William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis, Band 1
William M. Thackeray

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Sowohl Liebe als auch Eifersucht

Unsere Leser haben schon Sir Francis Claverings offenherzige Meinung über die Dame gehört, die ihm ihr Vermögen geschenkt und ihm sein Vaterland und seine Heimat zurückgegeben hat, und es muß zugegeben werden, daß der Baronet in der Abschätzung seiner Frau nicht allzu unrecht hatte, und daß Lady Clavering weder die klügste noch die besterzogenste Frau war. Sie war ein paar Jahre lang in Europa erzogen worden, in einer Vorstadt Londons, die sie unentwegt bis an ihr Ende Ackney statt Hackney nannte, von wo sie im Alter von fünfzehn Jahren abgerufen wurde, um sich zu ihrem Vater nach Kalkutta zu begeben. Und auf ihrer Reise dorthin, an Bord des Ostindienfahrers ›Ramchunder‹ des Kapitän Bragg, mit welchem Schiffe sie zwei Jahre vorher ihre Reise nach Europa gemacht hatte, entspann 448 sich die Bekanntschaft mit ihrem ersten Gatten, Herrn Amory, der auf dem in Rede stehenden Schiffe dritter Steuermann war.

Wir wollen nicht auf den frühern Teil von Lady Claverings Geschichte eingehen, aber Kapitän Bragg, unter dessen Obhut Fräulein Snell zu ihrem Vater fuhr, der einer von des Kapitäns Geschäftsführern und zum Teil Eigentümer des ›Ramchunder‹ und vieler anderer Schiffe war, fand Veranlassung, den rebellischen Schurken von Steuermann in Eisen zu legen, bis sie das Kap erreichten, wo der Kapitän seinen Beamten zurückließ; er übergab schließlich das ihm anvertraute Mädchen ihrem Vater in Kalkutta nach einer stürmischen und gefahrvollen Reise, auf welcher der ›Ramchunder‹ mit Ladung und Passagieren nicht wenig in Gefahr und Not gewesen war.

Einige Monate nachher erschien Amory in Kalkutta, indem er seinen Weg vom Kap aus als Matrose gemacht hatte, heiratete die Tochter des reichen Advokaten trotz des Widerspruches des alten Spekulanten, fing als Indigopflanzer an und machte schlechte Geschäfte, fing wieder als Herausgeber des »Sunderbund Pilot« an und machte wieder schlechte Geschäfte, zankte sich unaufhörlich während aller dieser kaufmännischen Unternehmungen und Unglücksfälle mit seinem Schwiegervater und seiner Frau und beschloß endlich seine Laufbahn mit einem Krach, der ihn Kalkutta zu verlassen und nach Neu-Süd-Wales zu gehen zwang. Im Verlaufe dieser unseligen Vorgänge machte Herr Amory wahrscheinlich die Bekanntschaft Sir Jasper Rogers, des hochgeschätzten Richters vom 449 höchsten Gerichtshofe in Kalkutta, der schon früher einmal erwähnt worden ist; und da die Wahrheit doch heraus muß, so wollen wir nur gestehen, daß es durch den unpassenden Gebrauch des Namens seines Schwiegervaters, der ganz vortrefflich zu schreiben verstand und keines Amanuensis bedurfte, dahin kam, daß das Glück schließlich Herrn Amory verließ und ihn zwang, alles weitere Ankämpfen gegen sein Geschick aufzugeben.

Da das europäische Publikum die Berichte über die in Kalkutta vorgenommenen Verurteilungen nicht sehr eifrig zu studieren gewohnt ist, so kannte es diese Tatsachen nicht so genau wie die Leute in Bengalen, und da Frau Amory und ihr Vater ihr Verbleiben in Indien unbequem fanden, so kam man überein, die Dame sollte nach Europa zurückkehren, wohin sie denn auch mit ihrer kleinen Tochter Betsi oder Blanche kam, die damals vier Jahre alt war. Sie waren von Betsis Amme begleitet, die dem Leser im letzten Kapitel als die vertraute Kammerfrau der Lady Clavering, Frau Bonner, vorgestellt worden ist, und Kapitän Bragg nahm in der Nachbarschaft seiner Wohnung in Pocklington Street ein Haus für sie.

Es war ein sehr unangenehmer häßlicher Sommer, und es regnete einige Zeit nach Frau Amorys Ankunft alle Tage. Bragg war sehr großsprecherisch und unangenehm; vielleicht schämte er sich der indischen Dame, vielleicht wollte er sie gern los werden. Sie glaubte, daß jedermann in London von ihres Gatten Unglück spräche, und daß der König, die Königin und der Hof der Direktoren ihre unglückliche Geschichte 450 kannte. Sie hatte schöne Gelder von ihrem Vater; und da sie keine Verpflichtung hatte, sich in England aufzuhalten, beschloß sie, ins Ausland zu gehen. Sie ging also fort, froh, der finsteren Oberaufsicht des häßlichen Murrkopfes, Kapitän Braggs, zu entkommen. Die Leute weigerten sich nicht, sie in den Städten des Festlandes, wo sie verweilte, aufzunehmen, und ebenso wenig in den verschiedenen Gasthäusern, wo sie stets königlich zahlte. Sie nannte Hackney Ackney, das ist wahr (obwohl sie sonst mit einem etwas fremdartigen, sehr wunderlichen, aber nicht übelklingenden Akzente englisch sprach), sie zog sich wunderbar prachtvoll an, war berühmt wegen ihrer Liebe zum Essen und Trinken und bereitete selbst ihre Curries und Pillaws in jedem Wirtshause, das sie besuchte; aber ihre Eigentümlichkeiten in Sprache und Benehmen gaben ihrem Umgang nur einen gewissen Reiz, und Frau Amory war verdientermaßen allgemein beliebt. Sie war die gutmütigste, heiterste und freigebigste Frau. Sie war zu jeder Vergnügungspartie zu haben, schlug sie vor, wer da wollte. Sie brachte dreimal soviel Champagner, Geflügel und Schinken zu den Picknicks mit als alle anderen. Sie nahm zahllose Logen fürs Theater und Billets für Maskenbälle, die sie an alle Welt wegschenkte. Sie bezahlte den Gastwirten monatelang im voraus; sie half armen heruntergekommenen schnurrbärtigen Stutzern und Witwen, deren Geld nicht langen wollte, mit fortwährender Unterstützung aus ihrer Börse, und in dieser Weise durchzog sie Europa, tauchte in Brüssel, in Paris, in Mailand, in Neapel, in Rom auf, wie ihr gerade die Laune kam. 451 Am letztgenannten Orte erreichte sie die Nachricht von Amorys Tode, und da Kapitän Clavering sich damals auch dort befand und seine Hotelrechnung ebenso wenig wie sein Freund, der Chevalier Strong, bezahlen konnte, so heiratete die gutmütige Witwe den Sprossen des alten Hauses der Clavering, wobei sie allerdings keinen besonderen Kummer um den Taugenichts von einem Gatten, den sie verloren hatte, an den Tag legte; und so haben wir sie bis in die gegenwärtige Zeit begleitet, wo sie Herrin von Clavering Park war.

Das Fräulein folgte ihrer Mama auf den meisten ihrer Pilgerfahrten und lernte so ein gut Teil Leben kennen. Sie hatte eine Zeitlang eine Gouvernante und nach ihrer Mutter zweiter Heirat den Genuß, in Madame de Caramels auserlesene Pension in den Champs Elysees zu kommen. Als die Claverings nach England kamen, ging sie natürlich mit ihnen. Erst nach Verlauf einiger Jahre, nach dem Tode ihres Großvaters und der Geburt ihres kleinen Bruders, begann sie zu verstehen, daß ihre Position im Leben verändert und daß Fräulein Amory, niemandes Tochter im Vergleich mit dem jungen Herrn Francis Clavering, dem Erben eines uralten Baronetstitels und eines adligen Grundbesitzes, im Hause eine sehr unbedeutende Persönlichkeit wäre. Wenn der kleine Frank nicht gewesen wäre, so würde sie trotz ihrem Vater eine reiche Erbin gewesen sein, und obwohl sie nicht viel vom Gelde verstand oder sich darum kümmerte, und auch keinen Zug dazu in sich fühlte, und obwohl sie eine so romantische kleine Muse war, wie wir gesehen haben, so 452 konnte sie doch begreiflicherweise Personen, die so dazu beigetragen hatten, daß sie ihre Stellung veränderte, nicht dankbar sein; ja sie begriff nicht einmal, wie die Sache wirklich lag, bis sie ein paar weitere Fortschritte gemacht und sich größere Weltkenntnis erworben hatte.

Aber das war klar, daß ihr Stiefvater einfältig und schwach war, daß Mama die H's vergaß und in Benehmen und Erscheinung nicht sehr gebildet war, und daß der kleine Frank ein schlecht erzogener, zänkischer, kleiner Bengel war, der stets seinen Willen haben wollte, ihr stets auf die Füße trat, ihr stets sein Essen auf die Kleider schüttete und sie aus ihrer Erbschaft verdrängte. Niemand von diesen, das fühlte sie, würde sie verstehen, und so sehnte sich ihr einsames Herz natürlich nach anderen Verbindungen, und sie suchte unter ihrer Umgebung nach einer Seele, der sie das kostbare Geschenk ihrer unbenützten Liebe widmen könnte.

Dieses liebe Mädchen also machte sich damals, aus Mangel an Sympathie oder aus einer anderen Ursache, so mißliebig zu Hause, setzte ihre Mutter in Schrecken und ärgerte ihren Stiefvater so sehr, daß sie sich möglichst danach sehnten, sie möchte sich im Leben selbständig machen; und daher kam der Wunsch, den Sir Francis Clavering im letzten Kapitel gegen seinen Freund aussprach, daß nämlich Frau Strong sterben und er dann Blanche als zweite Frau Strong zu sich nehmen möchte.

Da aber das nicht anging, so war jeder andere, der sie sich gewinnen wollte, willkommen, und ein 453 hübscher junger Mensch von gutem Aussehen und guter Erziehung, wie unser Freund Arthur Pendennis, hatte völlige Erlaubnis, wenn er Lust dazu hatte, um sie zu werben, und er würde von Lady Clavering mit offenen Armen als Schwiegersohn aufgenommen worden sein, wenn er nur den Mut gehabt hätte, als Bewerber um Fräulein Amorys Hand hervorzutreten.

Herrn Pen indessen beliebte es, außer anderen Gegengründen, ein ganz außerordentliches Mißtrauen in sich selbst zu setzen. Er war beschämt über seine vergangenen Fehltritte, seine untätige und namenlose Stellung und über die Armut, in die er seine Mutter durch seine Torheit gebracht hatte; und es lag in seinem gegenwärtigen zweifelnden und mißtrauischen Gemütszustande ebensoviel Eitelkeit wie Gewissensbiß. Wie konnte er je hoffen, einen solchen Preis wie diese glänzende Blanche Amory zu gewinnen, die in einem schönen Park und auf einem großen Schlosse lebte und von einem halben Schock vornehmer Domestiken bedient wurde, während ein einziges Dienstmädchen ihr mageres Mahl zu Fairoaks hereintrug, und seine Mutter knausern und rechnen mußte, um nur auszukommen. Die Hindernisse schienen ihm unüberwindlich, die beseitigt sein würden, wenn er mannhaft drauf los gegangen wäre; aber er zog es vor, an seinen Wünschen zu verzweifeln oder mit ihnen zu spielen, – oder sie waren ihm vielleicht auch bis jetzt noch nicht recht klar geworden, – um den Versuch zu machen, kühn den Gegenstand seiner Sehnsucht zu erobern. Mancher junge Mann macht infolge dieser Art Eitelkeit, die man Schüchternheit nennt, einen Fehler, 454 während er, wenn er gefragt hätte, seinen Willen bekommen würde.

Wir wollen indes nicht behaupten, daß Pen darüber bereits im klaren gewesen ist oder daß er viel mehr getan hat, als sich einzubilden, er werde sich verlieben. Fräulein Amory war reizend und lebhaft. Sie faszinierte und umwarb ihn mit tausend Künsten natürlicher Anmut oder Schmeichelei. Aber außer seiner Schüchternheit und Eitelkeit hatte er doch verborgene Gründe und Zweifel, die ihn zurückhielten. Trotz ihrer Klugheit, ihren Beteuerungen und ihren bezaubernden Künsten hatte Pens Mutter das Mädchen erraten und traute ihr nicht. Frau Pendennis sah, daß Blanche leichtsinnig und frivol war, und entdeckte viele Fehler an ihr, die die reine und frommdenkende Dame abstießen, einen Mangel an Ehrfurcht vor ihren Eltern und noch heiligeren Dingen, wie es Helene vorkam; und unter ihren schönen Worten und zärtlichen Ausdrücken verbargen sich Weltlichkeit und Egoismus. Laura und Pen fochten diese Behauptungen der Witwe zuerst mit großer Entschiedenheit an, denn Laura war bis jetzt noch begeistert von ihrer neuen Freundin und Pen in der Liebe noch nicht genug vorgeschritten, um irgendwelche Verheimlichung seiner Gefühle zu versuchen. Er pflegte über diese Einwendungen Helenes zu lachen oder zu sagen: »Bah, Mutter! Du bist eifersüchtig wegen Laura – alle Weiber sind eifersüchtig!«

Aber als sie im Laufe eines oder vielleicht zweier Monate, in denen sie das Paar mit jener Aengstlichkeit beobachtete, mit der liebende Mütter die Neigungen 455 ihrer Söhne beobachten – worin ohne Zweifel eine Art weiblicher Eifersucht von Seiten der Mutter und eine geheime Qual liegt – als Helene also sah, daß die Intimität Fortschritte zu machen schien, daß die beiden jungen Leute fortwährend Vorwände, sich zu treffen, ausfindig machten, und daß Fräulein Amory entweder in Fairoaks oder Herr Pen täglich im Parke war, begann das Herz der armen Witwe zu verzagen; ihr Lieblingsplan schien ihr zunichte zu werden, und indem sie ihrer Schwachheit nachgab, sagte sie Pen eines Tages ganz offen, was ihre Hoffnungen und sehnsüchtigen Wünsche wären, daß sie ihre Kräfte abnehmen fühlte und nicht lange mehr auf dieser Welt sein würde; sie hoffte und bäte Gott, vor ihrem Scheiden noch ihre beiden Kinder vereint zu sehen. Die letzten Ereignisse sowie Pens Leben und Treiben und seine frühere Leidenschaft für die Schauspielerin hatten das Herz dieser zarten Dame gebrochen. Sie fühlte, daß er ihr entschlüpft und nicht mehr im mütterlichen Neste wäre, und sie klammerte sich mit krankhafter Liebe an Laura, diese Laura, die ihr von ihrem Franz im Himmel zurückgelassen worden war.

Pen küßte und tröstete sie mit seiner großartigen Gönnermiene. Er hätte etwas davon gesehen und längst schon gedacht, daß seine Mutter diese Heirat wünschte; ob Laura etwas von der Sache wüßte? (Bewahre, sagte Frau Pendennis, um alles in der Welt würde sie so etwas nicht zu Laura geäußert haben.) Nun, nun, dann wäre es noch Zeit genug, seine Mutter würde schon nicht sterben, sagte Pen lachend, er wollte von solchem Zeug nichts hören, und was die Muse 456 beträfe, so wäre sie eine viel zu vornehme Dame, um ihn armen kleinen Kerl zu beachten – und, wer weiß, ob Laura ihn überhaupt haben wollte? »Sie würde allerdings alles tun,« fügte er hinzu, »was du sie heißest. Aber bin ich ihrer auch wert?«

»O Pen, du könntest es sein,« war die Erwiderung der Witwe. Pen zweifelte auch nicht im geringsten, daß er es sein könnte, und ein unbeschreibliches Gefühl von Freude und Selbstzufriedenheit kam bei dem Gedanken an diesen Vorschlag über ihn, und wenn er sich Laura vorstellte, wie sie alle die vergangenen Jahre hindurch in seinem Gedächtnis gestanden, stets hold und offen, freundlich und fromm, heiter, zärtlich und wahr. Er sah sie mit glänzenden Augen an, als sie am Schlusse dieser Unterhaltung mit hochgeröteten Wangen, offnen und lächelnden Blicken aus dem Garten hereinkam, ein Körbchen Rosen in ihrer Hand.

Sie nahm die schönsten von ihnen und brachte sie zu Frau Pendennis, die von dem Duft und der Farbe dieser Blumen erquickt war, hing sich zärtlich an sie und gab ihr den Strauß.

»Und diesen Preis könnte ich haben, wenn ich nur wollte!« dachte Pen, den es beim Anblick des lieben Mädchens triumphierend durch alle Nerven zuckte. »O, sie ist so schön und edel wie ihre Rosen.« Das Bild der beiden Frauen blieb später für alle Zeit in seiner Seele, und er erinnerte sich nie daran, ohne daß ihm Tränen in die Augen traten.

Ehe noch eine sehr lange Intimität mit ihrer neuen Bekanntschaft stattgefunden hatte, war Fräulein Laura jedoch genötigt, Helenes Meinung zuzustimmen und 457 einzugestehen, daß die Muse egoistisch, unfreundlich und unbeständig war.

Der kleine Frank zum Beispiel mochte sehr herausfordernd sein und Blanche die Liebe ihrer Mutter geraubt haben, aber das war kein Grund, daß Blanche dem Kinde Ohrfeigen geben durfte, weil er ihr ein Glas Wasser über ihre Zeichnung warf, und daß sie ihm eine Menge Schimpfnamen in englischer und französischer Sprache geben durfte, und der Vorzug, den man dem kleinen Frank gab, war sicher kein Grund, daß Blanche sich eine Herrschermiene gegen die Gouvernante des Knaben anmaßen durfte und diese junge Dame im Hause auf Botengänge umherschickte, um ihr ein Buch oder ihr Taschentuch zu holen. Wenn ein Bedienter einen Botengang für die wackere Laura machte, so war sie stets dankbar und zufrieden, wogegen sie nicht umhin konnte zu bemerken, daß die kleine Muse nicht den geringsten Skrupel fühlte, ihre Befehle aller Welt um sich herum zu erteilen und jedermanns Vergnügen oder Bequemlichkeit zu stören, damit er zu ihrem eigenen beitrage. Es war Lauras erste Erfahrung auf dem Gebiete der Freundschaft, und es tat dem lieben Geschöpfe das Herz weh, die Täuschungen, eine nach der anderen, diesen Zauber und diese glänzenden Eigenschaften, womit ihre Phantasie ihre neue Freundin geschmückt hatte, aufgeben zu müssen und die Entdeckung zu machen, daß die bezaubernde kleine Fee nur eine Sterbliche, und noch dazu eine nicht allzu liebenswürdige, sei. Welchen edelsinnigen Menschen gibt es, der nicht seinerzeit ebenso betrogen worden ist? – Welchen Menschen vielleicht, 458 der seinerseits nicht auch anderen solche Enttäuschungen bereitet hätte?

Nach dem Auftritt mit dem kleinen Frank, in welchem dieser widerspenstige Sohn und Erbe des Hauses Clavering jene französischen und englischen Komplimente und die begleitende Ohrfeige von seiner Schwester bekommen hatte, konnte Fräulein Laura, die viel Humor besaß, nicht umhin, sich einige sehr rührende und zärtliche Verse ins Gedächtnis zurückzurufen, die die Muse ihr aus »Meine Tränen« vorgelesen hatte und welche begannen: »Mein lieber kleiner Bruder, o Engel schirmet ihn,« in denen die Muse, nachdem sie das Kind zu der Lebensstellung, die es dereinst einnehmen sollte, beglückwünscht und sie mit ihrer eigenen verlassenen Lage verglichen hatte, nichtsdestoweniger gelobte, daß der teure Engel von einem Knaben sich nie solch einer Liebe wie der ihrigen erfreuen oder in der falschen Welt, die ihn einst umgeben würde, irgend etwas so Beständiges und Zärtliches wie einer Schwester Herz finden sollte. »Mag sein,« sagte die Verlassene,

»Mag sein, daß du's nicht achtest,
Du lieber Kleiner mein,
Daß du mich von dir stoßest,
Die Füß' umklammr' ich dein!
Laß mich, laß mich dich lieben!
Auch dir lügt sie, die Welt –
In ewiger Treu' alleine
Bin ich's, die zu dir hält.«

Und siehe da, die Muse gab ihrem geliebten Bruder Ohrfeigen, anstatt zu seinen Füßen zu knien, und 459 Fräulein Laura ihre erste Lektion in der zynischen Philosophie – doch nicht ihre allererste, – denn sie war von etwas ähnlichem wie diese Selbstsucht und dieses launische Wesen, etwas ähnlichem wie dieser Kontrast zwischen Praxis und Poesie, zwischen großartigem in Verse gesetztem Streben und dem alltäglichen Leben zu Hause bei unserem jungen Freunde Pen Zeuge gewesen.

Aber bei Pen war es doch anders. Pen war ein Mann. Es schien einigermaßen natürlich, daß er seinen eigenen Willen und Weg haben wollte. Und unter seinem Eigensinn und seiner Selbstsucht verbarg sich doch ein gutes edles Herz. Ach, es war hart, daß solch ein Diamant gegen einen derartigen falschen Stein ausgewechselt werden sollte. Mit einem Worte, Laura fing an, ihrer bewunderten Blanche satt zu werden. Sie hatte sie geprüft und nicht treu befunden, und ihre frühere Bewunderung und ihr Entzücken, die sie mit ihrer gewohnten edlen Ungekünsteltheit ausgesprochen hatte, wichen einem Gefühle, das wir nicht grade Verachtung nennen wollen, aber indes nicht weit davon entfernt war, und das Laura veranlaßte, gegen Fräulein Amory einen ernsten und ruhigen Ton der Ueberlegenheit anzunehmen, der der Muse zuerst durchaus nicht gefallen wollte. Niemand sieht sich gern durchschaut oder begibt sich gern tiefer, wenn er einen höheren Platz eingenommen hat.

Das Bewußtsein, daß dieser Fall ihr drohte, diente nicht dazu, Fräulein Blanches gute Laune zu erhöhen, und da sie ärgerlich und unzufrieden mit sich selbst war, so machte es sie auch wahrscheinlich noch weniger angenehm für die Personen ihrer Umgebung. 460 So entspann sich denn eines verhängnisvollen Tages ein entscheidendes Treffen zwischen der teuersten Blanche und der teuersten Laura, in dem die Freundschaft zwischen beiden geradezu totgeschlagen wurde. Die teuerste Blanche war ungewöhnlich launisch und böse an diesem Tage gewesen. Sie war zu ihrer Mutter unverschämt gewesen, wütend gegen den kleinen Frank, abscheulich impertinent in ihrem Benehmen zu der Gouvernante des Knaben und unerträglich grausam zu der Pincott, ihrem Kammermädchen. Da sie ihre Freundin nicht anzugreifen wagte (denn die kleine Tyrannin war von feiger Katzennatur und brauchte ihre Krallen nur gegen diejenigen, die schwächer als sie selbst waren), behandelte sie alle diese schlecht und besonders die arme Pincott, die Zofe, Vertraute, Gesellschafterin (aber stets Sklavin) war, wie es ihrer jungen Herrin gerade einfiel.

Als dieses Mädchen, die mit den jungen Damen im Zimmer gesessen hatte, durch die Grausamkeit ihrer Gebieterin in Tränen von dort fortgetrieben und noch beim Fortgehen, als sie schluchzend durch die Tür trat, mit einem spöttischen Worte gepeinigt worden war, brach Laura offen in einen lauten und entrüsteten Widerspruch gegen solch ein Benehmen aus, sprach ihre Verwunderung aus, wie ein so junges Mädchen die Achtung, die sie älteren, und die Nachsicht, die sie niedergestellteren Personen schuldig wäre, so vergessen könnte, und wie jemand, der sich als eine so empfindsame Seele darstellen wollte, die Gefühle anderer so rücksichtslos martern könnte. Laura sagte ihrer Freundin, ihr Benehmen wäre so absolut gottlos, daß sie den 461 Himmel auf ihren Knien um Verzeihung dafür bitten müßte. Und nachdem sie ihre glühende und sehr geläufige Rede beendet, deren Abhaltung die Rednerin fast ebensosehr wie ihre Zuhörerin in Erstaunen versetzte, lief sie nach Hut und Schal und eilte durch den Park in großer Hast und Gemütsaufregung nach Hause, sehr zum Erstaunen der Frau Pendennis, die sie vor Nacht nicht zurückerwartet hatte.

Mit Helene allein, machte Laura einen Bericht der Szene und sagte, daß sie von ihrer Freundin fortan nichts mehr wissen wollte. »O Mama,« sagte sie, »du hattest doch recht; Blanche, die so sanft und gütig scheint, ist, wie du gesagt hast, egoistisch und grausam. Sie, die immer von ihrem Gefühl spricht, kann kein Herz haben. Kein braves Mädchen würde eine Mutter so betrüben oder einen Dienstboten so quälen; und – und, ich will von heut ab nichts mehr von ihr wissen und will keine andere Freundin mehr als dich haben.«

Hierauf küßten sich die beiden Damen, wie das ihre Gewohnheit war, ein Weilchen feierlich ab, und Frau Pendennis zog aus dem kleinen Streite einen großen geheimen Trost, denn Lauras Geständnis schien zu sagen: »Dies Mädchen kann nie eine Frau für Pen sein, denn sie ist leichtsinnig und herzlos, und unseres edlen Helden ganz unwürdig. Er wird sicherlich selbst ihre Unwürdigkeit herausfinden, und dann wird er vor diesem oberflächlichen Geschöpfe bewahrt sein und aus seiner Selbsttäuschung erwachen.«

Aber Fräulein Laura erzählte Frau Pendennis nicht, was die wirkliche Ursache des Zankes an diesem Tage gewesen war; vielleicht erkannte sie dieselbe auch 462 nicht einmal selbst. In sehr boshafter Laune und nach allen Seiten Unheil stiften wollend, hatte die kleine gottlose Muse von einer Blanche sehr bald ihre Späßchen begonnen. Ihre geliebte Laura war gekommen, um einen ganzen Tag bei ihr zu verbringen, und als sie im Zimmer zusammensaßen, hatte es ihr beliebt, die Unterhaltung auf Herrn Pen als Gegenstand hinzulenken.

»Ich fürchte, er ist abscheulich unbeständig,« bemerkte Fräulein Blanche; »Frau Pybus und viele andere Leute aus Clavering haben uns alles über ihn und die Schauspielerin erzählt.«

»Ich war noch ein vollständiges Kind, als die Sache passierte, und ich weiß gar nichts davon,« antwortete Laura, die über und über errötete.

»Er benahm sich sehr schlecht gegen sie,« sagte Blanche, indem sie ihr Köpfchen wiegte. »Er war falsch gegen sie.«

»Das war er wahrhaftig nicht,« rief Laura aus; »er handelte sehr großmütig gegen sie, er wollte alles aufgeben, um sie zu heiraten. Sie war falsch gegen ihn. Es brach ihm fast das Herz deswegen, er –«

»Ich dachte, Sie wüßten gar nichts von der Geschichte, Liebste,« unterbrach sie Fräulein Blanche.

»Mama hat es gesagt,« entgegnete Laura.

»Nun gut, er ist sehr gescheidt,« fuhr die andere liebe Kleine fort. »Was für ein zarter Dichter er ist! Haben Sie jemals etwas von seinen Gedichten gelesen?«

»Nur den ›Fischer‹ und den ›Taucher‹, die er für uns übersetzt hat, und sein Preisgedicht, das aber 463 keinen Preis bekam und das ich in der Tat für sehr schwülstig und prosaisch hielt,« sagte Laura lachend.

»Hat er Ihnen denn nie ein Gedicht gewidmet, Liebe?« fragte Fräulein Amory.

»Nein, meine Liebe,« sagte Fräulein Bell.

Blanche lief auf ihre Freundin zu, küßte sie zärtlich, nannte sie wenigstens dreimal ihre teuerste Laura, sah ihr forschend ins Gesicht, schüttelte den Kopf und sagte: »Versprechen Sie mir, es niiieeeemand zu sagen, und ich will Ihnen etwas zeigen.«

Dann trippelte sie mit zierlichen Schritten durch die Stube auf ein kleines perlmutterausgelegtes Pult zu, öffnete es mit einem silbernen Schlüssel und nahm zwei oder drei zusammengefaltete und mit ziemlich viel grünen Flecken beschmutzte Papiere heraus, die sie ihrer Freundin einhändigte. Laura nahm sie und las. Es waren Liebesgedichte, das war klar – etwas von Undine – von einer Najade – von einem Flusse. Sie sah sie lange Zeit an, aber die Zeilen verschwammen ihr tatsächlich fast vor den Augen.

»Und Sie haben darauf geantwortet, Blanche?« fragte sie, indem sie die Papiere zurücklegte.

»O nein! um alles in der Welt nicht, Liebste,« sagte die andere, und als ihre liebste Laura die Verse ganz gelesen hatte, trippelte sie zurück und steckte sie wieder in das niedliche Pult.

Dann ging sie an ihr Piano und sang zwei oder drei Lieder von Rossini, welch herrliche Musikpiecen ihr biegsames Stimmchen mit höchster Vollkommenheit ausführte, und Laura saß dabei und hörte ihr nur mit halbem Ohre zu. Was dachte Fräulein Bell wohl 464 während dieser Zeit? Sie wußte es kaum, aber sie saß stumm da, während die Töne an ihr vorüberrollten. Nach diesem Konzert wurden die jungen Damen in das Speisezimmer gerufen, wo das Frühstück aufgetragen war, und wohin sie einander natürlich umfassend gingen.

Und es konnte nicht Eifersucht oder Aerger gewesen sein, was Laura so schweigsam gemacht hatte; denn nachdem sie den Korridor entlang getrippelt, die Stufen hinabgestiegen und im Begriffe waren, die Tür, die zur Halle führt, zu öffnen, blieb Laura stehen, sah ihrer Freundin herzlich und offen ins Gesicht und küßte sie mit schwesterlicher Wärme.

Irgend etwas passierte danach – Mister Franks Art und Weise, wie er aß wahrscheinlich, oder Mamas Benehmen und Sprache oder Sir Francis Zigarrenduft, den er um sich verbreitete – genug, Fräulein Blanche wurde ärgerlich und überließ sich jener Aufeinanderfolge von Bosheiten, von der wir schon gesprochen haben, und die mit dem obenerwähnten kleinen Streit endeten.

 

Ende des ersten Bandes

 


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