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Kriminalgeschichte ist Kulturgeschichte. Die Wahrheit dieses Satzes wurde aber erst spät erkannt. Der erste Schriftsteller, welcher eine Sammlung der merkwürdigsten Kriminalfälle für Juristen, Psychologen und das große gebildete Publikum schuf, war der berühmte französische Rechtslehrer François Gayot de Pitaval. Er ließ vom Jahre 1734 angefangen zwanzig Bände seiner » Causes célèbres et intéressantes« erscheinen. Das Werk, welches ungeheuren Anklang fand, wurde nach seinem Tode von J. C. de Laville fortgesetzt. Der Parlamentsadvokat Richer gab sodann der Sammlung, der man mit Recht vorwarf, daß sie einen Wust von nicht zur Sache gehörigen Betrachtungen enthalte, eine neue Gestalt, durch welche er sich bestrebte, den Leser in Spannung zu erhalten. Eine Auswahl dieser Kriminalgeschichten wurde im Jahre 1792 in Jena unter dem Titel: »Merkwürdige Rechtsfälle, als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit« veröffentlicht, zu der kein Geringerer als der deutsche Dichterfürst Friedrich Schiller die Vorrede schrieb. Eine weitere Fortsetzung des Werkes begannen im Jahre 1842 unter dem Titel: »Neuer Pitaval« der deutsche Kriminaldirektor Dr. J. E. Hitzig und der Schriftsteller Dr. W. Häring (Pseudonym: »Willibald Alexis«). Später wurde die Kompilation von Dr. A. Vollert weitergeführt. Endlich erscheint gegenwärtig in Tübingen »Der Pitaval der Gegenwart«, herausgegeben von Dr. R. Frank, Professor in Tübingen, Dr. G. Roscher, Polizeidirektor in Hamburg und Dr. H. Schmidt, Reichsgerichtsrat in Leipzig.
Wenn wir die hier aufgezählten Sammelwerke durchstudieren, so finden wir im alten »Pitaval« hauptsächlichst nur französische Prozesse berücksichtigt, was einleuchtet, da ja der Schöpfer desselben ein Gallier war. Der Franzose sucht bekanntlich Welt und Menschen nur in seiner Nation. Auch stand ihm sicherlich das einschlägige Material müheloser zur Verfügung. Verwunderlicher ist dagegen, daß auch die verschiedenen Fortsetzungen der Sammlung in der Mehrzahl bloß französische Fälle bringen, obwohl die deutschen Herausgeber ausdrücklich bemerken, daß »auffällige Kriminalgeschichten nicht mehr dem Lande allein gehörten, wo sie vorgefallen, auch nicht der Wissenschaft allein«, daß sie vielmehr »das traurige Vorrecht hätten, ein großes Gemeingut zu sein«. Immerhin begegnen wir nebenbei zahlreichen englischen und deutschen Kriminalbegebenheiten.
Was nun die letzteren betrifft, so werden wir in alle möglichen deutschen Kleinstädte versetzt, nur von Wien ist fast nie die Rede. Dies ist um so merkwürdiger, als Wien doch vor Entstehung des norddeutschen Bundes die bedeutendste und größte Stadt Deutschlands war.
Die Erklärung liegt darin, daß der Wiener, namentlich der von Anno dazumal, niemals eine besondere Vorliebe für Seelenforschung besaß, sondern leichtlebig und sorgenlos den Herrgott einen guten Mann sein ließ. Das beredteste Zeugnis hiefür ist die Tatsache, daß, als im Jahre 1850 mit Einführung der neuen Gerichtsordnung der »Criminalsenat des Wiener Magistrates« aufgelöst wurde, um seine Zuständigkeit für Verbrechen an die landesfürstlichen neugeschaffenen Gerichte abzutreten, der Präsident desselben den Aktenbestand des ehemaligen Wiener Kriminalgerichtes bei Übergabe der Geschäfte als wertlos einstampfen ließ. 180 Zentner Akten, nein Kulturdokumente, wurden damals »mit Vorwissen des Vizebürgermeisters Philipp«, des ehemaligen Präsidenten des städtischen Kriminalgerichtes »skartiert«. Die Stadt Wien war somit nicht mehr in der Lage, den späteren Forschern für die Bearbeitung hier vorgefallener Verbrechen Material zu bieten. Alles, was die Bibliothek der Stadt Wien besitzt, ist eine ziemlich umfangreiche Sammlung von gedruckten Urteilen, hauptsächlich Todesurteilen, aus denen sich nicht viel ersehen läßt. Im »Archive« befinden sich allerdings viele geschriebene Bücher des ehemaligen Wiener Kriminalgerichtes, welche die Titel führen: »Annalen«, »Memorabilien«, »Untersuchungsakten«, »Appellationsdekrete«, »Urtheile«, »Ausweisungsdekrete« und »Ratsprotokollsauszüge«, ihr kriminalhistorischer Wert ist aber gering. Außerdem existiert ein Faszikel »Vormerkbücher«, mutmaßlich von dem Magistratsrate Kyselak beim Kriminalsenate angelegt, ein Band Akten aus dem Nachlasse des Magistratsrates Kiesewetter beim genannten Kriminalsenat, ferner ein Geschäftsjournal des Auditors Boleslawski aus den Jahren 1848 und 1849, endlich ein Bündel Akten des dem Stifte Klosterneuburg unterstehenden Polizeikommissariats Brigittenau und Zwischenbrücken aus dem Jahre 1848.
Alle diese Handschriften und Akten stellte dem Verfasser der als Schriftsteller selbst bestens bekannte Archivdirektor, Herr Hermann Hango, in zuvorkommendster Weise zur Verfügung, wofür ihm hiemit bestens gedankt sei. Leider versprechen die erwähnten bescheidenen Überbleibsel, wie oben bemerkt, weit mehr als sie halten. Die Lektüre zeigt, daß es sich meistens nur um Personal- oder sonstige für die gedachte Aufgabe unwesentliche Dinge handelt. Bloß der kleinere Rest gibt über den einen oder anderen Wiener Prozeß der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessanten Aufschluß. Der Verfasser, welcher es sich zur Aufgabe gestellt hatte, zum erstenmal einen » Wiener Pitaval« zu schreiben und seinen Mitbürgern zu zeigen, daß es auch bei uns nichts mehr Neues gibt, daß vielmehr »schon alles dagewesen ist«, war daher auf viele andere Quellen angewiesen. Die Publizistik des Vormärzes kam ihm dabei sehr zustatten. Sie gab ihm Nebenumstände bekannt, welche trotz ihrer kriminalistischen und sozialen Bedeutendheit in Akten nicht festgehalten zu werden pflegen, sie diente ihm aber auch als Richtschnur beim Aufsuchen des nötigen Dokumentenmaterials. Hierbei nahm sich seiner der Direktor der k. k. Universitätsbibliothek, Herr Regierungsrat Dr. Isidor Himmelbaur, in liebenswürdigster Weise an und gewährte ihm alle nur möglichen Begünstigungen. Ich entledige mich einer Ehrenpflicht, dem Herrn Regierungsrat für dieses Entgegenkommen hier den ergebensten Dank auszusprechen.
Zum Schlusse erübrigt es dem Autor außerdem, einer Reihe hervorragender Persönlichkeiten für ihre ähnliche Mithilfe seine Dankbarkeit auszudrücken. Er kann es leider bloß summarisch tun, denn die Namen der betreffenden Herren müssen aus dem einfachen Grunde verschwiegen werden, weil diese eigentlich kein Recht besaßen, dem Schreiber Einblick in die teilweise privaten, teilweise gesetzlich geschützten Archive und Registraturen zu gewähren. Gerade aus diesen Quellen schöpfte der Verfasser aber den Hauptinhalt seiner Erzählungen, wenigstens, soweit es sich um die Epoche vor dem Jahre 1850 handelt. Darüber hinaus erhielten durch sie auch jene Fälle, die sich später ereigneten, vielfach Leben und Farbe.
Wie oben erwähnt, mußte die Publizistik oftmals Lücken ausfüllen. Wenn sich dadurch da und dort eine Unrichtigkeit oder Ungenauigkeit einschlich, so bittet der Verfasser im voraus um Vergebung. Ultra posse nemo obligatur.
Die erste Auflage des »Wiener Pitaval« erschien im Jahre 1913, und zwar in vier, einander in kurzen Zeitintervallen folgenden Bänden. Die Aufnahme war auf Seite der Presse, der Behörden und des Publikums gleich warm, was sich darin äußerte, daß sämtliche Exemplare bald ausverkauft waren. Die Herausgabe der geplanten zweiten Auflage wurde leider durch den Weltkrieg und die infolge desselben eingetretenen mißlichen Verhältnisse verhindert.
Daß das Interesse der Öffentlichkeit aber inzwischen nicht erlahmt war, zeigte sich in unzähligen Nachbestellungen aus ganz Österreich und Deutschland. Ja, selbst aus dem nichtdeutschen Auslande langten beim Verleger und Verfasser seither zahlreiche Anfragen und Bestellungen ein. Dies beruhte nicht nur auf der Vorliebe breiter Schichten für kriminalhistorische Erinnerungen überhaupt, sondern auch auf der Tatsache, daß Gerichte und Polizeibehörden im »Wiener Pitaval« ein Nachschlagebuch erblickten, welches imstande war, auch Illustrations- und Beweismaterial für verschiedene gegenwärtige Strafprozesse zu liefern. In sehr überzeugender Weise trat dies besonders gelegentlich der im Jahre 1918 erfolgten Ermordung des Hotelstubenmädchens Marie Drda zutage, wo die Strafbehörden in die Lage kamen, in dem Täter Josef Fischer auf Grund des »Wiener Pitaval« mit größter Wahrscheinlichkeit einen Mann zu erkennen, der bereits im Jahre 1874 Polizei und Landesgericht in einer bis heute unaufgeklärten sensationellen Mordaffäre beschäftigt hatte. Der strikte Nachweis ließ sich nur deshalb nicht erbringen, weil Fischer im Laufe der Voruntersuchung starb. Ich habe darüber ausführlich in meinem Buche » Kriminaltelepathie und -Retroskopie« (Verlag Max Altmann, Leipzig) berichtet.
So war es denn ein erfreuliches Zeichen österreichischer Tatkraft, daß der Verlag C. Barth trotz der noch immer recht ungünstigen Verhältnisse die Rechte am »Wiener Pitaval« erwarb, um das Werk in zweiter, vermehrter und reich illustrierter Auflage herauszubringen. Die Bilder stammen teils aus dem Wiener Polizeimuseum, teils aus der berühmten Sammlung des Hofrates Konstantin Danhelovsky. Hiefür sei dem Herrn Polizeipräsidenten Hans Schober, sowie dem Herrn Hofrat Danhelovsky, von welch letzterem die Mehrzahl der Illustrationen herrührt, der herzlichste Dank ausgesprochen.