selbst uffs Tach steichen tut, Fräulein Hänschen. Der Herr Riepezohl fird mit solch kleenen imberdinenden Packwisch schon werdig ferden. Der läst keine Klossen nicht ieber sich machen.« Herr Kugelmann sah dunkelrot aus. War es von der Anstrengung des Steigens, das dem korpulenten Herrn ganz besonders zu schaffen machte, oder von dem Ärger über den »imberdinenden Packwisch«?

Fräulein Gretl hatte mit Kätchen und einigen anderen die Führung übernommen. Es war gut, daß sie die Unterhaltung nicht mit angehört hatte, sonst hätte sie schwerlich Tante Klärchen, die mit ihrer Schwester von der Koppentour zurückgeblieben war, Gutes über Hänschen berichten können, wie diese es hoffte. Jetzt wandte Fräulein Gretl den Kopf nach den Hinterherkommenden.

»Hänschen, willst du wohl sofort von dem halsbrecherischen Felsen herunterkommen, langsam, ganz behutsam!« rief sie in höchster Erregung.

»Unkraut vergeht nicht!« Mit einem Satz war das tollkühne Mädel wieder auf festem Boden, glücklicherweise noch, bevor Vater und Mutter ihren Schreck weghatten. Als kleine Punkte tauchten sie einige hundert Meter tiefer gerade im Zickzack des Weges auf.

»Mutti – ach, Muttichen wird es gewiß sauer – ich hätte ihr doch nicht zureden sollen, von der Schlingelbaude noch weiter mitzukommen!« Ehe noch irgendeiner Einspruch erheben oder sie zurückhalten konnte, jagte Hänschen spornstreichs den Weg wieder hinunter, um der Mutter beim Aufstieg behilflich zu sein. Was machten den jungen Beinen ein paar hundert Meter aus!

Herr Kugelmann begriff es nicht, daß man den Berg, den er so mühselig emporgekrabbelt war, wieder leichtsinnig hinunterspringen konnte. Er dachte, daß der »imberdinende Packwisch« doch ein zärtlichkindliches Herz haben müsse. Seinem Kätchen wäre das wohl kaum eingefallen, denn diese war ebenso bequem wie seine Ehehälfte, die es vorgezogen hatte, drunten in Krummhübel zu bleiben.

Die Gesellschaft war inzwischen an einem niedrigen, breiten Felsklotz angelangt, den Fräulein Gretl als kundige Eingeborene ihnen als »Rübezahls Tisch« vorstellte. »Hier werden wir Frühstücksrast machen,« schlug sie vor.

»Fenn uns der Herr Riepezohl nur ploß keenen Bossen nicht spielt und ten Disch mit allem Kuten in ten Erdpoten versingen läßt,« meinte Herr Kugelmann, nachdem er zu Atem gekommen.

Die Mädel wollten sich ausschütten vor Lachen, besonders Kätchen.

»Meine kutesten jungen Tamen, lachen Sie nicht, fenn Se nachhär nichts zu peißen haben, tenn feinen Se.«

»Wer weint?« fragte Hänschen neugierig, die inzwischen, sorglich ihre Mutter führend, ebenfalls herangekommen war.

»Tu,« rief Kätchen, »fenn Riepezohl tir kein Friehsticksprot wegstipitzt, fir sitzen tir nämlich hier an Herrn Riepezohls Disch.« Kätchen hatte noch nicht ausgesprochen, da war das leckere Knackwürstchen, das der Vater ihr auf einem Pappteller soeben zugeschoben hatte und das sie gerade in den Mund spedieren wollte, von besagtem Pappteller verschwunden.

»Mein Gnagfirstchen!« Kätchen Kugelmann rief es mit kugelrunden, entsetzten Augen. »Epen hat es euch noch hier kelägen – das gannst nur tu gewäsen sein, Hänschen.«

»Ich?« Hänschen setzte eine beleidigte Miene auf. »Ich pin tir unschuldik fie a neikeporener Seikling. Setz' tich doch nicht an den Disch von dem Herrn Riepezohl mit teinem Gnagfirstchen.«

Sie hatte wieder mal, wie meist, die Lacher auf ihrer Seite, während das verfressene Kätchen ihrem verschwundenen Knackwürstchen einige stille Tränen nachweinte.

Aber die andern Mädel hielten es doch für angebracht, ihre Schinkenschnitten und Eier jetzt krampfhaft festzuhalten, damit Rübezahl sie nicht auf ebenso rätselhafte Weise verschwinden ließ.

»Uir uollen nehmen die papers all away, daß Mister Rubezahl is not angry,« rief Miß Pinshes, als die jungen Wanderinnen das idyllische Fleckchen, mit Eierschalen und Papierfetzen garniert, zurücklassen wollten. Auch Fräulein Gretl drang darauf, daß »Rübezahls Tisch« tadellos abgedeckt wurde. Mit Genugtuung bemerkte Frau Wallenberg, wie ihr huschliges Töchterchen hier zur Ordnungsliebe erzogen wurde. Was sie aber nicht bemerkte, war, daß Hänschen, die ihren Ordnungssinn so weit trieb, die Papiere hinter dem Knieholz zu vergraben, plötzlich der nichtsahnenden, neben ihr stehenden Mieke etwas Rotes in den Mund stopfte: »Ta, peiß ab – Gätchens Gnagfirstchen.«

»Also du warst es doch?« Mieke blieb das Stück Wurst, das sie pflichtgemäß abgebissen, beinahe im Halse stecken.

»Ih wo – Mister Rubezahl. Für den ist es doch ein leichtes, mir die Wurst auch noch in die Tasche zu zaubern.« Hänschens schwarze Augen lachten spitzbübisch. Dabei ließ sie sich das Würstchen auf Kätchens Wohl schmecken.

»Du, werde nur nicht wieder Hänschen Tunichtgut.« Mieke zog sie zärtlich am Ohr. »Sonst gibt's Schnicke.« Sie machte die Bewegung des Durchprügelns.

»Geliebtes Miekentierchen, heute kannst du mir schlesische Schnicke, Keile, Prügel, Haue oder sogar Berliner Wichse androhen, heute muß ich meinen ›Spick‹ haben.«

»Was willst du haben, Hänschen, Speck? Wir haben doch eben erst gefrühstückt?« verwunderte sich die Mutter, welche sich nicht satt sehen konnte an ihrem rosigen Mädel.

Die beiden brachen in unbändiges Gelächter aus. »Spick, Muttichen. Die Mieke ist halt a Schläsier Mädel und versteht am Ende nicht, wenn ich Spaß oder Ulk sage. Ich muß in ihrer Heimatsprache mit ihr reden.«

»Jetzt sollst du beim Steigen gar nicht reden, Hänschen. Das strengt an. Überdies ist es auch so wunderbar schön hier oben, wird mit jedem Schritt noch schöner, daß man diese herrliche Natur schweigend genießen soll.«

Wirklich, wunderbar schön war es hier oben in Rübezahls Reich. Zur Rechten gähnte in der Tiefe der große Teich. Tiefschwarz, unergründlich wie Rübezahls Auge. Darüber wellte sich der Gebirgskamm mit seinen wilden Felswürfeln, seinen mit Knieholz bestandenen Weiten. Goldene Sonnenfunken sprühten aus bräunlichem Grün, seltsame Pflanzen fristeten ihr kärgliches Dasein auf felsigem Grund. Tiefblaue Falter, mit dem Himmel droben an Bläue wetteifernd, umgaukelten leise im Sommerwind läutende Enzianglocken. Ein Ozon war das hier oben, ein würziger Duft – in tiefen Zügen mußte man ihn trinken. Die Jugend allerdings genoß das alles ziemlich unbewußt. Selbst die Größe und überwältigende Erhabenheit der Natur vermag fünfzehn Backfischmünder nicht zum Schweigen zu bringen.

»Kinder, seht doch mal, dort drüben am kleinen Teich sitzt mein Malerjüngling!« rief Hänschen plötzlich lebhaft. »Er malt Rübezahl in Essig und in Öl.« Sie ahnte nicht, daß die dünne Luft dort oben den Schall viel weiter trug als drunten im Tal.

Der Kunstjünger, der die kleine Teichbaude mit ihrem gigantischen Bergkessel auf seiner Leinwand festhielt, spitzte die Ohren. »Aha – die Küchlein aus dem Huhnschen Pensionat. Das war sicher Hänschen Tunichtguts Stimme. Famos! Solch kleine amüsante Unterbrechung kommt mir gerade recht.« Er zupfte den bunten Flatterschlips noch etwas unternehmungslustiger und sah nicht eher von seiner Arbeit auf, als bis ein wohlgezielter Kienapfel seine blonde Künstlertolle und gleichzeitig ein »shocking« der Miß sein Ohr traf.

»Das war Hänschen Tunichtguts Geschoß!« zitierte er lachend, frei nach Schiller. Er erhob sich, um die Damen zu begrüßen, während der Regierungsrat nicht gerade begeistert schien, daß der Ruhm seiner Tochter sogar bis in diese Bergeinsamkeit gedrungen.

Droben in der Hampelbaude gab es eine fröhliche Mittagstafel. Tische wurden zusammengerückt, fremde Touristen in heiterster Wanderlaune nahmen zwischen den fidelen Backfischen Platz. Die »Zillertaler«, allerdings nicht aus Tirol stammend, sondern nur aus dem schlesischen Zillertal, machten auf der Gitarre Tischmusik. Schließlich begannen die Backfische in der Enge der altdeutschen Trinkstuben, zwischen geschnitzten Holzstühlen, Zinnschüsseln und Humpen, Tellern, Bierseideln und Nagelschuhen, zu foxtrotten. Der Malerjüngling forderte Hänschen auf, die ihm nun mal in ihrer bubenhaften Keckheit von »allen den Mädchen so hold und so rein« am besten gefiel.

»Nee,« machte diese, »warten Sie bis nächstes Jahr. Ich lerne erst im Winter richtig tanzen.«

»Bis dahin sind mir Hände und Füße beim Malen hier oben eingefroren,« lachte Herr Weiß. »Ich komme heute abend auf die Koppe hinauf, da werde ich Ihnen Tanzstunde geben, Fräulein Hänschen. Dort oben wird jeden Abend getanzt.«

»Au, fein!« Hänschen zeigte ihre Freude über die in Aussicht stehende Tanzstunde ganz unverhohlen, was dem Kunstjünger durchaus nicht unangenehm war.

Die Jugend vergaß Ort und Zeit beim fröhlichen Tanz. Am liebsten wären sie überhaupt auf der gemütlichen Hampelbaude geblieben. Aber die Erwachsenen drängten zum Aufbruch, sonst erreichte man vor Dunkelheit die Schneekoppe nicht mehr.

»Mes dames, Sie wollen doch 'aben der Aufstehen du soleil demain in die matin.« Monsieur war es, der durch seinen Hinweis auf den Sonnenaufgang, welcher für die jungen Bergsteigerinnen den Knalleffekt ihrer Koppentour bildete, endlich zum Sammeln blies.

Mit frischen Kräften setzte man seinen Wanderstab weiter, trotz Miß Pinshes' shocking immer wieder die Taschentücher zurückflattern lassend zu dem Malerjüngling und den andern Touristen, die der fidelen »Pensionsherde« nachwinkten.

Steil aufwärts im Mittagssonnenbrand schnaufte und prustete der kugelige Herr Kugelmann.

»Weeß Knebbchen, ferdes Bubligum, der Herr Riepezohl läßt einen nicht schlecht gleddern und busten, bis man klicklich uff seiner Schneegobbe ist. Ich kliehe Sie fie ein Packofen.«

»Siehst du, Baba, ich hab' tir kleich kesagt, tas Gleddern ist kein Werknieken für tich. Färste toch lieper unden kepliepen,« ließ sich die liebevolle Tochter gleichmütig hören.

Hänschen tat Herr Kugelmann leid. Auch ärgerte sie sich über Kätchens unkindliche Äußerung. »Herr Gukelmann, warden Se, ich helw Ihnen uff de Schneegobbe ruff. Glauen Se mich kewälligst under – Miege, gomm uff tie antere Seide – so, nu käht es mit vereinden Wärtegräften.« Trotzdem Hänschen voll war von Mitleid mit dem armen, prustenden Herrn Kugelmann, mußte ihre Rangenhaftigkeit sich an dem verlockenden sächsischen Dialekt gütlich tun.

»Aber Hänschen!« sagte Mieke vorwurfsvoll und sah sich ängstlich um, ob auch Fräulein Gretl die Ungezogenheit nicht gehört habe.

Herr Kugelmann schwankte, ob er Hänschens in so ungehöriger Weise angebotene Hilfe nicht lieber ablehnen sollte, aber die Schwere des Aufstiegs ließ ihn doch den linken Arm in den Miekes legen und den andern in den des dreisten Backfischchens. Wirklich – jetzt war es halbe Arbeit. Hänschen war so getreulich um Herrn Kugelmanns Wohl besorgt, die bequemsten Stellen für ihn bei dem steinigen Weg ausfindig zu machen, daß der wohlbeleibte Herr es ihr nicht mehr übelnahm, als sie äußerte: »Bassen Se uff, Herr Gukelmann, Se gleddern uns jetzt wie eene Kemse de Schneegobbe ruff.«

Am Wege saß ein alter Bettler. Ein verhutzeltes, zerlumptes Männchen. Es schlief. Die pralle Mittagssonne, die auf seinen kahlen Schädel brannte, hatte ihn wohl eingeschläfert. Die Mütze, von unergründlicher Form und Farbe, hielt er zwischen den Händen, um darin kleine Almosen von den vorüberkommenden Touristen zu erbitten.

Herr Kugelmann, der wie ein Bummelzug alle paar Minuten Station machte, blieb wieder mal, neue Kräfte sammelnd, stehen.

Hänschen machte ein nachdenkliches Gesicht. »Man müßte eigentlich einen Ulk machen.« Sinnend blickte sie auf den schlafenden Bettler.

»Einen Ulk?« Mieke verstand sie nicht.

»Ja, etwa die Mütze von dem schlafenden Bettler den Melzergrund hinunterjagen, dann denkt er, wenn er aufwacht, Rübezahl habe ihm einen Possen gespielt.«

»Tas ist Ihnen een schlechter Riepezohlsbossen. Ter Peddler hat Ihnen nischt zu lachen, der praucht seine Gobbpeteggung.«

»Weest Knebbchen, da haben Se recht, Herr Gukelmann,« räumte Hänschen ehrlich ein. »Aber irkend etfas missen fir Ihnen ankepen. Halt – ich hab's. Wir füllen ihm seine Mütze mit Schokolade und Bonbons. Wir haben ja reichlich bei uns. Dann denkt er bestimmt, Rübezahl sei es gewesen.« Vor lauter Begeisterung vergaß sie sogar, sächsisch zu sprechen.

»Daran wird dem armen Mann kaum etwas liegen, Hanna,« meinte der Vater, der das letzte mit anhörte. »Tu ihm lieber einen Markschein in die Mütze. Damit ist ihm mehr geholfen.«

»Au ja! Wir tun ihm alle etwas in die Mütze, ich sammele für ihn.« Hänschen war gleich dabei. »Wenn er einen so großen Schatz plötzlich beim Aufwachen entdeckt, kann er gar nichts anderes annehmen, als daß Rübezahl, der schon manchem Armen geholfen, sich auch seiner angenommen hat.«

Der Bettler mußte einen gesegneten Schlaf haben, denn er schlummerte ruhig weiter, trotzdem Hänschens Stimme nicht gerade leise geklungen. Ja, er schnarchte jetzt sogar.

Inzwischen war Hänschen hinauf und hinunter, nach links und nach rechts, vorwärts und wieder zurück gerannt, von jedem ein Almosen für den Rübezahlstreich erbittend. Da waren sie alle lachend dabei. Ein jeder zog den Beutel. Es war ein ganz stattliches Sümmchen, das Hänschen als Rübezahl dem armen Mann in die Mütze hineinzaubern konnte. Aufgeregt faßte sie darauf mit Mieke ein Stückchen höher hinter einem Felsen posto, während die anderen weitergingen. Sie mußten doch das Erwachen beobachten, Gerade wollte Hänschen hinter ihrem Felsen »Juchhu« schreien, um das Aufwachen etwas zu beschleunigen, als sie bemerkten, daß der Schlafende mit einem plötzlichen Ruck den Zauberschatz ergriff, sorgsam zählte und rasch in seine Tasche verschwinden ließ, als könnte er ihm wieder genommen werden.

»Nu, do mecht man jo sprechen, das kann keen anderscher nä gewäsen sein als halt der gutte Herr Riebezohl,« sagte er darauf laut und lachte sich ins Fäustchen.

Hänschen und Mieke aber liefen eiligst hinter den anderen her, um ihnen von dem gelungenen Rübezahlstreich zu berichten.

Purpurrote, violette und orangefarbene Tinten goß die zur Rüste gehende Sonne über den Koppenkegel. Sie ließ die feuerrote Glatze des Herrn Kugelmann wie einen Edamer Käse erscheinen. Oh, es war ein saures Stück Arbeit, den fetten, kleinen Herrn das letzte steile Stück des eigentlichen Koppenkegels hinaufzubefördern. Hänschen und Mieke schafften es nicht mehr allein. Sechs Mann mußten Hand anlegen. So rollte man ihn, einer dampfenden Kugel gleich, aufwärts.

Und nun war man oben. Ein tiefer Atemzug – alle Anstrengungen waren vergessen. O Gott, war das über alle Begriffe schön! Der Riesengrund mit seinen gigantischen Bergabstürzen war mit flüssigem Abendgold gefüllt, als wäre er Rübezahls Schatzkammer. Weit sah man hinaus ins Böhmerland. Nach der anderen Seite dehnte sich das liebliche Schlesierland. Säuberlich wie in einer Spielzeugschachtel verpackt, so lagen die Ortschaften mit ihren winzigen Häuslein zwischen den karierten Feldern in der Tiefe, gebadet in ein ständig wechselndes Farbenmeer.

»Magnifique!« sagte Monsieur.

»Beautiful indeed!« die Miß.

»Herrjemersch nee, tas is Sie toch krate, als fenn unser Herrkott seinen Duschgasten ieper das Schläsierdal auskekossen hädde,« sagte Herr Kugelmann andachtsvoll.

»Wer das malen könnte!« Hänschen stand und schaute – schaute – und konnte sich nicht satt sehen. Sie merkte es gar nicht, daß sie ihre persönliche Freiheit dabei eingebüßt hatte. Daß auf der einen Seite die Mutter, auf der anderen die Miß angstvoll ihren Arm gefesselt hielten, weil sich das leichtsinnige Mädel zu weit vorwagte.

»Wir werden morgen früh einen großartigen Sonnenaufgang nach dem schönen Abend genießen. Um halb vier wird geweckt – dast keiner verschläft,« verkündete der Regierungsrat.

Es war gut, daß man bereits von Brückenberg aus Nachtquartiere in den Koppenhäusern bestellt hatte. Sonst wäre die Karawane wohl schwerlich untergekommen. Freilich, zusammenkriechen mußte man. Aber daß Hänschen im Zimmer der Miß untergebracht wurde, war geradezu eine Tücke des Schicksals.

»Mit dem Pinscher schlafe ich nicht in einem Zimmer,« erklärte sie den Pensionsschwestern, die ein wenig schadenfroh auf das schimpfende Hänschen blickten. »Miß Pinshes, ich schnarche entsetzlich. Sie können die ganze Nacht kein Auge zutun,« versuchte sie ihr Heil.

»Ich snark uie ein Maschin – well, uir snarken ein Duett.«

Das war ja recht tröstlich. Hänschen saßt bei ihrem Kaiserschmarren und brütete Rache. Rache dafür, daß man sie mit dem Pinscher zusammen einlogiert hatte.

Bei dem fröhlichen Beisammensein, das fast noch fideler wurde als auf der Hampelbaude, vergaß Hänschen allmählich ihre finsteren Absichten. Als Herr Kugelmann zum Dank dafür, daß man ihm so getreulich beigestanden, eine »Powle« brauen ließ, als auch der Malerjüngling auf der Bildfläche erschien, um Hänschen in die Mysterien des modernen Tanzes einzuweihen, da war sie wieder das quietschfidele Backfischchen.

Wenn es nach der jungen Welt gegangen wäre, dann hätte man nach den Klängen des verstimmten Klaviers bis Sonnenaufgang durchgetanzt. Aber Fräulein Gretl und Miß Pinshes trieben ihre Küchlein ins Nest.

Herr Kugelmann, der mit Monsieur und dem Malerjüngling das Zimmer teilte, wandte sich an der Tür noch mal neckend zurück.

»Nu lassen Se sich ooch was Scheenes dreimen, meine Tamen, und fenn Ihnen der Herr Riepezohl eenen Bossen andun will, denn prauchen Se ploß zu schreien. Tenn hier open auff der Gobbe, da treibt der Riepezohl kanz pesonters seinen Schapernack.«

»Aper Baba, mach uns toch ploßt nicht panke.« Kätchen war ziemlich furchtsam.

Die anderen lachten und versprachen, vom Herrn Rübezahl zu träumen.

Als Hänschen, die noch zum Gutenachtkuß im Zimmer der Eltern gewesen, ihr Zimmer betrat, setzte der Hausknecht gerade die Stiefel, die er geputzt, vor jede Tür. Die Miß schlief bereits. Wenigstens das zarte Adagio der Schnarchmusik ließ darauf schließen. Durch das unverhangene Fenster geisterte der Mond. Hänschen stand sinnend. Sollte sie auch geistern? Als Rübezahlgespenst dem furchtsamen Kätchen erscheinen. Der Gedanke hatte etwas ungemein Verlockendes. Aber in dem Zimmer von Kätchen schlief Fräulein Gretl – nein, da hätte Tante Klärchen davon Wind bekommen. Aber irgend etwas mußte geschehen. Hänschen war nach der Bowle in so angeheiterter Stimmung, daß es ihr ganz unmöglich erschien, auf der Schneekoppe zu sein, ohne irgendeinen Rübezahlstreich zu vollführen. Halt – Hänschen, die im Begriff war, ihre Stiefel vor die Tür zu setzen, machte in ihren kleinen roten Bettschuhen einen Luftsprung, daß der eine Schuh das Weite suchte. Halt – das ging. Nachdem Hänschen den Ausreißer glücklich eingefangen und sich davon überzeugt hatte, daß alles in den Zimmern war, und daß auch der Hausknecht nicht mehr zu sehen, begann sie ihren Rübezahlspuk. Eidechsenartig schoß sie von Tür zu Tür, sämtliche Stiefel und Schuhe, große und kleine, braune und schwarze, schmale und breite, graziöse und derbe, miteinander vertauschend. Herrn Kugelmanns plumpe Stiefel von fast viereckiger Form bekam die elegante Elli vor die Tür gestellt. Oder wenigstens einen davon, den anderen mußte unbedingt der Pinscher kriegen zur 5trafe, daß man heute nacht die Schnarchmusik mit anhören mußte. Nachdem Hänschen Tunichtgut so ihre Pflicht als Rübezahl getreulich erfüllt, legte sie sich beruhigt nieder und schlummerte trotz des jetzt zum Fortissimo übergegangenen Schnarchens der Miß sanft ein.

Erst die Faust des Hausknechts, die unbarmherzig gegen die Tür bumberte: »Halb vier – aufstehen zum Sonnenaufgang!« weckte sie.

Hänschen gähnte herzzerbrechend. Ganz im Ernst erwog sie es, ob es nicht vorzuziehen sei, die Sonne ohne ihr Zuschauen aus ihrem Wolkenbett kriechen zu lassen und gemütlich im eigenen Bett liegenzubleiben.

»Jane, you must come, the Sun ist gestanden auf before you,« trieb die Miß sie an.

Hänschen gähnte als Antwort.

My boots – nur noch the boots« – die Miß machte eine Bewegung zur Tür.

Mit einem Satz war Hänschen aus dem Bett. Die »boots« hatten sie plötzlich ganz munter gemacht. Holla – dem Jokus mit den verwechselten Stiefeln mußte sie unbedingt beiwohnen. Draußen auf dem Korridor hörte man bereits erregte Stimmen. Das war ja die des Herrn Kugelmann.

»Weeß Knebbchen, sind setkenn hier uff der Gobbe kanz und kar pestrambelt! Ta setzt mir dieses Gamel von Hausgnecht jo kar ein Baar Danzschuhchen vor de Diere – Beder – Garl – Baul – oter fie se nu heeßen möken – meine Stiewel – meine terpen Treckdreder fill ich hoben!« Herrn Kugelmanns Stimme überschlug sich vor Ärger.

»My boots are away – dear me, what a dreadful shoe – – –« Mit kläglichem Gesicht hielt die Miß den vierschrötigen Stiefel des Herrn Kugelmann in die Höhe.

»Is it not yours?« Hänschen machte ein scheinheiliges Gesicht und biß sich die Lippen ab.

»Mes souliers sont changés – portier – mes souliers – – – das war Monsieur.

»Meine Stiebel, aber 'n bisken dalli, die Sonne wartet nich – – –« sicherlich der Berliner, der gestern abend mit im Gastzimmer gesessen.

Dazwischen hörte man Quieken, Schimpfen, Lachen und Lamentieren – – – die Pensionsschwestern rissen sich gegenseitig die Stiefel aus der Hand, während der Hausknecht beteuerte, er hätte die Schuhe richtig vor jede Tür wieder hingesetzt.

Hänschen hatte ihr Taschentuch vor den Mund gestopft und erstickte fast vor Lachen. Sie war die einzige, die ihre Stiefel richtig vorgefunden hatte.

»Meine Herrschaften – die Sonne – die Sonne kommt – – – beeilen Sie sich!« rief der Wirt in höchster Aufregung hinauf.

»Ach Jemersch, mein Kutester, sagen Se ihr toch, se mechte kewälligst ploß noch finf Minuden farden – fir gommen Ihnen kleich,« rief Herr Kugelmann, Ellis kleinen Schuh auf seinem Bergstock balancierend.

Aber Frau Sonne dachte gar nicht daran, auf »Herrn Gukelmann aus Trästen« zu warten.

Die blinzelte über den Schmiedeberger Kamm herüber, und da – war sie auch schon. In strahlender Schöne. Mit blendend goldenem Strahlenhaar erschien sie in einem Gewand von tausenderlei verschiedenen Farben. Da stand sie droben am erglühenden Himmel und lachte – lachte – – – geradeso wie Hänschen Tunichtgut. Sie lachte über die durcheinanderhastenden Menschlein auf der Schneekoppe, die ihrer Toilette hatten zuschauen wollen und mit der eigenen zu spät fertig geworden waren. Sie lachte über die schönen gelben, roten, braunen, blauen und grünen Schuhe und Pantoffel, die sie zu sehen bekam, über all die mißtrauischen Blicke, die Hänschen Tunichtgut streiften, und über »Herrn Gukelmann aus Trästen«, der sich gar nicht beruhigen konnte:

»Weeß Knebbchen, ferdes Bubligum, uff den Gobbengekel zu gleddern, das ist Sie eine beese Sache. Tenn fer hat uns den Stiewelbossen kespielt – nu, tas far Se toch nadierlich keen anterer nich, als ter Herr Riepezohl!«


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