Ludwig Thoma
Altaich
Ludwig Thoma

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Fünftes Kapitel

»Wer nach Altaich fahrt, aussteigen!« rief der Schaffner, als der Personenzug in Piebing hielt. Er öffnete die Türe eines Wagens zweiter Klasse und fragte:

»De Herrschaft'n fahr'n nach Altaich?«

»Jawollja – spricht Olja«, antwortete ein beleibter Herr, der in einem hellen Staubmantel steckte und eine Reisemütze trug.

Er kletterte ziemlich behende aus dem Wagen und rief: »Nanu! Wo is denn'n Träger?«

»Koan Träger gibt's da net«, sagte der Schaffner. »Aber i hilf Eahna scho, und der Stationsdiener tuat aa mit.«

Der Herr sprach in den Wagen hinein.

»Also Kinner, kommt mal raus! Hier sind wir richtig.«

Eine stattliche Dame und nach ihr ein schlankes, hübsches Mädchen von etwa zwanzig Jahren kamen aus dem Coupé...

»Stine!« rief die Dame. »Reichen Sie das Gepäck heraus!«

Die Zofe, eine stattliche, hochgewachsene Blondine, nahm eine Reisetasche aus dem Netze und eine Hutschachtel und eine kleinere Tasche, dann einen Plaid mit Schirmen und Stöcken, und noch eine Hutschachtel.

Der Schaffner nahm ihr die Gepäckstücke ab und stellte sie behutsam nieder.

Dann pfiff er dem Stationsdiener, der gemächlich herankam.

»De Herrschaft'n fahr'n nach Altaich. Hilfst eahna's Gepäck danach in 'n Zug eini toa.«

»Is scho recht. Mir hamm no lang Zeit; der Altaicher is no gar net einag'fahr'n.«

Der Herr im Staubmantel überzeugte sich, daß auch das große Gepäck ausgeladen worden war, drei Koffer und zwei umfangreiche Hutschachteln.

Dann schritt er neben seinen Damen auf und ab und betrachtete die Gegend ganz so kritisch, wie man es von dem Rentier Gustav Schnaase aus Berlin erwarten durfte.

Hinter dem kleinen Bahnhofe führte eine mit Birken eingefaßte Straße nach einem größeren Orte, von dem man etliche Gebäude, anscheinend Brauereien, und mehrere Kirchen sah.

Die kleineren Häuser versteckten sich hinter Laubbäumen.

Bis an den Ort heran schoben sich bewaldete Hügel, an deren Fuß ein Fluß zu sein schien; man konnte das aus den Weiden schließen, die seinem Laufe folgten.

Im ganzen ein hübsches, friedliches Bild. Das helle Grün der abgemähten Wiesen stieß an gelbe Kornfelder. Die Halme bewegten sich im Winde, und so liefen die Schatten bis zu den Weiden hin, machten Schwenkungen und verloren sich in der Ferne.

»Sagen Sie mal, was ist das für'n Ort?« fragte Schnaase den Stationsdiener und deutete auf Piebing.

»Dös? Dös is Biewing.«

»Und wo liegt Altaich?«

Der Stationsdiener deutete mit dem Daumen halbrechts. »Dort hint'n.« Schnaase sah scharf nach der Richtung hin.

Felder. Weiter entfernt Hügel, die sich ineinander schoben. »Dort hinten? Na, sagen Sie mal, wo sind denn nu Ihre Alpen?«

»Alp'n?«

»Ja. Ihr Gebirge?«

Der Stationsdiener schüttelte den Kopf.

»Von koan Gebirg woaß i nix«, sagte er und ging weg.

»Nanu, Karline, siehste? Was ich mir schon den ganzen Weg hierher dachte, die Brüder haben uns geleimt mit dem Inserat. Aber mir haben schon die Kinkerlitzken nich gefallen. Nu wart mal auf dein Alpenglühen!«

»Ich finde es lächerlich, wie du seit München immer und ewig das gleiche sagst. Warte doch mal ab. Und übrigens stand im Inserate: Voralpen. Was hat es für'n Zweck, daß du mir die Laune verderben willst?«

»Will ich doch gar nich. Ich konstatiere einfach die Tatsache, und ich bin nu mal nich blind gegen die Tatsachen. Wenn es heißt Voralpen, dann müssen doch mindestens hinten die Alpen sein, und zwar in der Nähe und so, daß man se sieht. Nich wahr? Denn tausend Kilometer vor den Alpen is am Ende Schöneberg ooch.«

»Du kannst ja deine scharfsinnigen Bemerkungen machen, wenn wir erst mal in Altaich sind. Ich sehe nich ein, warum du schon vorher nörgelst.«

Schnaase wollte erwidern, als sein Blick auf die Altaicher Lokomotive fiel, die schnaubend und pustend mit zwei kleinen Wagen dahinter einfuhr.

»Heiliger Bimbam!« rief er. »Das is ja die Olle von Potsdam, mit der Großvater das erstemal fuhr. Die wurde doch Anno Null ausrangschiert, wie der große Wind war! Also da is se jetzt?«

Freilich hatte die Lokomotive nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Maschine des zwanzigsten Jahrhunderts, aber es war doch beleidigend, wie sich der fremde Herr vor sie hinstellte und ein lärmendes Gelächter aufschlug.

Der Führer schob sein rußiges Gesicht aus dem Verschlage und maß den Spötter mit bösen Blicken.

Schnaase gab nicht acht darauf und rief immer wieder: »Nee, so was lebt nich mehr! Nu sieh mal bloß den Schornstein! Es is die Olle von Potsdam...«

Endlich ging er weg und stieg mit Frau, Tochter und Stine in einen von den kleinen Wagen, wo er wieder Anlaß zur lauten Heiterkeit fand.

»Ich will dir mal was sagen, Karline, nu bin ich im Bilde, und die Sache gefällt mir schon besser. Nach den Waggongs zu schließen, kommen wir in patriarchalische Zustände, und wenn Schwindel dabei is, denn is es wenigstens keen moderner Schwindel. Sieh dir die Bänke an und den Ofen! 'n richtig gehenden Ofen haben se drin! Kinner, was sagt ihr nu?«

»Ich sage, du sollst nich ewig kritisieren. Daß es nich der Hamburger Schnellzug is, weiß ich auch. Und wenn ich Stadtbahn haben will oder Untergrundbahn, denn bleibe ich eben zu Hause.«

»Will ich doch gar nich! Nee, im Jejenteil! Spaß beiseite, Ernst in de Tasche, ich fasse Zutrauen zu den Leuten und der Umjejend. Wo man sonne Bahnen hat, da laß dich ruhig nieder! Da is noch Biedersinn und Zurückgebliebenheit.«

»Nu halte nich fortwährend Reden, Gustav!«

»Versteh mich richtig, Karlineken! Du meinst immer, ich nörgle; ich spreche aber meine volle Zufriedenheit aus. 'n Ort, zu dem man mit sonner Bahn fährt, kennt keine Schwindelpreise und Ausbeutung und Fremdenindustrie. Die Leute sind primitiv. Und primitiv is gut. Ich bin ausgesöhnt mit der Gegend, und wenn se uns, oder vielmehr, wenn se dir, Karline, auf den Leim gelockt haben mit ihre Voralpen ohne Hinteralpen, dann sage ich einfach, es is Inserat. Und Inserat is erlaubter Schwindel. Wenn ich ne Wohnung an der Hedemannstraße inseriere, mache ich se ooch schöner, wie se is.«

Herr Schnaase hatte keine Zuhörerinnen, da sich seine Frau unwillig abgewandt hatte und Henny und Stine zum Fenster hinaussahen.

Das hätte ihn nicht abgehalten, weiter zu reden, aber die Umgebung erregte seine Neugierde, und da der Zug noch immer hielt, stand er auf und stellte sich auf die Plattform hinaus.

Er sah, wie der Stationsdiener zwei schäumende Maßkrüge zur Lokomotive hinaufreichte, wie der Führer und der Heizer sie nahmen, und wie sie sich nach etlichen kräftigen Schlucken mit dem Stationsdiener unterhielten.

Da alle drei zu ihm hinsahen und dann ein dröhnendes Gelächter aufschlugen, konnte er glauben, daß sie sich über ihn unterhielten und einige Nord- und Südgegensätze gefunden hatten.

Er nahm es den primitiven Leuten nicht übel, und daß sie schon wieder Bier tranken, fand er originell. Es entsprach auch den Schilderungen, die man ihm von Bayern gemacht hatte.

Er war so guter Laune, daß er jetzt den Markt Piebing mit Wohlwollen betrachtete.

Er zählte. Eine, zwei, vier Brauereien in dem kleinen Nest! Donnerwetter! Die Brüder hier mußten aasig picheln, wenn sich die rentieren konnten.

Na, man sah's ja.

Der Lokomotivführer reichte dem Stationsdiener die zwei leeren Maßkrüge hinunter und wischte sich mit der rußigen Hand den Schnauzbart ab.

»Ochott!« rief Stine und prallte vom Fenster zurück. »Was sind das für Leute!«

Henny fragte, was denn los wäre. Aber Stine sträubte sich, zu erzählen. »Ochott! Neun!« rief sie mehrmals.

Dann sagte sie, daß der Mann, der die Bierkrüge trug, stehen geblieben sei und sich – ochott! fui! – in die Finger – neun! – geschneuzt habe.

»Un denn fuhr er sich mit der andern Hand, in der er doch die Krüge trug, unter der Nase lang – so...«

Stine machte es nach und verzog ihr hübsches Gesicht vor Abscheu.

Henny sagte, man werde sich hier vermutlich an einiges gewöhnen müssen. Sie habe ganz den Eindruck.

Darin erblickte Frau Schnaase eine Opposition gegen ihre Pläne und Wünsche, denn von ihr war der Vorschlag ausgegangen, und sie hatte es durchgesetzt, daß man nach Altaich reiste.

»Ich verbitte mir diese Bemerkungen, Henny. Wenn Papa und ich mal nach Bayern wollten, dann werden wir wissen, warum. Und wenn wir nich schon wieder nach Zoppot gingen, dann hatten wir unsere Gründe dagegen. Und Stine! Wenn Sie den Anblick nich ertragen können, dann setzen Se sich nich ans Fenster! Übrigens in Klein-Kummerfelde kann ja auch mal so was vorkommen. Nich?«

Stine widersprach, und Henny war schockiert.

Herr Schnaase kam von der Plattform herein und wollte sich über seine Beobachtungen auslassen, aber seine Frau schnitt ihm das Wort ab, und dann setzte sich der Zug in Bewegung.

Er fuhr durch ein fruchtbares Land, das sich wohlig im Sonnenschein ausbreitete und dem Betrachter alles mögliche von einst und jetzt erzählte.

Von Arbeit, die in uralten Formen geschieht und die Geschlechter der Menschen unverändert erhält; von Freuden, die sich ewig gleich wiederholen in den stattlichen Wirtshäusern, vor denen geputzte Maibäume stehen; vom mühseligen und vom lustigen Leben, das in den kleinen Kirchen den ersten Segen empfängt und daneben unter den Kreuzen zur Ruhe kommt.

Kleine Wege liefen neben der Bahn her, huschten über Brücken, versteckten sich hinter Stauden und Bäumen, kletterten die Hügel hinauf und schlichen sich verstohlen in grüne Wälder.

Ein Schloß stand hinter einem Weiher und schaute verächtlich über niedere Häuser weg. Es konnte vielleicht die Zeit nicht vergessen, da es ein gräfliches Lustheim war, mit Genien und Wappen über dem Tore, mit einem auf französische Art geputzten Garten dahinter.

Es hörte in seinen Träumen die Fontäne plätschern, die ihr Wasser übermütig in die Höhe schleuderte und zurückfallen ließ auf einen gravitätischen Neptunus und einige niedere Wassergötter. Es träumte von gezierten Schiffen, die auf dem Weiher fuhren, von tapfermutigen Rittern gelenkt, die denen preiswürdigen Damen ihre brennende Passion erklärten.

Es dachte an vergangene Zeit und schämte sich der Gegenwart, die es zu einem Kinderasyle gemacht hatte. Seine Pracht mußte untergehen, aber in den niedern Häusern mit den strohgedeckten Dächern hatte sich nichts verändert.

Schnaase, der den Kopf zum Fenster hinaus hielt, mochte, wenn auch nicht das, so doch allerlei denken, und Gedanken sprach er aus.


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