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20

InitialIn dieser Nacht aber verbrannte Heinz Heide das Briefchen, und es wäre zu wünschen gewesen, daß Fräulein Judith und Lorelock das gewußt hätten. Denn Lorelock schalt in dieser Nacht sein Weib grundlos eine Xantippe, und Fräulein Judith hatte Herzklopfen.

Nur der Feldkönig, dem Lorelock und der Lehrer niemals ein Geheimnis anvertrauten, witterte den Brandgeruch des auflodernden Briefchens, und seitdem wagte er es, wie ein Ring sich um Heinz Heide zu schließen. Ein frühlingstriebstarkes Freundschaftsgefühl, aufgepfropft auf die Dankbarkeit für die neue Gastfreundschaft, stieg aus seinem treuen Gefolge dem Friedlosen auf, und Heinz Heide nahm es wortlos entgegen.

So begleitete die hoffnungsvolle Seele des Feldkönigs ihren Herrn allmorgendlich in die Verwalterhäuser; neue Öfen müssen herein, eine Wendeltreppe war zu machen, konstatierte er. Er fuhr nach Heinz Heide allen Laasterkindern die strohgelben Scheitel ab und sagte täglich, und ganz gleich wie Heinz Heide, der Kiebitzin: »Ein strammer Junge!« – er werde für ihn sorgen.

Er stand hinter allen Besprechungen Heinz Heides mit dem neuen Verwalter. Er nickte den Kopf zustimmend, wie interessierte ihn alles! Er lächelte, als Heinz Heide den Matthä anwies, vorerst ein Inventar aufzustellen und hiebei besonders die Schulden nicht zu vergessen.

Auch stand er hinter Heinz Heide, als dieser der Monika ein Zimmerchen im Herrentrakte anwies, er drückte ihr die Hand; »was ist da zu danken?« winkte er ab.

Und doch war der Feldkönig keineswegs verträumt um diese Zeit, nein, er lauerte um alles Wirtschaftliche wie ein gieriger Eleve herum; sein Herz machte Pläne.

Wie war das gewesen? Er hatte Fräulein Judith ein winziges Orangenbäumchen mitgebracht, seine Wurzelchen hingen in echtitalischer Erde, und eines Morgens, im verbergenden Epiphaniendämmern, überreichte er es ihr. »Es ist von Miramonte,« flüsterte er dabei; und wollte ihr eben ein Riesenmosaik von Miramonte in die Luft malen. Da sagte sie, eigentlich sagten es ihre schlanken Hände, die das Bäumchen entgegennahmen: »Daraus muß ein Baum werden, Severin; Sie müssen mir helfen, ihn aufzuziehen.«

Und dabei hatte sie ihn angeschaut, daß sein Wander- und Träumerleben schnurstracks in tausend Scherben ging.

Seitdem war der heiße Plan in seinem Herzen. Wenn er allabendlich mit Heinz Heide im Nordzimmer saß, draußen zausten die Stürme die Luft auf, die ausgeraubte Erde zuckte, stöhnte, über den Bergen aber glommen flüssighelle Nächte, rumorte sein Herz.

»Ach,« versuchte er eines Abends, er wollte das süße Feuer ausgießen vor Heinz Heide. Aber Heinz Heide hörte gar nichts.

Einen zweiten Abend: »Herr Heide,« extemporierte er, »Sie haben mich in Ihr Haus aufgenommen. Habe ich schon einmal gedankt?«

Als Heinz Heide lächelte, wurde der Feldkönig ein Sänger. Er nahm nun sein Leben in die Hand, eine Saite klirrte: Sonnenschein, eine Saite klirrte: Schatten.

Das Instrument fügte sich.

»Ich war nirgends zu Hause,« klagte es.

Seine Mutter sei ein landstreichend Ding gewesen, Frank, der Bauer, zu dem sie ihr Kind gebracht, erzählte davon. »Eines Klempners Tochter, sie hatte Ohrringe im Ohr, – ich habe kein Bild von ihr.«

Aber diese Frau muß ein gut Teil Liebe gehabt haben, sie kam in die Stadt. Sie zog dort einen feinen Herrn an; Frank erzählte, ein feiner Herr war es, der tun und lassen konnte, was ihm beliebte. »Ist es nicht ein schöner Zug von diesem Manne, er schämte sich nicht, das Klempnerkind zu lieben?«

Draußen lachte der Mond in den Sturm hinein, er flog im Sturm umher. Über dem Tal zwischen Buchenfreygg und Tannenfreygg gaukelte er, die Berge waren weißnaß in der Schmelze, unten glänzte das Tal. Es war eine Frühtaunacht.

»Frank erzählte, meine Mutter sei weinend gekommen in einer Februarnacht: ›Frank, es kommt ein Kind zur Welt!‹ Frank sagte: ›Ein Kind? Ich habe vierzehn, es kommt auf eines nicht an.‹ Ich glaube, er ahnte, der Herr würde bezahlen, denn Frank war ein klarer Kopf.«

»Aber die Mutter ist nicht aus dem Weinen zu bringen. Sie ringt die Hände. Sie müssen sich vorstellen, in der Kammer, die ihr Frank eingeräumt, hängt ein Kruzifix an der Wand. Es ist kein Doktor zur Stelle, sie liegt da, sie hat die krampfwehen Hände zum Kruzifix gehoben.« –

»Hu«, machte der Sturm, man dachte, nun heult er allen Schnee fort; er wirft ein paar Bäume um, aber morgen ist Frühling. –

Es sei eben erst nachher aufgekommen, daß jener Herr vor ein paar Tagen plötzlich gestorben war. In der Stadt starb er, er hatte eine schnelle Krankheit, er war eines Augenblicks tot. »Ist das nicht erbarmungswürdig? Da liegt das Weib in Franks Kammer, denn der Frank ist Witwer; oh, schreit sie, in ganz Elster hört man sie schreien: ›Hans, Hans, Hans!‹ Diese Stunde hätte er noch erleben müssen, schrie sie, in dieser Stunde hätte er bei ihr sein müssen!«

»Frank erzählte, der Name Hans stand auf ihren Lippen wie aus verzerrten, eisernen Buchstaben geschrieben.« –

Der Sturm fiel in den Kamin herab. »Puh« sauste er, aus dem Kamin schaute er mit tausend luftgefachten Kohlenaugen.

»Hsst«, stieg er wieder hinauf. Heinz Heide dachte: nun saßen die tausend Augen in einem anderen Kamin. In Fräulein Judiths Kamin. Oder in einem anderen Kamin, dachte er.

»Aber ich habe keine Erinnerung an sie. Frank erzählte, es habe keine zärtlichere Mutter gegeben als sie. Er erzählte, bevor sie starb, ihre Hände waren schon kühl und schläfrig und ich lag bei ihr im Bette, strickte sie ein Jäckchen. Als das Jäckchen fertig war, starb sie.

Man zeigte mir das Grab auf dem Friedhof in Elster, als ich so weit war. Der Pfarrer von Elster sagte: hier liegt deine Mutter! Ich solle ein Vaterunser beten.« –

Der Feldkönig kam an diesem Tage wieder nicht zum Ziel. Erst am Lichtmeßtage, da die Sonne schon schräg über dem Heidehause saß, und sie zusammen den Weg nach Wildeiche hinaufstiegen, wagte er sich weiter. Heinz Heide war einsilbig dabei, er hatte morgens eine Begegnung mit Fräulein Judith gehabt, gerade vor den Verwalterhäusern. »Schon zurück?« lachte ihn Fräulein Judith an, sie stand in der Sonne. Er sei gar nicht fortgewesen! Da bekam Fräulein Judith ein herrliches Feuer in die Augen, ihre Wangen wurden rot, sie stand da wie das entzückendste Verwundern.

»Ach«, wendete sich der Feldkönig, aus dem Walde gekommen, oben um. Da lagen tief unten die Fluren von Buchenfreygg, wer eine rege Phantasie hatte, sah durch die Dächer: da arbeiteten die Laaster, der Eulenhofer las das Sonntagsevangelium vor, und die Kiebitzin sang Heia Popeia.

»Ach,« sagte er, »so ein eigen Stück Grund!«

Er seufzte. »Von Elster kam ich ins Gymnasium hinab; das besorgte der Pfarrer. Frank sagte, der Pfarrer will dich fort haben, uneheliche Kinder, das gibt's nicht in einer feinen Seelsorge. Aber ich glaube, Frank haßte den Pfarrer, denn nun entging ihm das Kostgeld. ›Werde ein Taugenichts,‹ spottete er, ›dein Herr Vater hat's nachgelassen‹« –

»Lorelock ist's!« unterbrach er sich. Wahrhaftig, unten vor dem Hause fuhr ein Schlitten vor, man hörte ihn klingeln.

»Aber mit dem Studieren ist es nicht viel geworden?« lachte Heinz Heide.

»Es ist Lorelock!« deutete der Feldkönig hinab. »Ich habe ordentlich gelernt,« sagte er dann, »ich sollte zur Theologie.«

Aber er verblieb dabei nicht. »Ich war nicht würdig. Es hätte ja wohl noch andere Berufe gegeben, jeder für sich wäre schön gewesen. Aber, mein Gott, woher soll man die Zeit zu einem Beruf nehmen –?«

»Gott verzeihe es mir,« rief er aufrichtig und reumütig aus, »ich hatte keine Zeit!« Er hob ein Steinchen auf, es lag abgerutscht auf dem Eise. »Ich sitze, weiß Gott, jahrelang über so einem Steinchen, aber –« ob etwa Heinz Heide das Wunder erklären könnte?

»Und doch –« er warf das Steinchen ratlos ins Tal, – »es taugt nichts, es taugt nichts, – arbeiten sollte ein jeder!« –

Der Feldkönig kam aber auch diesmal nicht zum Ziel. Dazu kam er erst später, als der Sturm Tag und Nacht den Wald prügelte; »wirfst du den Schnee ab?« schimpfte der Sturm, »du bist ein eingefrorener Kadaver!« schimpfte der Sturm. Im Süden seien schon Veilchen offen.

Der Sturm balgte sich mit dem Haus. Man sah, wie in Tannenfreygg die Weiber gegen den Wind liefen, die alte Hallerin warf er um. Es brüllten die Tiere in den Ställen, und nachts stand der Sturm vor allen Fenstern und schrie den Träumenden ein fürchterliches »Wachet auf!« in die Betten.

Der Sturm tanzte im Blut. Er machte die Luft ganz klar; da sah man in die Welt hinaus. Der Sang eines Troubadours von ferneher drang durch die helle Luft, das Brausen des Meeres rollte in der Luft daher, die Sonne über weichen Tälern und fröhlichen Städten konnte man erraten. Man erriet aus dem Frühlingssturm alle Süßigkeit der Welt.

Dann erzählte der Feldkönig von seinen Reisen, sein Gesicht war blaß wie Perlmutter dabei. »Ich kam in ein Dorf, es lag verschlafen da, nachmittags. Was für elende Hütten waren es! Ich erfuhr erst nachher, es hockten an die dreihundert Kranke darin, das Dorf war verseucht. Ein totgrauer Mann begegnete mir, mitten in der Gasse, er staunte mich an: es ist besser, du fliehst von hier, wollte er gewiß sagen.«

»Aber siehe da, da schreitet ein heiterer Zug in die Gasse, eine Zimbel ertönt und ein Knabe läuft voran, es geschah alles ganz plötzlich. Und der Mann fängt an zu lächeln, er trippelt mir zu und lacht. ›Was ist da?‹ frage ich ihn. ›Nozze,‹ lacht er, das heißt Hochzeit.«

»Die Braut war häßlich, aber sie trug ihr Myrtenkränzlein auf einem vergnügten Gesicht, und der Bräutigam tänzelte wie ein Clown; und eins, zwei, drei, es tun sich alle Fenster auf, ein altes Weib schaut heraus, ein junges gerät daneben, alle Fenster werden voll von Gesichtern. Man sieht ihnen die Seuche an, alle sind grau und mißgestaltet, aber jetzt müssen sie lachen. › Evviva i sposi!‹ krächzt der grabnahe Mann, er war nun ein lustiger Geselle.« –

»Wenn man hier ist,« hob der Feldkönig den Arm, »glaubt jemand, es gäbe irgendwo keine Berge?« Aber er sei da vor zwei Monaten aus einem hügeligen Tale, darüber die Alpen standen, schnurschnell in die welsche Ebene gekommen. »Da lösten sich die Berge auf, ich sah, wie sie verrannen, die Erde wurde Land und dann grüne Wiese mit feingelben und sanftbraunen Gräben und Grenzen. Am Ende, wo das in der Ferne zu Ende war, saß der Himmel glockenblau auf dem Grase, und die Sonne im Mittag hatte vier goldene Arme, sie umarmte Nord und Ost und Süd und West.«

Da sei ein Tempel gestanden!

»Ich stieg hinauf in den Tempel, drei Säulen waren noch ganz. Weiß Gott, ich warf den Hut über die ehrwürdigen Stufen hinab, Herrgott, rief ich, schicke mir Männlein und Weiblein, Christen und Juden und Wilde und Chinesen und Weiße und Rote, alle zusammen, die du gemacht hast, – – ich habe niemals vorher so deutlich eingesehen, wie wir alle zusammen aus der gleichen Hand kommen.«

Heinz Heide stieg aus seinem Sessel hervor, diese Rede tat wohl und weh zugleich. Ein Hauch des Sturmes war sie, sie kam aus einem Blut, das noch süß war und jung.

»Das ist eine Träumerei gewesen,« sagte er schnell, es gebe Optimisten und Pessimisten, ein anderer als der Feldkönig hätte vom Tempel aus gesehen, wie alle Menschen dieselben Tiere seien, sie bilden sich ein, etwas zu bedeuten, aber ein jeder ginge schließlich doch an der Überzeugung zugrunde, nichts bedeutet zu haben!

»Ich sah eine römische Fürstin,« hob der Feldkönig trotzdem den Arm. »Wie die Menschen schön sein können und reich! Wenn ich an den Wagen herangetreten wäre: ›Frau Fürstin, ich bin aus Buchenfreygg,‹ – was da geschehen wäre? Er könnte sich nur vorstellen, die Fürstin wäre in ihrem Zobel von der samtenen Bank im Wagen aufgesprungen, »ihre Diener waren so vornehm wie Kammerherrn, sie hätten dem Gesichte nach Senatoren sein können,« – aufgesprungen wäre sie: jagt den Vagabunden vom Schlag! – Er habe niemals vorher so deutlich eingesehen, wie ein Mensch die anderen nicht kenne.

»Aha,« rief Heinz Heide.

Die Geschichte sei nicht zu Ende, strahlte der Feldkönig. »Ich sah die römische Fürstin noch einmal, sie fuhr in rasendem Galopp durch die Straßen, ein Mann saß neben ihr. Und da, weiß Gott, ich zog trotz alledem nochmals den Hut, so schön war sie, – – und diesmal grüßte sie mich; freundlich grüßte sie mich! Haha, dachte ich, das ist eine liebliche Entdeckung –«

»Der Mann!« spottete Heinz Heide.

»Die Liebe!« schlug der Feldkönig strafend die Augen auf. –

»Und so sei,« begann er wieder, »überall in der Welt, überall, wohin man komme, Tausendfaches, Tausendfaches, Tausendfaches zu sehen und zu hören; andere gehen achtlos vorbei; was ist ein glockenfrüher Morgen? denken sie; was ist ein schläfriger Fluß? Ein Bettler, der blind ist, ein Hochzeitszug in einem kranken Dorf, eine lächelnde Fürstin, – was ist das? Es sei eben aus allem, »aus allem, sage ich,« ist zu sehen, wie Gott es gemacht hat, weiß der Himmel, in allem und jedem, ich habe noch nichts anderes gesehen als die Liebe Gottes!«

»Und jeder,« hob er den Arm, »hat die Augen, um sie zu sehen, – aber sie sehen sie nicht, – oder sie wollen sie nicht verdienen!«

»Wieso?« sprang Heinz Heide auf. »Wieso?«

»Wer half da beim Brande?« griff sich der Feldkönig an die Brust, – da sei es ihm eingefallen! – »wer half da? Ich meine, wer tat da Liebes? Wer heilte, wer rettete, wer wachte, wer sorgte, wer bedachte? Herr Heide und der Pfarrer und der Doktor und der Lehrer und die Hausfrau. Alle die!« Und seien das nicht alles Menschen, die tagtäglich arbeiten, für den Nächsten arbeiten sie, sie leiten eine Herrschaft, sie halten die Seelsorge, sie lehren die Kinder, sie besuchen die Kranken, sie besorgen ein Haus, sie ziehen den Pflug, sie bauen Getreide, – »und ich, – ich war in Venedig und schaute in die Luft!«

»Herr Heide: nur wer arbeitet, für Weib oder Kind, für die ihm Anvertrauten und Befohlenen, – nur, wer die werktätige Liebe hat, verdient auch die göttliche! – Und darum,« – flog er Heinz Heide zu, denn jetzt schoß er ins Ziel, – »Herr Heide, geben Sie mir ein Stückchen Grund, ein Stückchen! Ich bezahle, ich habe das Geld, – ich will ein Häuschen bauen und einen Acker haben, – Herr Heide, ich möchte mein Brot verdienen!«


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