Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eines Tages sah man den Herbst über Tannenfreygg hineinschreiten gen Buchenfreygg. Gemächlich ging er, er war ein wohlgebauter, ruhiger Mann, und wie er so durch den Wald ging, warf er aus der freigebigen Hand bald etwas nach rechts in die Wiesen, bald etwas nach links in die Kirschbäume. Die Kirschbäume, die wie eine Zeile von Pius Vespers Schule bis in den Buchenfreygger Waldrand standen, erglühten nach diesem Wurf rosenrot und lachten in den blauen Himmel hinein, wenn ihnen die Sonne mitten in der Krone saß. Die Wiesen aber wurden zuerst ein bißchen bleich, dann schüttelten sie die letzten Sommerblumen ab und standen voll Tau in einem kurzen frischfarbigen Gras.
Durch den Wald gehen konnte man den Mann nicht sehen. Der Wald war zu dicht. Aber was geschah im Walde? Lief ein lebendiger Farbentopf durch den Wald? Die Lärchen, wie sie dem Wege in der blauen Finsternis folgten, zischten auf wie neue Kulissen aus einer altmoderigen Bühne. Und nun standen sie gelb da. Wie sie leuchteten! Sie standen wie gelbe Flammen im Walde, blonde Mägdlein waren sie im Ernst der dunkeln Männer.
Vor Buchenfreygg war eine Birkengruppe. In eine hohe Birke kann kein Mann einen Schock Wundersamen werfen. Der bärtige Mann aber, was tat er? Wie eine Katze kletterte er über die weißen Stämme, flugs hinaus in alle Zweige. Dann ließ er sich hinabrinnen als Gassenbub, und ehe er auf den Rasen plumpste, war die Verwandlung geschehen: die Birkenblättchen waren nun aus Seidengold, es ist nicht zu sagen, wie schön sie waren!
Der Mann lief übrigens den ganzen Berg ab, jeden Tag lief er närrischer, es mußte eine lichterlohe Freude in ihm stecken, ein trunkener Maler mußte er sein. An den Rain einer giftgrünen Saat, ha, da gehörte eine krapprote Eberesche! Um ein Dach herum, etwa um Lorelocks Dach, da brauchte es zu den zwei blauen Zirbeln einen grüngelben Ahorn. Und dem Pfarrer machte er die Linden durchsichtig und hell.
Da aber, wo die Tannenfreygger in den Wald hinausgingen, da mußte eine Triumphpforte stehen. Zuhinterst, ganz hinten, blieb der Fichtenwald schwarz, und zu den Seiten blieben die Jungtannen stahldunkel. Vorne aber, wo sich tausend sepiagrüne Arme in die Finsternis verstrickten, da war eines Malers Arbeit! Die Buchen, es waren vier großmächtige Knäuel, die bekamen alle Farben. Am Waldeingang, über einem lichtvioletten Stückchen Weg, mußten sie leuchten wie Feuer. Brandgelb und schreirot. Nur ein bißchen, in zerfingerten Hängezweigen. Weiter oben, wo die Söhne des Stammes schon einen Bart ansetzten, bauschten und wallten goldedle Wolken, aus tausend Blättern wie Mosaik. Und da, wo die Buchen in die Fichten prankten, mußte sich ein tiefes, schokoladenfarbenes Braun drapieren, es hatte einen Glanz noch von der Sonne, die am Eingang hockte, und einen metallenen Schimmer vom Dunkel ganz hinten.
Lorelock, der ein keuscher Freund der Natur war, ging jeden Abend dahin spazieren. Es begleiteten ihn sein Weib und die sieben Kinder. Langsam ging er, obwohl der Grund nicht ihm gehörte, und rauchte seine schweigsame, vielgeprüfte Pfeife. Vor der Pforte aber blieb er stehen. Sein Weib, eine gesprächigere Natur, redete in seinen Bedacht allerlei Alltägliches, sie redete von all ihrem Tun und Sorgen, und hie und da, das gehörte sich, zankte sie eines der trottenden Kinder. Auf einmal aber tat es der Maler auch ihr an, sie wurde stumm und blieb vor der Pforte stehen!
Pius Vesper stand zur selben Zeit unter den Kirschbäumen. Es war an des Mannes Kunst das Schönste, wie er das Licht wider den Schatten aufbäumte. Licht – eine tolle Wand hoch, gleich hart daneben – Schatten, ein winterblauer Riese! Der Schatten tückisch unter dem schwerazurnen Himmel, das Licht pfirsichpflaumig unter einer Kristallschale. Und in diesem Licht war alle sinnliche Lust des Jungseins, so daß einem jeden, der mit gelbgalligem Gesicht darunterging, urplötzlich das Herz aufging; es mußte gegen seinen Willen lachen.
Um Heinz Heides Giebelhaus legte der Mann altmodische Kränze. Die Dachlücken blendeten wie Spiegel in mattgoldenen Rokokorahmen, um die Balkone tanzten Girlanden, die Kamine griffen aus ackergrünem Federflaum in die Luft, die schimmeligen Wände des Hauses wurden gemütliche Kupferstiche in gelbeingelegten Braunleisten.
Ja, der Malersmann tat sein Bestes, um Heinz Heide ans Fenster zu locken. Er ging sogar ins Tal hinab und machte es bleich. Ein Schleierchen von Silbertaffet ließ er über die Weinberge und über die Flüsse gleiten. Dann nahm er an einem einzigen Tage das Mittelgebirge. Keck malte er blaue Schluchten in orangenrote Kämme, und zündete soviele Eschen an, daß Blutstropfen im Lande aufquollen, und soviele Hainbuchen, daß allüberall Kirmesfahnen flatterten. Und jedermann, der hinsah, ahnte gleich: es kommt noch viel besser!
Um es in einem zu sagen: als der Mann fertig war, es war ein Sonnabend, hätte Heinz Heide von seinem Söller aus die Abendsonne über einem grandiosen Bischof sehen können, der ein goldenes Vesperkleid trug, mit vielen Falten, eingestickten roten Ornamenten und aufgesetzten tausend Edelsteinen. Dieser Bischof ging von Osten nach Westen; vom Osten, woher er kam, trabte ihm ein Trupp purpurner Edelknaben nach; man sah von ihnen nur eine rote Wolke über den Dolomiten. Gegen Westen aber schwang der heilige Mann ein silbernes Weihrauchfaß, ein feiner Rauch zog daraus, er war bläulich und zitterte in das weiße Haar des ziehenden Bischofs und in den feierlichblauen Himmel. Und wie er so diesen Himmel anräucherte, wurde es still im ganzen Tale. Solche Stille kannte kein Monat im ganzen Jahr, es war nicht einmal ein Grillchen mehr lebendig.
Aber Heinz Heide saß in einem versperrten Zimmer und wußte gar nicht, daß es nun Abend wurde. Ist es möglich, fragt man, daß ein Mann, den das Unglück trifft, taub wird und stumm und ungerecht? Daß ein Mann, den das Unglück trifft, davon angefüllt wird wie ein Riese, er wird ein Gebäude voll Unglück, so vollgestopft wird er mit Bitterem, daß er die freudige Welt vergißt und sich einredet, nicht nur in ihm, sondern in der ganzen Welt gäbe es nur Jammer und Zähneknirschen?
Und doch bekam Thomas Mücke in diesem Herbst ein Knäblein! Thomas Mücke machte eben ein Fenster auf, nachdem die Hebamme gerufen hatte: ein Knäblein, Herr Mücke! Er machte dies Fenster in der Bewußtlosigkeit auf, die Verwirrung war ja unermeßlich! »Thomas Mücke!« sagte er zu sich, »ein Knäblein!« Er machte ein kindlich dummes Gesicht, der Mund verzog sich ihm bis hinüber zu den Haaren, und nun weinte er sogar. Trotz dieser Träne lief er aber zur Tür hin; drinnen lag sein Weib in der Sonne. – »Wie sollen wir nur das Knäblein heißen?« weinte er sein Weib an, daß es trotz aller Blässe lächelte.
Thomas Mückes Haus, ja, es war ein paar hundert Meilen von Buchenfreygg weg, aber – mußte ein empfindsames Ohr nicht dennoch solchen Jubelschrei hören?
Und fällt es nicht auch, abgesehen davon, daß in diesem Herbst vieltausend Knäblein geboren wurden, und die Vaterfreude landaus und landein schrie, fällt es nicht auch in diesen Herbst, daß der Feldkönig seine schöne Stunde erlebte?
Die Fürstin Isold, sie war über soviel Untreue und Männerschlechtigkeit gestolpert, daß sie fast nicht mehr an die Liebe glaubte. Und doch, so schuldig war ihr das Leben die Liebe geblieben, daß sie just in diesem Herbst dem Geigenmann selig ans Herz flog. Die Fürstin Isold sagte ihren Grafen und Windhunden und Pagen Ade und ließ sich vom Geigenmann in ein ungewisses Land tragen, in dem nur eines gewiß war: des Geigenmannes Küsse machten schluchzen.
Vieltausend Herzen machte die Liebe in diesem Herbst singen, es fanden vieltausend arme Menschenherzen aus Irrwegen und Nöten den Weg in das Paradies. Und wenn auch das Mariechen im fernen Böhmerwalde, die den jungen Litte zum Geschenk bekam, ein blutarmes Mädel war und eines Trunkenbolds Tochter, wie muß ihr das Herz gejubelt haben, als sie eines Abends sagte: »Litte,« sagte sie, und wurde korallenrot, »ich bin ein armes Mädel, aber – Litte!« sagte sie und wurde noch roter und hakte das erste Lätzchen vom Mieder auf. – Wenn also in Mariechen, dem ärmsten Mädel in der Welt, das vorging und frohlockte, wie mußte erst die Lust der viel tausend reichen und seidenen Frauen, zu denen die Liebe in diesem Herbst zu Gast kam, ein empfindsames Ohr treffen! –
Das mit dem Feldkönig ergab sich nicht weit von Buchenfreygg. Der Feldkönig tat jeden Herbst eine geheime Reise, es riß ihn im Herbst fort wie die Schwalben. Die Leute sagten, sein Vater, den niemand je gekannt, hätte ihm einen Sack Dukaten hinterlassen, und es läge keineswegs an des Feldkönigs Armut, daß er die warme Jahreszeit auf dem Felde nächtige. – So wollte er auch diesen Herbst in die Welt und gedachte, vorher von Heinz Heide Abschied zu nehmen. Zu diesem Zweck hatte er eine Rede einstudiert, die vorbringen sollte, daß der Feldkönig unentwegt an seinem Freund hange. »Und wenn auch,« wollte die Rede sagen, »die Tannenfreygger nun den Stein auf dich werfen, du habest von der großen Schandtat gewußt, mit deinem Wissen und Willen sei sie geschehen! –« wenn sie auch in ihn dringen, das vermaledeite Haus nimmer zu betreten, – er halte unentwegt zum Freunde! Denn erstens, sollte die Rede schließen, glaube er die Geschichte nicht, – und zweitens ...
Aber Heinz Heide rührte sich nicht, als er am Haustor den Klopfer anschlagen hörte, und als Giusa kam, einen Mann vor der Türe zu melden, hieß er sie sagen: der Herr schläft!
So trabte der Feldkönig mit seiner Rede von dannen, abschiedsschwer zögerte er durch den buntprunkenden Wald. Herbstliche Gedanken umschlichen ihn, wie er so dahinging; plötzlich aber hielt er ein und riß die Augen auf: »Ein Phänomen! Ein Phänomen!« flüsterte er, und es dauerte geraume Zeit, bis er die Hand nach der späten Genziane ausstreckte, die blau aus dem verwitterten Moos schaute.
Aber, – ach, was geschah nun? In des Feldkönigs Träumen war es von jeher der geheimste, aber der schönste gewesen, einmal Fräulein Judith im Wald zu begegnen und ihr eine Blume zu schenken. Um und um durfte niemand sein, nur der Wald, und Fräulein Judith lächelte dann und nahm aus seiner Hand die Blumen. »Danke, Severin!« lächelte sie und steckte die Blume in den Gürtel.
Und als dies nun wirklich und wahrhaft geschah, als dieser Traum Wahrheit wurde, wie tanzte, wie pfiff, wie pries und benedeite des Feldkönigs Herz? Wie sang es da? Wenn ein Ohr nicht alles andere Frohlocken der Liebe in diesem Herbst hörte, – wenn schon nicht all das andere, – dieses mußte ein erratendes Ohr vernehmen!
Oder das Halleluja von Hans Listermann, dem Dichter, als ihn zum erstenmal sein angebetetes Baroneßchen Tralalala küßte! Oder den Freudenschrei jenes deutschen Luftikus, eines frischblütigen Vagabunden, der seine Mutter hinter dem Ofen allein ließ, hinten in Thüringen, und nach Konstantinopel wanderte! »Warum hast du dein Mütterchen allein gelassen?« spricht ihm ein verrunzeltes Stimmchen zu, als er nahe der Küste dahinwandert. Es ist das Stimmchen seiner Mutter, die vor dem Spinnrad sitzt, um für den Sohn einen Taler zu verdienen. Warum? Warum? lacht der Luftikus und läuft weiter. Bis er plötzlich vor sich ein weißes Glänzen sieht, es bricht hinter welligen Wiesen hervor, auf denen eine Schafherde unter rundkronigen Bäumen läutet. Und er läuft, er läuft, auf seinen zerschundenen Vagabundenschuhen läuft er, bis ihm der Atem stockt und die Hände plötzlich in der Luft stehen –
Es war das Meer!
Ein Mädchen sah ihn lange am blauseidenen Ufer knien, bewegungslos, ein schwarzer Punkt gegen das unermeßliche Glänzen.
Und wie zum Beweis, daß in jenem Herbst vieltausend barfüßige Vagabunden, aus allen Streifen des wandersüchtigen Deutschland, über die Erde trabten und über dem Wasser ihre begeisterten Mützen schwenkten, zu diesem Beweis fährt jener Luftikus eines Abends im Dezember mit zwölf Brüdern seiner windigen Börse in Venedig ein. Wie der alte Kutter zu Venedig einschleicht, steigt die Sonne ins Meer und gleich darauf hinauf in ihren alten Sitz auf den Kuppeln und Simsen der Kirchen, und die dreizehn Wanderer stehen auf dem schwarzen Schiff und fühlen ein fröstelndes Rieseln über ihre Rücken kitzeln, und der Luftikus hebt schon den Arm, weil er einen Schrei ausstoßen will. Aber es wurde nichts daraus.
Dann aber, als mit einem Zucken des Lichts die Bänder aller Glocken zu Venedig auseinanderrissen und alle Glocken baumelten und schrien und posaunten, und als von den Simsen zugleich mit dem verscheuchten Licht die Tauben rotblühend aufrauschten, tat der Luftikus seinen Schrei, einen heißen Blutquellschrei, und die Zwölfe schrien mit und waren doch alle von Marmor!
Diesen Schrei, mußte nicht zum mindesten diesen Schrei ein empfindsames Ohr vernehmen?