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Der Feldkönig war nach seiner schlaflosen Nacht nach Tannenfreygg gelaufen und hatte das Ereignis gemeldet. Man möge ihm die Störung und so weiter verzeihen; auch habe er, wie sie wüßten, bis vor kurzem keine Partei ergriffen, – aber in diesem Fall hielte er es für seine Pflicht!
Die drei Weisen von Tannenfreygg standen da, als hätte sie der Gehirnschlag getroffen. Bis Lorelock darauf kam: »Du hast dich getäuscht!« Aber er sei ja mit ihr zu Tische gesessen! »Ich trat ein, abends, – da, was sehe ich? –«
»Dann hättest du bleiben sollen!« brüllte Lorelock in der Wut über des Feldkönigs Dummheit.
»Bleiben?« erwiderte der verzweifelt, denn dieser Vorwurf saß. Wie stellte sich Lorelock das vor? –
»Fräulein Judith kommt da!« bemerkte Pius Vesper mit leiser Stimme.
Richtig, da kam Fräulein Judith daher. Und nun stoben sie auseinander, ein jeder schoß auf sie zu: »Fräulein Judith, was für ein Schlag!«
Nun könne man wetten, alles ist verdorben! So ein Teufel von Weib macht den Mann in einer einzigen Stunde ohnmächtig!
Die Leute in Buchenfreygg hätten den Kopf verloren, man müsse einen Aufstand, eine Art Revolution erwarten, – etwas derartiges schwebe in der Luft!
Fräulein Judith kenne Heinz Heide vielleicht am besten! Was sollte man tun? Was rate sie? –
Aber Fräulein Judith, die von gestern noch nicht genesen war, wurde bleich und verwirrt. »Ich weiß nicht!« sagte sie. »Ich weiß wahrhaftig nicht,« und ließ die vier Ratlosen mit dem Bleigewicht auf dem Gemüte stehen. Sie trat in die Kirche. –
»Gott, Gott, Gott!« betete sie. Schrecken, Angst, Tränen, Ohnmacht schüttete sie aus. Sie rang die Hände: »nimm die Sünde von mir!« Heilige Versprechen gelobte sie.
Von draußen kam das Leben süß herein. Die Sonne fiel in die Kirchenfenster und machte das Pflaster bunt, und eine Amsel sang aus dem Morgenwind. ›Bete, damit ich zu dir komm!‹ sagte das Leben.
Nein, darum wolle sie nicht beten. Gewiß nicht. Gott möge alle Hoffnungen in ihr täuschen und ihr jedes Glück versagen, – aber ihn möge es nicht am Rande der Umkehr wieder mit Blindheit schlagen! Das allein bete sie!
Aber, siehe da, Gott hörte sie heute nicht. Er war ferne, bleich, sie fand ihn nicht. Aus aller Inbrunst floß keine Kraft, zu hoffen, kein Zeichen der Erhörung. »Gott, Gott, Gott!« rief sie. Er blieb stumm. –
Und während sie Gott suchte, – er mußte da sein, sie wollte an den Geist denken, der allgegenwärtig herrschte und bereit war, die Stimme eines jeden zu vernehmen, – ging Heinz Heide, von der Stadt zurück, durch den Euseberwald. Langsam ging er, eine köstliche Ruhe war in ihm; alles betrachtete er. Er sah, wie die Sonne aus dem Wald in den Freyggerhimmel kroch, und nun fiel plötzlich das Leben auf alle Erde nieder.
Ein jeder Baum im Walde erzitterte. Er griff mit den Zweigen in den Nachbar, der Wald links in den Wald rechts, bis das weiterging wie eine goldengrüne Fahne, die von Osten nach Westen weht voller Freude.
Sodann die Zäune, die wie goldene Grenzstäbe Wald und Wiesen schieden. Kaum daß die Sonne sie warm machte, knisterten sie, und nun setzten sich die Blaumeisen darauf. –
Da kam er nun aus dem Walde hervor und blieb stehen: ha, da blinkte sein Haus! »Willkommen, willkommen!« rief es mit dem kirschroten Dach und den weißen Flügeln, es wollte nicht mehr warten auf dem grünen Rasen.
»Ich komme!« lächelte er, aber er ging deshalb nicht schneller. Denn es war wunderbar, durch die Wiesen- und Saatenfelder aufwärts zu wandern und zu betrachten, wie sie mit der Sonne taten. Sie schwollen unter ihr auf und rollten nun vor und rollten zurück, und da kamen ihre zwei Sehnsüchte zum Wort, die eine, weite, nach dem Himmel, und die zweite, feste, nach der Erde.
Und als er den letzten Hang erstiegen hatte, und da lag Buchenfreygg rechts in der Sonne und Tannenfreygg links in der Sonne, ging er noch immer langsam. Er maß den unendlichen Himmel, der über den Gletschern im Westen sich dunkelblau aufspannte und über Tannenfreygg wie eine Kappe niederfiel, und staunte wie ein fremder Wanderer über das Land unter diesem Bogen: das alles war seine Heimat! –
Wie er in einer stillen Freude über den Lindenplatz schritt, sah ihn die Monika. Sie prallte vom Fenster zurück, auf der Treppe stieß sie mit ihm zusammen: »Herr, Herr, die Dame ist im ganzen Hause nicht zu finden,« jammerte sie, »und das Zimmer ist leer!«
Heinz Heide lächelte. »Die Dame ist fort,« sagte er. »Bei Tagesanbruch ist sie fort.« Die brauche man nicht mehr zu erwarten.
Er ließ die Verblüffte stehen und sah nicht, daß sie ein Kreuz schlug. Aber er hörte sie aus dem Hause lärmen und lächelte.
Durch alle Stuben wanderte er dann mit einem eigenartigen Gefühl. Er betastete dabei viele Dinge zum ersten Male. In manchen Stuben war etwas Altväterliches, in manchen lag Hauch von Arbeit und schweren Tagen, und in allen glänzte ein Frauenbild.
»All das war gestern schon dagewesen,« lächelte er, »aber ich nehme erst heute davon Besitz.«
Auf jeden der drei Söller trat er und nahm Besitz über jeden Landstrich. Dabei verfuhr er wie ein Geiziger, er vergaß keinen kleinen Baum. »Alles ist mein!« lächelte er.
Aus dem Hause trieb es ihn in den Wald. Aber obwohl jeder Zweig soviel Freude zu haben schien wie er selber in der Brust hatte, und alle Dinge ihm das zuredeten, was sein stummes Gesicht dachte, der Wald und die Elfwiesen konnten ihm nicht abnehmen, was tief drin in ihm redete. »Auf den roten Stein!« sagte er.
Dort war um einen Fels nichts als Erde und Luft. Ein neugeborenes Auge konnte da mit der ganzen Welt Zwiesprache halten, von allem, was war, sah es da einen Teil.
Die fernsten Berge, morgendunstblau, redeten mit ihren weißen Schultern von Starke und Ewigkeit. Das Tal unter dem flüsternden Abgrund von allem, was dem Menschen geschehen kann. Und die Erde zu allen Seiten sprach wie eine zärtliche Mutter.
Sah er aber zum Himmel auf, so predigte der die köstliche Freiheit der an der Seele Genesenen. Siehe, sagte er, hier ist das Meine, und siehe, hier ist das Große. Es steht das Wunderbare neben dem Alltäglichen, und ich weiß, an allem findest du gleichen Gefallen!
Auf dieses Wort des blauen Himmels hin flatterten, flogen und krochen die Wunder in unerschöpflicher Fülle vor Heinz Heide hin. Wohin er blickte, das neue Auge sah alles neu, als wäre vor dem Heute nichts gewesen und in einer Nacht alles geworden. Und was gestern ein verflogener Same gewesen, war nun ein Wunder.
»Es ist, wie Severin sagt,« bewunderte er still, »alles ist ein Wunder!«
Aber was das Schönste war, von den östlichen Wäldern flog ihm eine geheimnisvolle Botschaft zu, und noch während er sie lächelnd vernahm und sich rüstete, ihr zu folgen, fingen Luft und Erde und alle Teile der Schöpfung sie auf und stimmten ihr zu: »Ja, ja, Heinz Heide!«
»Verschenke! Verschenke!« rief die Welt in steigendem Sonnenglanz. »Werde reich! werde reich!« posaunten alle Teile der Schöpfung.
Da wurde er ungeduldig. Er lief abwärts wie ein gieriger Jäger und sein Gesicht wurde jung, wie es nie gewesen. Denn Wildnis und Wüste auf seiner Scholle baten um seinen Arm, und das Waldland, das seine Jugend gehütet hatte, um sein Erinnern. Und als er willenlos auf jenen Platz zukam, wo Fräulein Judith gestern gezittert, hörte er die Welt zusammen mit seinem Jubel rufen: »und mir gehört dein Leben!«
Und nun flog er. –
»Ich will den Mattä haben,« rief er der Monika im Hausflur zu.
Er setzte sich oben vor seinen Schreibtisch und zog aus der Lade ein Bündel vergilbter Papiere. Dabei lachte er wie einer, der einen Streich oder einen ausgekopften Betrug spielen will, vor sich hin und las ruhig weiter, als der Mattä eintrat. Er ließ ihn unbekümmert stehen.
»Herein,« stand er auf, denn es klopfte dreist.
Der Feldkönig flog ins Zimmer. Wohl wehrte ihm die Anwesenheit des Mattä den vollen Ausbruch seiner Freude, aber sie sprudelte doch über Heinz Heide her wie ein Wasserfall, und jede seiner Bewegungen war verklärt von einer seligen Erwartung. Jetzt, war er erregt, jetzt ist auch meine Zeit gekommen! Heinz Heide sehe er unversehrt, ja auferstanden; »wohlan, nun denke ich auch an mich, nun will auch ich –«
»Wie?« tat Heinz Heide wie vor einem Irren. Da bemerkte der Feldkönig, er habe zuviel vor fremden Ohren und zuviel vor befreundeten gesprochen und schob sich mit einem tiefen abschiednehmenden Blick aus dem Zimmer. –
»Er ist ein Narr!« bemerkte Heinz Heide zum Mattä. Aber, damit er zur Sache komme: »es ist mir etwas sehr Unangenehmes passiert! Um kurz zu sein: Mein Bruder hat bei der Erbteilung einen Schrank mitgenommen, – mit anderen Sachen, – und gestern kommt – seine Frau und bringt diese Papiere!« –
»Es ist,« lachte er verlegen, »wie in einer erfundenen Geschichte. Zwar kein Geld und kein Schatz in dem Schranke, – aber immerhin, – vorgestern wird der Schrank zufällig geöffnet, und es fallen diese Papiere heraus!« –
Noch verstand der Mattä nichts.
»Und das ist nun das Bedauerliche: diese Papiere enthalten eine Art Testament meines Vaters, – und das wurde bis heute nicht vollstreckt!« – Es stehe nämlich darin: die Freyggerhöfe sind von meinen Erben den darauf Sitzenden ins Eigentum zu überlassen. Ausgenommen der Wald, an dem sie aber vollen Nießbrauch behalten, – und das unter der einzigen Bedingung: sie dürfen die Höfe nicht verkaufen. –
Der Mattä begann jetzt zu zittern, und Heinz Heide beschleunigte sich daher. Sie hätten durch den verfluchten Schrank zwar fünf Jahre verloren, – aber, – kurz und gut, nun rufe er die Leute zusammen und bringe es ihnen bei: »Das Weitere besprechen wir später.«
Aber jetzt ließ ihn der Mattä nicht aus der Tür. Er pflanzte sich vor ihm auf, – »das heißt also, keinen Zins mehr?«
»Zins, Zins, Zins! – Eigentum! Haus und Hof und was dazu gehört – den Wald ausgenommen, sage ich! – Eigentum. Vererbliches Eigentum!«
Der Mattä kroch ihm glotzäugig an den Leib, diesen Herrn mußte er betasten, der war nicht bei Trost. Aber Heinz Heide steckte ihm sein Gesicht entgegen, das sei kein Witz! »Wie ich es sage: Eigentum! Gehe und sage es den Leuten!« –
Er riß aus, um des Himmels willen, der Mattä durfte ihn nicht einholen! Schleunigen Schrittes ging er durch den Tannenfreyggerwald, »es ist alles erlogen,« lachte er, »aber sie merken es nicht!«
»Pius Vesper!« rief er vom Sonnenpflaster empor.
Auch der kam wie der fröhliche Mond an die Haustüre. »Was führt Sie her?« breitete er die Arme aus.
Heinz Heide mußte diesmal die Geschichte vom Schrank gesenkten Blickes vortragen, es kam ihm unmöglich lächerlich vor, daß einer sie glauben könnte. Aber auch Pius Vesper glaubte sie aufs Wort; er wurde rot, er wurde bleich, er stand auf, – »meine Erben haben gegen die Mißbräuche auf dem Friedhof einzuschreiten und zum Neubau eines Schulhauses zehntausend Gulden aufzuwenden,« hörte er, – dann fiel er auf den harten Sessel nieder.
»Das Geld ist bei mir!« weckte ihn Heinz Heide und lief davon. –
»Ah,« lief er dem Widum zu, »sie werden darauf kommen, vielleicht abends schon! Aber es ist mir gleichgültig, vollkommen gleichgültig!«
»Herr Pfarrer! Herr Pfarrer!« rief er vor dem offenen Tore.
Der Pfarrer flog in den kühlen Hausgang wie der heilige Franziskus. » Fili desiderate!« rief er, er wollte Heinz Heide an seinen Talar drücken.
Und nun, zum drittenmal, log Heinz Heide bereits mit behaglicher Gründlichkeit. Er beschrieb Schrank, Papier, den Zufall; es brachte ihn keineswegs aus dem Konzept, daß der Pfarrer die Hände gen Himmel hob und in beschwörendem Tone ausrief: hier sehe man Gottes Weisheit und die Blindheit des menschlichen Urteiles, »die Werke, die im Verborgenen geschehen,« usw. Er erläuterte sogar ausdrücklich, welche Stickerei das Meßkleid, das Ziborium und das Velum haben sollten, und daß die silbernen Leuchter das Wappen zu tragen hätten.
Und zum Schlusse brach er in ein lebhaftes Bedauern aus: »Fünf Jahre,« sah er den fassungslosen Greis an, »hat die Kirche verloren, bis ein Zufall –«
»Aber doppelt, nein dreifach gewonnen!« beteuerte der flammende Tobias Weiße. Er wollte erklären, wie er das meinte. »Ihr Vater –« rief er hellsehend, – aber weiter brachte er es nicht, denn das war eine göttliche Fügung! Er sah mit feuchten Augen dem Eiligen nach. –
Der zog, ohne links und rechts zu schauen, gegen das Eschentor hinaus. Seine Brust jubelte: überall Sonnenschein, Sonnenschein ringsumher! Und ein Gefühl in der Brust: »Ich werde sagen: du, sei nicht erstaunt, wundere dich nicht! – Nein, ich werde sagen: staune, staune, – ich kann es selbst nicht begreifen!« –
Aber da blieb er schon stehen! Sein Herz pochte: du träumst! Du träumst, pochte es erschreckend, sie erwartet dich nicht! Keineswegs! »Ich komme hin mit einem siegreichen Gesicht – Was wollen Sie? wird sie mich fragen!«
»Sie kennt mich zugut!« –
Schreckliche Dinge fielen ihm ein, alle zusammen, nun ging er furchtsam dahin. »Sie weiß alles von mir; jawohl, sie sagte nie etwas, – aber das von der Dame, und – das vom Brande –« –
Er rannte wie gepeitscht. »Das vom Brande! Sie wird sagen: wie kommen Sie nur dazu, Sie, Sie –?« –
Es wurde ein fürchterlicher Tumult in ihm. Er mußte vom Wege abbiegen, es könnte ihn jemand so sehen, und überhaupt: das mußte ganz durchdacht werden, »dazu brauche ich Zeit! Zeit!« –
»Aber, ich gehe doch!«
»Ja, ja, ja!« rief der dichte Wald, in den er abirrte. »Nicht wahr, nicht wahr?« dankte er.
Ja, und wenn sie Nein sagt –? Aber er gehe doch! Geschehen müsse es!
»Ja, ja, ja!« rief der blaue Himmel.
»Nicht wahr? Nicht wahr?« Nun stellte er sich getreu Fräulein Judiths Bild vor die Augen; ha, dieser Mund war gütig, hatte der jemals ein böses Wort gesagt? Um zu erlösen, sagte er gestern, – ja, und woher wäre gestern dies Zittern und diese Angst gekommen, wenn nicht –?
»Und ich werde niederknien vor ihr, ohne weiteres, wo sie es befiehlt. Befehlen Sie, werde ich sagen, –«
»Ich gehe doch! Ich gehe doch!«
Er trieb sich eilig durch den dicken Wald auf den Weg zurück. »So wahr mir Gott helfe, alles will ich ihr sagen! Ich bin eitel, hoffärtig, falsch und charakterlos! Ich bin ein rücksichtsloser, barbarischer Mann, schreckliche Dinge waren auf meiner Brust –«
»Verzeihe,« werde ich niederknien, »laß mich deine Hand küssen!«
»Ich werde bitten und flehen, solange bis sie mir sagt: –« –
Jetzt ging er schnell den Weg hinaus. Er sah im Geist, wie sie sagte: ›ich verzeihe dir!‹
Aber er werde auch das Letzte sagen! »Ich werde sagen: etwas Fürchterliches habe ich getan, – ich war von Sinnen – vielleicht!« –
Da war der Wald zu Ende, das Eschentorhaus stand auf seinem Hügel.
Er schlüpfte hinter einen Strauch. Das Herz klopfte zum Springen: nein, ich gehe nicht, ich gehe nicht, ich gehe nicht!
Und nun, obwohl er bat: rede, rede!, redete der Wald kein »Ja, ja, ja!« und der Himmel auch nicht!
Das war fürchterlich! Es machte Heinz Heide mutlos, er warf sich aus dem Busch: ich gehe nicht! Nein, ich gehe nicht! – –
Da sah er Judith aus dem Hause treten, nur einen Büchsenschuß ferne. Sie spannte den grünen Sonnenschirm auf und ging den Hügel hinab.
Und da tat er es schnell, drei Himmelsschlüssel standen im Wiesenraingrase, die pflückte er. Dann richtete er sich gerade empor und ging ihr nun ruhigen Schritts entgegen.