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Wenige Tage später wurde von Indrek Rechenschaft und Auszahlung der gesamten ihm anvertrauten Summe verlangt, und da er außerstande war dieser Forderung in vollem Umfange nachzukommen, so kam alles an den Tag. Er versprach, den Fehlbetrag in wenigen Tagen zu ersetzen, aber es gelang ihm, nur etwa die Hälfte der fehlenden Summe zusammenzubekommen. Denn nun, wo er in materieller Not war, versagten seine wenigen Freunde vollkommen. Ganz zuerst hatte er sich an Otstavel gewandt, diese Polizeiseele, der ihm indessen folgende belehrende Rede hielt:
»Ich trage auch keine fünf Kopeken zwecklos mit mir in der Tasche herum. Sobald ich Geld erhalte, trage ich es auf die Sparkasse, wo es Zinsen trägt, denn Zinsen sind geschenktes Geld. Manchmal zahle ich sogar zu viel in der Sparkasse ein, so daß ich nicht einmal mehr Eßgeld zurückbehalte. Dann pumpe ich eben irgendeinen Freund um einige Rubel, manchmal auch nur um Kopeken an, natürlich ohne Zinsen, denn wer wird von einem Freunde Zinsen nehmen, zumal ich meine Schuld meist schon nach wenigen Wochen ehrlich begleiche.
»Ich wäre bereit, dir die Sparkassenzinsen zu zahlen oder noch mehr, wenn du mir nur aus der Klemme helfen wolltest«, sagte Indrek.
»Glaubst du denn wirklich, ich wäre imstande, deine Notlage auszunutzen, um dir die Gurgel zuzuschnüren!« rief Otstavel, anscheinend beleidigt.
»Nun, dann leih mir das Geld ohne Zinsen oder zu den Sparkassenzinsen«, schlug Indrek vor.
»Du hast aber auch gar keine Ahnung von Geldgeschäften«, erklärte Otstavel nun überlegen, »du redest sogar von der Revolution, als wäre das irgendein Wohltätigkeitsunternehmen, aber ein vernünftiger Mensch fragt bei jeder Sache zuerst: trägt sie Zinsen? Nur Freundschaft verträgt keine Zinsen, und daher kann ich auch mein Geld nicht aus der Sparkasse nehmen, um es dir zu leihen, denn wenn ich es dir ohne Zinsen leihen wollte, so würde das für mich einen Verlust bedeuten, und du als mein Freund wirst doch nicht im Ernst verlangen, daß dein Freund deinetwegen einen Verlust tragen sollte ...«
»Aber ich sagte dir ja schon, daß ich bereit sei ...« unterbrach ihn Indrek.
»Halt, halt!« rief Otstavel, seinerseits Indrek unterbrechend, »hör zu, was ich dir sage. Also, einen Verlust darf ich deinetwegen nicht haben, das kannst du als Freund nicht zulassen. Keine Widerrede, so ist es doch. Aber könnte ich denn etwa von dir Zinsen nehmen? Nein doch, natürlich nicht, denn das schickt sich doch nicht für einen Freund. Stimmt das oder nicht?«
»Sonderbar«, bemerkte Indrek bitter, »deiner Meinung nach kommt es also darauf heraus, daß man für einen Freund eigentlich nichts tun kann, da dem so oder so die Freundschaft im Wege steht.«
»Sehr richtig«, bestätigte Otstavel, »unser Alter sagt auch immer, hilf wem du willst, aber um Gottes willen nur nicht deinen Verwandten oder Freunden, denn die nehmen dir das immer irgendwie übel, oder schlagen dir ein Schnippchen. Freunde und Verwandte glauben immer, daß sie auf Grund ihrer Freundschaft oder Verwandtschaft ein Recht auf Hilfe haben, aber du weißt ja gewiß aus eigener Erfahrung, daß dort, wo schon von Recht die Rede ist, sehr bald die Faust in Tätigkeit gesetzt wird. Darum höre meinen Rat: wenn du auf jemandes Freundschaft Wert legst, dann geh ihn nie um Hilfe an, am allerwenigsten um Geld.«
Nach dieser weisen väterlichen Ermahnung bot Otstavel Indrek dann aber schließlich doch einige Rubel an, indem er erklärte:
»Hier, die kannst du haben, denn das ist nicht mein eigenes Geld, sondern geliehenes. Das kann man von einem Freunde ruhig annehmen.«
Aber als Indrek dankend ablehnte, rief Otstavel beleidigt: »Nun kannst du ja selbst sehen, wie es unter Freunden zugeht: ich biete dir Geld an, aber du lehnst es ab. Ein Fremder hätte es bestimmt angenommen, aber Freundschaft macht stolz und anspruchsvoll.«
»Mit diesen paar Rubeln ist mir ohnehin nicht geholfen«, sagte Indrek, »denn da müßte ich wenigstens zwanzig Freunde angehen, bevor ich die erforderliche Summe zusammen hätte. Aber wo so viel Freunde hernehmen?«
Indrek klagte seine Not auch seinem nun in einer Apotheke angestellten Schulkameraden Wiidik, den er zufällig auf der Straße traf. Dieser bedauerte lebhaft, daß er noch nicht Provisor sei, denn dann wäre es für ihn eine Kleinigkeit, die erforderliche Summe zu beschaffen. Und Provisor würde er ja jedenfalls mal werden, daran bestehe auch nicht der geringste Zweifel. Indrek möge sich nur einige wenige Jahre gedulden. Aber wenn Indrek vielleicht irgendwelche Arzneien oder Drogen benötige, dann stünde er gerne zu Diensten, aber Geld, nein, das würde in der Apotheke nicht verabfolgt, weder mit noch ohne Rezept.«
Auch an Wiljasoo wandte sich Indrek, indem er ihm die ganze Angelegenheit offen darlegte. Wiljasoo rümpfte die Nase und sagte:
»So etwas könnte mir nur durch Sauf- und Weibergeschichten passieren. Denn ich verstehe ja mit den Weibern nicht umzugehen. Und wenn ein Mann das nicht versteht, dann läßt er Geld springen, in der Meinung, das gleiche seine Ungewandtheit aus. Nach dem, was Sie mir da berichten, scheinen Sie auch ein ungewandter Patron zu sein, und da ist zu fürchten, daß das Leben Ihnen recht teuer zu stehen kommen wird. Ja, also, was ich sagen wollte. Zehn Rubel könnte ich Ihnen pumpen, aber mehr wohl nicht, denn ich habe ja mein eigenes Steckenpferd, wie Sie wissen. Wie das enden wird, kann man nicht voraussehen, denn mit den Weibern ist es genau so wie mit der Revolution – die Geschichte geht immer etwas anders als man gedacht. Aber zehn Rubel ließen sich schaffen, wenn Ihnen damit gedient ist. Im übrigen aber würde ich Ihnen raten – pfeifen Sie auf die ganze Geschichte und nehmen Sie sich das alles nicht so zu Herzen, denn, wie schon gesagt, bei einer Revolution kommt es immer anders als man glaubt, da liegt der Hase im Pfeffer. So wie bei mir mit der Marie. Hatte ich irgendwelche besonderen Absichten mit ihr? Nein. Nur eben wegen dieses Geldes von Bystryi, das ich auf diese Weise verwenden wollte.«
»Und mir liegen seine Worte auf dem Herzen, die er noch an seinem letzten Tage geredet«, sagte Indrek. »Er sagte, man müsse nur immer an andere denken, nicht an sich, und danach handelte ich denn auch.«
»So daß wir also beide seine Opfer sind, ich durch seine Taten, Sie durch seine Worte«, sagte Wiljasoo. »So ist das nun mal mit den guten Menschen. Denen entläuft man nicht einmal nach ihrem Tode. Leihen einem Geld und schon ist man drin, schwatzen allerlei daher und haben einen schon beim Wickel.«
Indrek wurde ein neuer Termin gegeben, bis zu welchem er das Geld schaffen sollte, und als dieses ihm auch dann nicht gelang, mußte er sich bei Krösus melden, der ihn in Gegenwart einiger Unbekannter empfing, eine Weile starr betrachtete und dann sagte:
»Wissen Sie, was Sie sind? – Ein Verräter der Revolution«, beantwortete er seine Frage selbst nach einer kleinen Pause, die den Eindruck seiner Worte erhöhte. »Aus Mitleid haben Sie die Revolution verraten. Aber die Revolution und der wahre Revolutionär wissen nicht, was Mitleid heißt. Er hat nur eins vor Augen – den Sieg der Revolution. Dieser Idee muß alles zum Opfer gebracht werden, alles – Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, Verwandte und Bekannte, auch sich selbst, und wenn erforderlich auch das ganze Volk! Denn für den rechten Revolutionär ist alles außer der Revolution nur Mittel zu dem einen einzigen Zweck. Verstanden?«
»Verstanden«, bekannte Indrek, »aber ich dachte, daß auch ein Soldat ein Mensch sei, und ...«
»Ein Mensch, ein Mensch!« rief Krösus ungeduldig. »Was hat die Revolution mit dem Menschen zu tun? Die Revolution hat es nur mit dem Revolutionär und seinem Gegner zu tun, zwischen denen die geladene Feuerwaffe steht, auch eine Art Revolutionär, den ehernen Mund auf den Gegner gerichtet – so!« Mit diesen Worten schob Krösus die Mündung seines Revolvers Indrek so dicht unter die Nase, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. »Merken Sie sich eins«, fuhr Krösus nach einer Weile fort, »der Mensch ist für die Revolution bloß Material und zählt darum überhaupt nicht mit. Denn wo ein Mensch ist, da haben wir es auch alsbald mit Recht und Wahrheit zu tun, und die sitzen der Revolution bald an der Gurgel. Dieses Mal habe ich mit Ihnen nochmals wie mit einem Genossen geredet, hilft das auch nicht, dann bleibt wohl nichts übrig als Dynamit und Blei.«
Indrek hätte ja zu seinen Gunsten den Schwur des Soldaten anführen können, daß er seine Waffen nicht gegen seinen Wohltäter, dessen Verwandten und Freunde erheben wolle, und in diesem Sinne auch auf seine Kameraden einwirken würde. Mit einem Wort – er hätte den Versuch machen können, zu erklären, daß der Zweck seiner Tat darin bestanden habe, die Revolution auch ins Militär zu tragen, dort im Lager des Feindes im Interesse der Revolution Beziehungen anzuknüpfen. Aber das fiel ihm erst ein, als er schon bei der Hundemammi saß, um seinen matten Leib ein wenig zu stärken, denn ihm war jämmerlich genug zumute. Die Stillung seines Hungers wirkte gewissermaßen anregend, und er mußte daran denken, wie er vor wenigen Monaten hierselbst gesessen hatte, die von der Knute des Kosaken herrührende blutende Wunde am Halse. Mit dieser Wunde hatte er sich auf dem dornenvollen Pfade des revolutionären Kampfes die ersten Sporen verdient, und heute hatte er die Empfindung, als habe er alle seine kleinen Erfolge und Verdienste in diesem Kampfe restlos wieder verspielt. Seine gedrückte Stimmung blieb der Wirtin und ihrem getreuen Begleiter, dem keuchenden Hündchen, nicht verborgen, und dieses versuchte anscheinend, ihn damit zu trösten, daß es sich bemühte, seine Zunge einzuziehen und das Keuchen zu lassen, um seine Schnauze auf Indreks Fuß drücken zu können. Die Wirtin ihrerseits hatte kaum einen Augenblick freie Zeit gefunden, als sie sich auch schon an Indreks Tisch niederließ und fragte:
»Was fehlt Ihnen? Sie blicken heute so betrübt drein.«
»Sorgen, Sorgen, Sorgen«, versetzte Indrek gleichgültig.
»Aber Sie sollen nicht traurig sein«, fuhr die Wirtin fort. »Früher sah ich mir immer Herrn Bystryi daraufhin an, nun Sie. Ich meine immer, solange noch ein Bekannter wenigstens froh aussieht, ist noch nichts verloren. Aber Herr Bystryi sah in letzter Zeit immer unzufriedener aus, und womit das endete, das wissen Sie ja. Und nun fangen Sie auch so an. Das hat doch hoffentlich nicht auch etwas Schlimmes zu bedeuten. Gott schütze!«
»Heute hat man mir einen Revolver so dicht unter die Nase geschoben, daß ich die kalte Mündung spüren konnte«, sagte Indrek mit kaum merklichem Lächeln.
»Gott erbarme sich!« rief die Wirtin. »Daher Ihre sonderbare Miene. Ich merkte doch gleich, daß da etwas nicht in Ordnung sei.«
»Nein, das ist es nicht.«
»Sondern was denn?«
»Ich habe Schulden und habe versprochen, sie zu einem bestimmten Termin zu bezahlen, und das kann ich nun nicht und bin nun ein Betrüger und Schelm«, erklärte Indrek.
»Um welche Summe handelt es sich?« fragte die Wirtin.
»Es fehlen mir rund zwanzig Rubel«, sagte Indrek, »die andere Hälfte ist es mir gelungen zusammenzubekommen.«
»Und darum sind Sie so trübselig«, lächelte die Wirtin. »Dürfte ich Ihnen diese Summe leihen?«
»Ich stehe ja ohnehin schon in Ihrer Schuld«, sagte Indrek.
»Um so einfacher«, meinte die Wirtin. »Nehmen Sie das Geld, bezahlen Sie Ihre Schuld, und kommen Sie morgen fröhlich wieder. Später werden Sie mir schon alles bezahlen. Sie sind ja noch jung, jung und gesund. Sie erinnern mich an meinen Neffen, ihm zum Andenken leihe ich Ihnen das Geld, denn ich habe diesen Jungen sehr geliebt. Ich wollte ihn sogar adoptieren, aber er starb vorher. Oder wenn Ihnen das Andenken dieses Jungen nichts sagt, denn Sie haben ihn ja gar nicht gekannt, dann leihe ich Ihnen dieses Geld zum Gedächtnis an Herrn Bystryis unglückliches Ende, denn Sie gefielen ihm sehr, und ich mochte wiederum ihn. Jawohl, nun weiß ich es, und warum sollte ich es vor Ihnen verheimlichen. Ihnen zur Belehrung sage ich das, damit Sie wissen, wie dumm die Liebe ist. Solange der Mensch lebt, weiß sie nichts von sich, erst wenn er gestorben ist, wird ihr alles klar. Meine Töchter lachen darüber, daß ich sein Grab besuche. Aber meine Töchter sind dumm. Junge Menschen sind überhaupt dumm, sie wissen nichts davon, daß man andere lieben kann, sie lieben nur sich selbst.«
Als Indrek mit vollem Magen und zwanzig Rubeln in der Tasche das Speisehaus verließ, da zerbrach er sich lange den Kopf darüber, ob junge Menschen tatsächlich nichts von Liebe wüßten, oder ob das nur ein Vorurteil der Alten sei. Und wie alt müsse ein Mensch denn sein, um etwas von der Liebe ahnen zu können? Ob er, Indrek, nun wohl schon alt genug hierfür sei, oder ob auch er noch immer bloß sich selbst liebe?
Trotz dieser Gedanken aber war ihm froh zumute, denn nun konnte er doch seine Schuld bezahlen und damit seinen Namen vor der Revolution wieder reinwaschen. Und so wagte er es denn sogar, in der Redaktion des »Volksfreund« vorzusprechen, um sich hier nach Neuigkeiten zu erkundigen.