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Pius Vesper saß im Nachmittag vor dem Schulhaus in Tannenfreygg und blickte finster gen Buchenfreygg hinüber. Er hatte einen bösen Tag, es erheiterte ihn weder die Sonne, die warm auf dem Walde lag, noch das Wunder des Kirschbaumes, der vor ihm stand und in frühlinglichten und sommersatten Blättern und dunkelroten Früchten drei Jahreszeiten vereinte.
Er hatte einen bösen Tag, seine zornigen Gedanken ließ er hier in der Sonne brüten, es tat ihm wohl, sie noch wilder werden zu lassen. Seine zornigen Gedanken waren dreifacher Natur: die Welt ist unaufrichtig; sie ist schmutzig; niemand nimmt sich die ehrliche Mühe, sie von der Lüge und vom Unrat zu befreien.
Dieser letzte der zornigen Gedanken Pius Vespers ging von seinem finstern Auge wie in einer Schußlinie nach Buchenfreygg hinüber, kam wieder zurück und verbohrte sich in das Schullehrergehirn. Nun nagte es mißtrauisch an jedweder Menschenseele. Was hieß es, König zu sein oder Präsident oder so weiter? Hieß es nicht: du hast die Aufgabe, mit einem Stahlbesen in den Kot zu fahren und unerbittlich zu scheuern? – Die Priester waren die Verkünder des Evangeliums. Waren sie es? Stritten sie nicht, die Priester, dachten sie nicht an Herrschaft, mieden sie nicht das bescheidene Los der Jünger, fraßen sie nicht Größenwahn über ihre außerordentliche Mission in sich hinein? – Die Soldaten, trara, bumbum, was taten die? Zuerst preßten sie Vätern und Müttern die Not in die Knochen, stahlen ihnen Arbeit, säuerten ihnen das Brot, und dann, wie zur Ironie, rissen sie ihnen für eine lumpige Kolonie, für die Dummheit eines Diplomaten das allerletzte Mark aus den Knochen; ad majorem dei gloriam. – Die Beamten saßen auf ihren Drehstühlen und soffen Tinte; in fliegenfangender Muße überlegten sie, wie der Staat am raffiniertesten zur Schikane, und die Bürger zu geduldigen Lämmern auf ihrer Menschenrechtswiese gemacht werden könnten. In streberischer Absicht erstickten sie in ihrem Innern das Gehör für jedes moralische und hungrige Elend. – Die Reichen, die taten nichts. Sie machten das Kapital, mit dem sie die Arbeitenden zerschlugen. Die Adeligen spukten in durch Generationen vererbter Beschränktheit, – die einzige Eigenschaft, die an ihnen nicht degenerierte, – auf alles, was nach Schweiß, Genie oder Freiheit roch. – So blieb wahrhaftig nur der Proletarier, der für diese alle, vom ersten angefangen bis zum letzten, seine Hände rot und gemein machte, frei von der Lüge und vom Schmutz, denn er allein besaß die Macht nicht.
Und außerdem war es so: den Schmutz brachte der Mann in die Welt, die Lüge das Weib. Stellt einen Mann einsam herein! Er bleibt aufrecht! Er fürchtet Löwen und Krokodile nicht, er heult nicht einmal vor dem Tod. Gebt einen zweiten dazu: sie vertragen sich oder auch nicht; aber sie trachten einander nicht meuchlings nach dem Leben. Und nun stellt ein Weib dazu! Schon am nächsten Morgen ist keiner mehr ehrlich! Was wollte ich sagen, wenn sie Schnaps tränken und einer den andern im Rausche erschlüge! Aber nach vierundzwanzig Stunden sind sie benebelt von dem Duft, den das Weib schlangenäugig ausschickt; und weil nun keiner dem andern diesen höllischen Duft gönnt, kriechen sie voreinander, verleumden einander, werfen Gewissen, Ehre, Freundschaft hinweg, – werden Bestien in vierundzwanzig Stunden!
Freilich, – und nun setzten sich die zornigen Gedanken Pius Vespers wie zahme Hündchen neben ihn auf die Bank, und sein Blick bekam einen feuchten Erinnerungsschimmer, – es gibt Ausnahmen! Aber – lohte der Blick gegen Buchenfreygg wieder, – aber!
Die geballte Faust sank wie ein weicher Schwamm nieder: Fräulein Judith ging drüben am Ackerraine. »Ja, es gibt Ausnahmen!« lachte Pius Vesper, »auch die ist eine!« –
Da kam unerwartet der Pfarrer in den Schatten des Kirschbaums. »Sieh da, sieh da,« bellten Pius Vespers Hündchen besänftigt, »Tobias Weiße!« Denn auch Tobias Weiße war eine Ausnahme von der Schlechtigkeit der Welt. Er nährte sein Alter von Gerstenbrot und einem Sauremus, den kein Weinbeißer nur eine Sekunde im Munde ließ, und hielt sein geistliches Amt fern von jeder Präpotenz.
Gütig war er und milde, sein Thema war der baldige Tod, und daß dann ein welscher Kaplan komme. Hierbei tröstete man stets, man schlug die Hand auf den Tisch oder auf die Schenkel: in einem solchen Fall gäbe es Revolution unter der Freygger Christenheit! »So wahr mir Gott helfe!« pflegte man da zu sagen.
Die Hündchen Pius Vespers redeten artig zum Pfarrer, und als er auf das Thema kam, begannen sie drohend gen Buchenfreygg zu heulen. »So wahr mir Gott helfe!« – Und als der Pfarrer davonging, blickten sie ihm gedankenvoll nach und zählten die Häupter der Ausnahmen von ihrem Zorn. Da kam eben das dritte! Sie wurden kreuzvergnügt, denn Lorelock, dieser spießbürgerliche und falschlose Germane, der donnern konnte wie ein anziehendes Gewitter, wenn die Nation in Gefahr war, und lächeln wie ein Bräutigam, wenn seine blonde Susanne in die Sehweite kam, der zählte für ein Dutzend. Auch war er einer, der mitschimpfte! Er setzte sich zu einem auf die Bank, sein Gesicht war wie der Zorn Jupiters, sein Schweigen wie eine fürchterliche Drohung. Man konnte es an seiner pulsenden Schlagader sehen: auch er verdammte, fluchte und lästerte gegen das Haus da drüben in der Sonne, man fühlte ein gemeinsames, heißes Band zwischen sich und ihm; das tat wohl.
Plötzlich aber gebar sein Schweigen ein berstendes Wort: »Man muß ein Ende machen da drüben!«
Das zitterte in der Luft, in den Wald hinein trabte es, die Hündchen erhoben sich schweifwedelnd. Aber da wandelte eben die vierte Ausnahme, langstelzig, vor innerer Freude grinsend, heran, und sie duckten sich. Mochte es wahr sein, daß der Mann, der, wie der Mantel voll Halmhaaren zeigte, aus dem Heu kam, keinen Charakter besaß und Gutes und Schlechtes in einen milden Topf warf, – das Herz saß ihm auf dem rechten Fleck, und so war er willkommen.
Es war aber ein Unglück, daß der Feldkönig die Unvorsichtigkeit besaß, hier ohne weiteres die Stimmung und Überzeugung der anderen zu mißachten und von seinem gestrigen Abendspaziergang »mit dem Weibe Heinz Heides« zu erzählen. Er erzählte wie ein glühender Phantast, wie ein Ungläubiger, den ein Frauenaugenpaar im ersten Moment bekehrt hatte, wie ein Verteidiger angegriffener Freundesehre, – »ich verstehe, daß er uns nicht mehr braucht, –« stellte er fest, – »das Glück macht ihn schweigsam.«
Nun waren Pius Vespers Hunde freilich nicht mehr zu halten. Sein Rothaar flog, seine Augen funkelten und seine Arme fuchtelten gegen die entrückte Verklärung des Feldkönigs. Und Lorelock knurrte; wie ein Löwe knurrte er, jedes einschlagende Wort Pius Vespers begleitete er mit gefährlichem Knurren: ich werde den Käfig durchbrechen! Was? Was sage der Heuhupfer? Hihi! Jeder Laie im Weiberfache unterscheide, daß die Dame in der aufreizenden Fahne eine Dirne sei, »in der Stadt nennt man sie Konkubine.« Und jeder Almbub sehe auf den ersten Blick, daß der Herr Heide an ihrem Bande zappelt wie eine auf dem Leim gebliebene Fliege. Hihi! Haha! »Und das kann man sagen, daß, wenn dieser Herr weiter den welschen Grafen spielt und alte Freunde hinaus komplimentiert, – so, – so
»Es ist ein Skandal!« sprang Lorelock empor. »In deinen schmutzigen Mantel hinein schäme dich, zu dem Gesindel zu halten!«
»Eine Gemeinheit!« kletterten Pius Vespers Hündchen am furchtsamen Feldkönig empor, »ich sage – Pfui! sage ich, – Pfui! –«
Da lief der junge Mattä ihnen mitten dazwischen. Er mußte entsetzlich gelaufen sein, er war puterrot und keuchte wie ein Wallroß. Der Herr lasse bitten, der Doktor möge sofort – »das Kind ist krank!«
»Hoho!« sprang ihn Pius Vesper an. Aber der Bursche konnte nicht mehr. »Sehr gut! Sehr gut!« höhnte Pius Vesper und klopfte Lorelock auf die Schultern. Aber er erlebte die fürchterliche Enttäuschung: Lorelock ging ohne weiters gegen den Wald hinein.
»Doktor!« rief er ihm entsetzt nach und wechselte die Farbe.
Da verzog sich auch der Feldkönig, dem die Angst wegen des Kindes aufstieg, und nahm den Mattä am Arme mit. –
Und nun stand Pius Vesper wie ein Baum und blickte ihnen nach. Sein Gesicht war nun eigentümlich fahl. Als sie aber im Walde verschwanden, fiel er auf seine Bank nieder und seine Augen wurden stier. Und nun saßen auch seine Hündchen wieder da und bellten und geiferten und brüllten. Es war alles umsonst, die Welt war Schmutz; sie war Lüge; es gab keinen ehrlichen Willen, sie zu säubern, – und es gab hiervon keine Ausnahme!