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InitialZwei Tage nachher kam die Antwort Gioias. Heinz Heide las den Brief auf dem Balkon, im Sonnenschein, unter dem blauen Septemberhimmel. Aus diesem Briefe stand Gioia auf, siegreich, sie tötete mit einem Wink ihrer kleinen Hand den Johannes, Lorelock, den Pfarrer und den Lehrer. – Alle die ›Ja‹ sagten und ›es ist so!‹ tötete sie, und Heinz Heide griff sich an die Stirne: ich bin ein Narr! Es verschwamm vor seinem Auge, was da blau und grün und licht war, in einem milchigen Nebel, und dieser Nebel drang in sein Hirn. Siehe da, der Schädel klappte sich dem Nebel auf, Heinz Heide sah ihn hineinfließen, er starrte in sein Hirn: es war alles Denken darin wie ein verhaspeltes Knäuel, jedes Urteil darin war doppelt, schwarz war es links, weiß war es rechts.

Aber am Abend dieses Tages pochte es an Heinz Heides Türe. Laut rief er »Herein!« Er saß auf dem Sofa. Der Verwalter trat in das Zimmer, vergnügten Gesichtes, er machte ein gefälliges Kompliment. Ja er lachte mit einer gewissen Überlegenheit, er freute sich über sein Lachen. Er habe ausgezeichneten Wein gekauft; Vieh keines. Wie konnte er es über das Herz bringen, für eine Kuh zweihundertachtzig Gulden zu geben? Die Viehpreise seien unverschämt gestiegen!

Heinz Heide ließ den Mann niedersitzen. Wie froh sei er, seinen Verwalter wiederzuhaben! Er hätte ihm ordentlich gefehlt. Gewiß, um zweihundertachtzig Gulden kaufe ein gewissenhafter Mann wie Girolamo keine Kuh. – »Allerdings, – ich verstehe nichts von Wirtschaft!« Er verstünde rein gar nichts. Was er also da von den Kuhpreisen sagte, sei eigentlich ein Schwindel. Er habe sich überhaupt oft gedacht, – »habt Ihr nicht oft geflucht über den verschwenderischen Herrn? Haha?«

Der Verwalter, den Heinz Heide mit einem Auge in das Begreifen der Situation hineinfahren sah, tat ungeheuer verlegen. Der gnädige Herr scheine da keinen rechten Begriff von der Ehrerbietung des Dieners zu haben, er könnte sonst nicht so reden. »Denn, meiner Seele –!« – Lassen wir das!« lachte Heinz Heide, er sei vollkommen überzeugt. Aber er wolle seine Indolenz nicht zum Laster ausarten lassen, »ich kenne, weiß Gott, nicht einmal die Grenzen mehr!« Er werde den Verwalter darum ersuchen, – »wir machen morgen ein paar Grenzgänge, – so pro forma!« –

Den ersten Tag ging es in das Tannenfreygger Revier. Heinz Heide schritt eingehängt in den Verwalter, so daß der Verwalter keuchte. Heinz Heide sagte: »Ich bin doch nicht schwer?« Denn er hing dem Manne eisenschwer auf dem Arme; aber der Verwalter schüttelte den Kopf: im Gegenteil! So daß Heinz Heide in einer Art schwer-läppischer Blindheit dahinschritt, so wie ein Sieger gleichgültig über Millionen Erschossener geht. »Da hat man,« redete er, »da hat man Weiber, man reist, man spielt, man trinkt und ißt fein, man schläft auf Daunenmatratzen, – warum nicht? Der eine so, der andere so!« – Der Verwalter keuchte und stöhnte, er wagte es nicht, den Herrn abzuschütteln. So ein Besitz wäre dazu da, sagte Heinz Heide, daß zwei sich darein teilten: der Herr, der lebt und genießt, und ein treuer Mann, der schuftet und, – »wie viele Kinder hat er?« – »Elf,« sagte der Verwalter, »elf«. – Ja, der schuftet und schindet, und wenn der Herr sagt: ›Mann, ich brauche Geld!‹, dann macht er eine kolossale Bewegung mit der mächtigen Hand, – »habe ich Euch wehgetan?« – eine Bewegung wie mit einer kolossalen Sense, und der Herr hat sein Vergnügen!

Sobald der Weg das Weichbild von Freygg verließ, lag zu seinen Seiten die Verwüstung. Aber Heinz Heide ging durch die Verwüstung, als merke er sie nicht, er trabte am zweiten Tage durch Wildeiche, am dritten nach Elfwiese und am vierten durch Flörkweide, immer durch Verwüstung. Ob er müde sei, fragte er den Verwalter, aber der sagte, mit bleichem Gesicht, das im Schweiße schwamm: keineswegs, ihm sei es angenehm, zu gehen! Es sei eigentlich hübsch, redete Heinz Heide, »man geht tagelang durch seinen eigenen Grund!« Er sah Meilen von wegrasierten Wäldern, von windgebrochenen Wäldern, herdenlose Weiden, zerrissene Wege, tote Mühlen, gesunkene Zäune, klaffende Triften, ausgebrochene Wildbäche, zerstörte Deiche, lehmige Muhren, Königreiche von verfaulten Wiesen, gelbflammige Steinbruchländer, – »über eigenen Grund und Boden!« Der gehört mir! könne er sagen. »Wenn ich nicht will, daß ein anderer daraufsteht, ich kann es ihm verbieten. Ich kann sagen: mein Herr, seien Sie so freundlich, das ist Privatbesitz! Ich kann aber auch sagen: hinaus du Lump, du Hallunke! – Wie es mir gefällt! –«

Der Verwalter schaute den Herrn oft aus einer brennheißen Angst heraus an. Seine Beine stammelten dann, sie krabbelten unbeholfen wie die Beine eines rhachitischen Kindes, sein Gesicht war weiß. Und wenn dann der Herr nach dem Namen eines Riedes, eines Bauernhofes oder einer Holzgattung fragte, oder »wie viel Joch sind das?«, tat er wie eine pferdekräftige Maschine, die eben angekurbelt wird, und log. Er redete breiig von Forstkultur und Meliorationen; wie blöd der Landtag sei, daß er keine Agrargesetze gebe, – selbst in Rußland sei man weiter voraus in dieser Beziehung!

Er sei ein außerordentlich gebildeter Mann! »Gewiß,« lobte Heinz Heide, »ich sehe, es ist alles musterhaft geführt!« Wohin er blicke, Tätigkeit! Nirgends habe man die Natur verwesen oder verfaulen lassen. Man habe die Ernte aus ihr gezogen, nun erwarte sie die neue. »Ihr seid ein braver Mann, meiner Treu!« Und ob es nicht ein poetischer Gedanke sei, zu denken, daß man sich mit den grünen Bäumen seiner Jugend das Leben erkauft hat? – »Haha,« tätschelte er den Verwalter, »wo man in der Jugend herumgespielt hat, – das Urwalddickicht, – wo sehe ich es? – Es hängt als Bouton am Ohr einer Tänzerin! Harzgeruch, Harzgeruch kleidet die Tänzerin, sie raschelt mit ihren seidenen Höschen in meinem Jugendwald!« Ob es einen poetischeren Gedanken gebe? Und hätten sich nicht in ihm und dem Verwalter Lebenslust und Pflicht vereint?

Sofort wurde der Verwalter wieder keck; er bekam, wie er die unglaubliche Unwissenheit und Liederlichkeit des Herrn entdeckte, gleich wieder die Schlauheit der Narren und Gauner. Er schmunzelte wie ein gewiegter Beichtvater und verdrehte die Augen vor Schmerz über solche Frivolität des Herrn; er ging an solchen Worten wie an einem wundersam dargebotenen Geländer durch die Verwüstung. Am fünften Tage, als die Pachthöfe inspiziert wurden, war seine Haltung bereits sicher. Er zerrte die Bauern aus den Stuben heraus und stolzierte vor ihnen wie ein Feudaler, der ihnen die Hörigkeit abgenommen und Prügel dafür gegeben hat. Er stand höhnisch neben Heide, als dieser vor den starrköpfigen Mienen lauerte und in die verwucherten Felder und leeren Ställe hineinsah. Heinz Heide hatte dabei seine rechte Hand unsichtbar in der Tasche stecken. »Ho,« lachte er roh die Bauern an, »es geht euch gut?« Er sehe Schwärme von Kindern und schwangeren Weibern überall, und der blaue Rauch träufle aus den Kaminen! – Und wenn der eine oder der andere den Mund aufzutun wagte, – die Zeiten seien schlecht! – stützte er sich auf den Verwalter wie ein gemeißelter Dichter auf die Pergamentrolle. Ja, sagte er, ob sie etwa glauben, man könne heutzutage noch die alten billigen Zinse lassen? Von ihm aus, schüttelte er sich in einem zornigen Lachen –, möchten sie auswandern, ihm sei es gleich! – »Was?« schrie er, »mein Großvater? das sind fünfzig Jahre her, ich bin nicht mein Großvater!«

Den alten Mattä, der vordem Verwalter gewesen war, kitzelte er mit einem Halme. Das wäre freilich bequem, wenn die Bauern das Vieh geliehen und das Saatkorn geschenkt bekämen, – ob sie ihn für verrückt hielten? –

»Das gefällt mir!« sagte er dann, als er die Wirtschaftsgebäude beging und in der schamlosen Verlotterung umherstapfte, – überall durch, durch Kammern, Ställe, Keller, Hühnerhöfe, Getreidesparren und Branntweinküchen, – es gefalle ihm, daß der Verwalter das arrogante Gesindel gebändiget habe. »Es gehörte ein ganzer Mann hier herauf, – bravo, Girolamo!« – Worauf der Verwalter, den Herrn in die Kanzlei führend, mit einem Buckel beteuerte, es seien seinerseits noch massenhaft Aufgaben zu lösen, aber wenn ihm der Herr weiter das Vertrauen schenke, – »mit Ihrem Vertrauen, gnädiger Herr –«

»Jawohl, es wird eine Musterwirtschaft!« Ob hier die Kanzlei sei?

Es roch nämlich nach faulen Kartoffeln und ranzigem Fett. Auf dem Fensterbrett stand eine halbgeleerte Weinflasche, eine Ölkerze und ein Paradeisapfel. Ja, das sei der Rechnungsraum, ging der Verwalter an den Schrank und holte ein paar dicke Bücher heraus. Dann begab er sich zur Kasse, die in einem Wust von Pappendeckeln und Zigarrenschachteln steckte, – er sei zwar kein ausgebildeter Buchhalter, man mache heutzutage Präliminarien, Bilanzen und Vermögensausweise, – aber wenn man tagein, tagaus im Felde ist oder im Walde –? –

Wieviel habe er, so im Ungefähren, seit des Vaters Tod herausgezogen aus dem Gute? fragte Heinz Heide.

Der Verwalter beugte sich über ein schmutziges Buch. – »Sagen wir, so an die dreimalhunderttausend?« fragte Heinz Heide und stand auf.

Der Verwalter gab sich die Mühe, vom Buche emporzuschauen, seine Hand war im Buche eingeklemmt und zitterte ein bißchen.

»So ungefähr, – ja, so ungefähr –« lispelte er zum Fenster hinaus.

Es interessiere ihn weiter nicht, lachte Heinz Heide auf. »Bücher sind Papiere! Hin ist hin!« – Der Verwalter solle die Geschichte da lassen! Er ging zur Türe. »Das sind Dummheiten!« Er lade ihn zum Abendessen ein. –

Beim Abendessen redete Heinz Heide wenig. Er aß, er hörte zu, er war aber wie abwesend. Das merkte der Verwalter, er fand sich unbehaglich, nach einer Stunde rückte er an dem Stuhl. Aber da richtete sich Heinz Heide auf und sah den Verwalter an. »Dreimalhunderttausend Gulden!« schlug er auf den Tisch, – »und ein anderer bettelt in der Welt herum und überlegt sich den Revolver von einem Tage zum anderen!« – Dann lehnte er sich zurück und schloß die Augen, denn er hatte gesehen, der Verwalter schaukelte vor Überraschung wie ein havarierter Schooner, und redete leise, aber hastig, heiß vor sich hin. Und plötzlich, – der Verwalter glaubte, es handle sich um einen Angriff, – packte er aus seinen fieberigen Worten heraus des Verwalters Hand und preßte sie wie einen Stockgriff.

Ah, wo habe er eine Menschenseele, der er anvertrauen könnte, was ihn nicht ruhen läßt? Es kommt in ihn, wer weiß woher, es ist plötzlich da, auf dem Spaziergange ging es neben ihm: »Dreimalhunderttausend vergeudest du, – und der andere –?!«

Er verstehe wohl, von wem er rede, schüttelte er dem Verwalter die Hand? »Es ist richtig, er ging aus eigener Schuld zugrunde!« Aber, ob es nicht unzählige solcher Existenzen gäbe? »Und auch das ist richtig: der Begriff Familie hat etwas Unverwüstliches! Ich denke, ich sage: ich will von meinem Bruder nichts mehr wissen, – ich habe mich abgekehrt von ihm! – Ich sage das! Mein Besitz ist gerecht! – Aber da gehe ich, – ich gehe nur von diesem Zimmer ins andere. Wer ist da?«

»Er ist weiß Gott wo,« stand er auf und stellte sich ins Zimmer, »er hat eine Seehundfängerjacke an oder er ist Reitknecht oder steckt im Konkurse! Aber, – ich gehe von diesem Zimmer in den Saal, – wer steht im Saale?«

»Ah,« stotterte der Verwalter, seine Augen sprangen ihm aus dem rotgewordenen Gesicht. Es war, als kletterte er eine Leiter aufwärts. Aber Heinz Heide redete weiter. Es überkomme ihn ein elendes Gefühl, wenn er an den Bruder denke. »Er ist doch mein Bruder!« Sei es gerechtfertigt, ein sorgenloses Leben zu führen und den eigenen Bruder verkommen zu lassen? »Ich denke oft: heute kommt er! Nachts, oder überhaupt unerwartet! Ich sage: herein, – ich springe vom Tisch auf, ich –«

Er trank. »Ich würde ihm um den Hals fallen; er könnte mit blutigen Fingern kommen, aus einem Gefängnis!« – Er würde lieber die Landstraße treten und unter die Straßenräuber fallen, als wissen: da draußen ist einer, den deine Mutter nach dir getragen hat!« –

Erschöpft fiel er auf den Sessel nieder. Der Verwalter aber glitt wie eine weiche Katze von der Leiter auf den Stuhl zurück, seine Augen wurden blaufeucht, um den Mund legte sich eine fette Dreistigkeit. Ob der Herr nicht wisse, wo der Herr Bruder gegenwärtig sei?

»Er soll in der Schweiz sein.« Er habe gehofft, im Geheimen, er werde kommen, – »aber solche Leute glauben, sie müßten unbedingt wie der verlorene Sohn empfangen werden. Solche Leute sind empfindlich!«

Der Verwalter machte: Hm. Er machte ein taktvolles Gesicht. Er spreizte die Finger auseinander und las mit gespreizten Fingern Brosamen vom Tafeltuche. – Wenn ihm der gnädige Herr erlaube, – wie oft habe er über diesen unseligen Zwist nachgedacht! »Es ist,« sagte er, »wenn man zehn Jahre in einem Hause ist, – man denkt nur mehr an das Haus! Und da ist ein Familienbesitz, – es hätten leicht zwei Platz darauf –«

»Leicht,« seufzte Heinz Heide erschüttert.

»Nun gut!« war der Verwalter begeistert, – er gebe das zu, der Herr Bruder war leichtsinnig. Gewiß. – Aber, – wo stehe das im Evangelium? Der Herr selbst, habe er nicht eben gesagt, er wolle verzeihen, er habe keinen Haß mehr –?«

Heinz Heide sprang entschlossen auf. Er stürzte auf den Verwalter zu und ergriff die mageren braunen Hände, mit einem stummen Gesicht schnitt er ihm die Rede ab. Dann zog er ihn, als möchte er zeigen, nun wollte er allein sein, bis an die Türe und riß die Türe auf. »Ich danke ihm,« sagte er mit erzwungen barscher Stimme, die seine Erregung verbergen sollte, – »es hat mir wohlgetan!« –

Von diesem Abend an wartete Heinz Heide. Es wurde ein Tag, zwei Tage wurden es; drei. Es wurde eine Woche. Er sprang schon wie ein schußbereiter Jäger auf, als der Verwalter nach dieser Woche kam und um Urlaub bat, in die Stadt zu gehen. Er habe beim Grundbuch zu tun, man wolle die Fischereirechte des Hofes feststellen. Heinz Heide spielte mit seiner Uhrkette, als der Verwalter da vor ihm stand, er lächelte. Ah, er möge die Fischereirechte feststellen lassen, – es bedeute ihm herzlich wenig, lächelte er schmerzlich.

Aber der Verwalter kam nach zwei Tagen mit einer Aktenmappe zurück. Und Heinz Heide stand noch eine Woche, wie ein Fischer mit ausgeworfener Angel; er stand wie eine Steinsäule, keiner von den Fischen sollte es merken, daß er angle. –

In dieser Zeit bedeutete ihm der spätsommerliche Himmel große Qual. Oft war dieser Himmel wolkenlos, er glich einem unbefleckten Kleide an einer unbefleckten Jungfrau. Er legte sich keusch über die weißgewordenen Berge und sprach zarte Worte dabei. Er langte mit silbernen Händen in die Wälder hinein, was er berührte, funkelte wie Meßgerät in einer kühlen Kirche.

Wenn er in diesen Himmel blickte, konnte er ihm in die weitesten Fernen nachsehen. Er konnte durch die Berge schauen, als versperrten diese den Himmel nicht. Da lag die Ebene, heiter und lächelnd, tausend Dächer sproßten daraus. Rote oder braune; die Menschen saßen vor den Häusern, in einem Quadratklafter eigenen Gartens, an Zäunen mit Sonnenblumen und Astern. Sie redeten miteinander dummes Zeug. Wie das Korn geraten sei, – daß die Schwalben fortflögen. Sie hatten einfältige Gesichter, sie waren nie ins Leben gekommen, sie wußten nicht einmal, was die Elektrizität sei.

Wenn aber der Blick aus dieser Ferne zurückkam, sah Heinz Heide bös an seinem Körper herab, ein gelbgeifriger Quell schoß in seiner Brust auf, und die Beine wußten nicht, wem sie nun gehorchen sollten, sie flogen über die braunen Blätter der Wege wie über die Unzahl klirrender Scherben, in die das Leben zerbrochen war.

Vor dem Himmel gab es keine Flucht. Er war im dichtesten Walde wie ein blauer Knauf, er krönte die grüne Einsamkeit. Und Abends, da wurde er golden, hoch tat er sich auf über den Mauern der vereinigten Berge; in eine unermeßliche Höhe stieg er, so daß man die Ewigkeit in seinem Lichte zu sehen glaubte. Und wie um zu geißeln, redete er morgens und abends, zu allen Tageszeiten, vom Glauben, den die törichten Menschen in ihn legten, er sprach wie der Mund eines Kindes von der Güte Gottes und von der Zweckmäßigkeit alles dessen, was geschehe.

Erst, als an einem Morgen die Nebel vor dem Hause hockten, sah ihm Heinz Heide offen ins Gesicht. Nun wagte er es. Er ging Mittags auf die Jagd. Die Nebel sanken da, der Himmel lag über der blaßbunten Erde in kreidigen wagrechten Schichten. Ruhig atmete die Erde darunter, mit einem müden Auge sah sie dem Sommer nach, dessen leidenschaftliche Tat sie so hingestreckt hatte. Und wer über sie ging, bekam das Verlangen nach ähnlicher Rast.

Aber, als über dem Eschentore der Wald vom Wege sank, drang Heinz Heides Blick über die jungen Lärchenwipfel unbeschützt in die Tiefe des kreidigen Himmels. Am Ausgang eines dunkeln, engen Tales, das sich gegen Norden wälzte, lagen die wagrechten Schichten über unendlich fernen, grauen Zacken und deuteten so die Unbegrenztheit des Himmels. Und schnell sank aus dieser Deutung aller Trübsinn, die Feindlichkeit und das Gefährliche des Himmels wie ein vernichtender Regen nieder. Man sah, wie in der unbegrenzten Ferne Millionen Schänder, Mörder, Henker, Lügner zappelten, man erriet, wie in dieser Minute eine Mutter ihre Kinder schlachtete, die an der Seuche ihres Vaters eiterten, wie eine Dirne aus dem Jüngling den letzten Rest von Willen sog, wie der Krieg Blut spie, wie die Heimatlosen stöhnten, wie die Irren winselten; wie die Unglücklichen heulten. Man sah eine Schar lachender Totengräber, die in unanständiger Zote ein Grab gruben; sie meckerten, sie rissen einen Kretin in die Grube, der bis in sein vierunddreißigstes Jahr an die Vervollkommnung der Menschen geglaubt hatte, und nun Zeter und Mordio schrie, weil sein Schatz, eine Wiener Modistin, ihm durchgebrannt war.

Und so lief Heinz Heide auch diesem Himmel davon. Bis es Dämmerung wurde, lief er im Walde umher. Als er endlich daran dachte, in das Haus zurückzukehren, trat die Dunkelheit aus dem Berge heraus und auf ihn zu. Guten Abend, Herr Heide, sagte sie; es sei gemütlich, nun durch das letzte Stück Wald zu traben. Ein paarmal stößt man an eine Wurzel; eine Taube fliegt auf. – Oho, ist das nicht ein Pilz? Er sieht aus wie ein Regenschirm über einem eingefangenen Stückchen Nacht.

Als sich Heinz Heide unter einer Buche niederließ, er war vielleicht müde, wartete die Dunkelheit ungeduldig vor ihm. Er solle gehen, es tauge nichts; man sei kein Feldkönig! Zu Hause brenne die Lampe, hinter der Lampe sitzt Großmutter, sie liest in der Goffine. Ei, es sei herzerwärmend, so einzutreten! Guten Abend! sagt man, man klopft die Stiefel aus, die Kinder sind da, der Vater soll spielen!

Da ging Heinz Heide. Und, sagte die Dunkelheit, sie müsse wacker zuschreiten, man erwarte sie überall, die Leute wollen in den Feierabend.

Sehen Sie nun? sagte sie. Ob er seine Lampe sehe? – Heinz Heide habe es gut, lachte sie großmütterlich, und begleitete ihn bis vor das Haus. Sie begleitete ihn sogar noch die Treppen hinauf, es sei so traulich in einem alten Hause, sie liebe die alten Häuser. Es gebe in einem alten Hause, schwatzte sie, kein Geheimnis, das sie nicht kenne.

Ich werde dich gleich vertreiben! lehnte Heinz Heide das Gewehr an den Türpfosten und klinkte die Türe ins Grafenzimmer auf.

Und wahrhaftig, sie tat da einen Schrei. Denn unter der Lampe, die im Grafenzimmer hing, stand ein Mann, der sprang auf, die Lampe wackelte, sie klirrte ein bißchen. Der Mann lief in die Mitte des Zimmers und blieb da mit herabhängenden Armen stehen und schaute auf Heinz Heide, der den Fuß nicht von der Schwelle heben konnte.


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