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XVIII

Der Mathematiklehrer Kurlow schätzte die Eins und die Null über alles. Mit diesen beiden Ziffern zensierte er die Kenntnisse der Schüler, und in sie gingen alle seine Aufgaben auf. Mit behaglichem Lächeln erklärte er den Schülern:

»Ihr macht euch die Sache unnütz schwer, und dabei seht ihr doch, wie einfach die ganze Geschichte ist: Null und Eins, weiter nichts, und das genügt vollkommen, denn zwischen diesen beiden liegt die Unendlichkeit. Verstanden?«

Aber die Schüler verstanden nichts von der Unendlichkeit zwischen Null und Eins, wollten auch gar nichts von ihr wissen, denn was hätten sie damit wohl anfangen sollen. Und darum berieten sie sich untereinander und wandten sich dann an Herrn Ollino mit der Bitte, er möge sich bei Herrn Maurus dafür verwenden, daß er einen neuen Mathematiklehrer anstelle. Aber als Herr Maurus davon hörte, erschien er in der Klasse und sagte:

»Wozu wollt ihr einen neuen Lehrer haben? Ist denn dieser kluge Mensch euch auch nicht gut genug? Ich zahle ihm ein hohes Gehalt, und ihr verlangt, ich soll ihn fortjagen. Wohin soll Herr Maurus diesen Menschen jagen? Außerdem hat dieser kluge Mensch gute Beziehungen. Also: Herr Kurlow bleibt. Denn wer ist hier schließlich Direktor? Herr Maurus ist Direktor, und was der Direktor sagt, das hat zu geschehen.«

Und doch kam es nicht so, sondern ein wenig anders, denn einige Tage später hielt Tigapuu seinen Kameraden folgende Rede:

»Jungens, wißt ihr, was das Patronatsrecht ist? Das Patronatsrecht besteht darin, daß der Gutsherr der Gemeinde einen Pastor bestellt. Aber das darf nicht mehr sein, denn wir leben nicht mehr im finsteren Mittelalter, sondern im Lichte der Aufklärung, und wenn nicht mehr der Gutsherr den Pastor einsetzen soll, sondern die Gemeinde selbst, warum sollte der Direktor dann wohl die Lehrer bestimmen dürfen? Was sind wir schlechter als eine Gemeinde? Darum nieder mit dem Patronatsrecht, nieder mit Herrn Maurus' Willkürherrschaft! Wer mit mir einverstanden ist, hebe die Hand. So, ich danke. Also alle sind einverstanden. Und nun wollen wir von heute ab diese Unendlichkeitsstunden nicht mehr besuchen, sondern streiken. Die Unendlichkeit muß verschwinden, zusammen mit ihrer Null! Und eins nicht vergessen: ich habe euer Wort. Und wer sein Wort nicht hält, der bekommt das.« Und damit streckte Tigapuu seinen Kameraden vom Katheder seine kräftige Faust entgegen, als beste Sanktion seines Patronatsrechts.

Am nächsten Tage saß Herr Kurlow in zwei Klassen ohne Auditorium da. »Die Unendlichkeit wartet auf die Null und die Eins«, grinsten die Jungen. Am nächsten Tage wiederholte sich dasselbe: der Lehrer saß in der leeren Klasse geduldig seine Stunde ab und trug dann seinen Namen ins Klassenbuch ein, um sich den Anspruch auf sein Honorar zu sichern. Am dritten Tage aber machte er Herrn Maurus von der Sache Mitteilung, der am anderen Morgen wie ein Tornado in die Klasse stürmte, wo gerade Religionsstunde war und man auf Kamelen die Wüste durchquerte.

»Tigapuu, warum haben Sie in den Mathematikstunden gefehlt?« fragte Herr Maurus.

»Die anderen haben auch gefehlt, Herr Direktor«, versetzte Tigapuu.

»Antworten Sie mir auf meine Frage: warum haben Sie die letzten drei Stunden gefehlt?«

»Die ganze Klasse fehlte«, erwiderte Tigapuu.

»Hören Sie, hören Sie!« wandte sich der Direktor an den Lehrer. »Sie sind ein kluger Mensch, Sie sind bei vollem Verstande. Hat Herr Maurus seine Frage klar genug gestellt? Ja? Sehr schön. Ich danke.« Er schüttelte dem Lehrer die Hand. »Aber dann ist ja dieser Mensch da, dieser Tigapuu, aus dem Herr Maurus schon beinahe einen richtigen Schulmeister gemacht hat, total meschugge. Denn was habe ich gefragt? Wer kann es wiederholen? Paas, wiederholen Sie es, Sie sind der Längste. Aber vielleicht haben Sie auch gefehlt, ebenso wie Tigapuu? Können Sie Herrn Maurus' Frage kapieren, oder sind auch Sie verrückt geworden? Warum haben Sie gefehlt?«

»Weil wir es so beschlossen hatten«, versetzte Indrek.

»Wer ist wir?« schrie der Direktor. »Wir, Herr Maurus, haben das nie beschlossen, und nur wir haben hier zu bestimmen. Wer ist dieser andere Wir, der hier zu bestimmen hat? Wer, frage ich?«

»Wir alle«, wiederholte Indrek, »die ganze Klasse, zwei Klassen.«

»Haben Sie gehört, haben Sie gehört?« wandte sich der Direktor an den Lehrer, indem er seinen grauen Kopf so heftig schüttelte, daß ihm der Kneifer von der Nase fiel. »Die ganze Klasse! zwei Klassen! Herrn Maurus' ganze Schule! Die Schule beschließt, den Unterricht nicht mehr mitzumachen! Das ist ja ein Aufstand, das ist Sozialismus, den die russischen Studenten in unser ordentliches Land gebracht haben. Das russische Getreide bringt uns die Zackenschote, dieses gelbe Unkraut, ins Land, die Studenten den Sozialismus und die Revolution. Das lernen sie wahrscheinlich mit ihrem Fürsten dort bei seinen russischen Freunden mit ihren duftenden Weibern! Dieser Duft ist ihnen zu Kopf gestiegen und hat sie toll gemacht!«

»Aber Herr Maurus, es handelt sich hier doch gar nicht um Sozialismus, sondern um das Patronatsrecht«, versetzte Tigapuu überlegen.

»Was? Ums Patronatsrecht?!« schrie Herr Maurus, indem er begann, vor den Bänken auf und nieder zu rennen. »Dieser Mensch macht mich noch verrückt, er macht mich immer verrückt! Patronatsrecht, und sie kommen nicht in die Mathematikstunde! Herr Schnellmann, Herr Schnellmann, sagen Sie mir schnell, wer von uns beiden verrückt ist, denn einer von uns beiden ist es zweifellos.«

Aber Herr Schnellmann lächelte nur sanft in seinen weißen Bart, schüttelte leicht den Kopf und erklärte:

»Fragen Sie mich nicht danach, mein alter Kopf kann solche Dinge nicht fassen.«

Und so erfuhr der Direktor nicht, wer von beiden verrückt sei, er oder Tigapuu, und darum schrie er weiter:

»Patronatsrecht, und sie versäumen den Unterricht! Aber Gottlob, so viel Verstand hat Herr Maurus doch noch in seinem alten Kopfe, um zu wissen, daß bei ihm das Patronatsrecht noch in Geltung ist. In meinem Hause herrscht noch Ordnung und Disziplin. Morgen müssen alle in der Klasse sein!«

Damit ging er. Und da es gerade läutete, so sagte Herr Schnellmann:

»Nächstes Mal fahren wir hier fort, immer mit dem Apostel Paulus, immer mit dem Apostel Paulus.«

Und dann schob er sein Testament unter den Arm und folgte Herrn Maurus, auf den Fersen gefolgt von Tigapuu, der breitbeinig im Türrahmen Posto faßte und sagte:

»Alles bleibt in der Klasse. Unter uns ist ein Verräter.«

»Ich nicht!« rief Lible.

»Gerade du bist es«, versetzte Tigapuu, »wer hat dich denn gefragt. Jungens, fangt ihn, bringt ihn mir mal her!«

Aber Lible fuhr wie der Blitz unter die Bänke, wo er auf allen vieren wie ein Wiesel hin und her schlüpfte, indem er schrie:

»Ich bin es nicht, ich bin es wirklich nicht!«

»Doch«, sagte Tigapuu, indem er sich daran machte, den Flüchtling zu haschen.

»Laß ihn laufen, es lohnt sich nicht«, mischte sich nun Indrek ein, »es ist ja sogar besser, wenn der Alte alles weiß, dann brauchen wir ihm keine näheren Erklärungen abzugeben.«

»Nein, der Verräter muß seinen Lohn haben«, widersprach Tigapuu, dem anscheinend die Finger juckten.

»Solange er mithält, laß ihn bleiben«, meinte Indrek.

»Ich mache mit!« rief Lible unter den Bänken hervor.

»Nun gut«, erklärte Tigapuu nun, »du kannst unter der Bank hervorkommen. Aber wenn du zur Stunde gehen solltest, dann sieh dich vor.«

»Nie im Leben!« versicherte Lible unter den Bänken hervorkriechend.

So dauerte der Streik an, und Herr Kurlow saß nach wie vor mutterseelenallein in der Klasse. Und obgleich Herr Maurus hier und da einen Jungen erwischte und in die Klasse schleppte, so antwortete dieser auf jede Frage mit den Worten: »Herr Lehrer, ich habe mich heute nicht vorbereitet.« Das war alles, was Herr Kurlow aus seinen Schülern herausbekommen konnte. Diese Farce dauerte ein paar Wochen, bis die Geduld des Lehrers endlich riß und er auf seine Stelle, verzichtete. Das war die nicht nur von den Schülern, sondern auch vom Direktor längst herbeigewünschte Lösung, wenngleich letzterer sehr betrübt tat, indem er Tigapuu und Indrek als Rädelsführer erklärte:

»Ihr wißt nicht, was ihr tut, ihr jagt Herrn Maurus' besten Lehrer fort. Was soll dieser kluge Lehrer nun sagen? Muß er nicht sagen, daß in Herrn Maurus' Schule gestreikt und in Sozialismus gemacht wird?«

»Aber ich habe Ihnen doch von vornherein erklärt, Herr Direktor, daß es sich hier weder um einen Streik noch um Sozialismus handelt, als vielmehr ums Patronatsrecht«, bemerkte Tigapuu mit sachkundiger Miene.

»Nun gut, sei es das Patronatsrecht«, sagte der Direktor nachgiebig, »sonst wäre es ja auch weiß der Teufel was. Aber eins sage ich euch: richtig ist es nicht, was ihr da vom Patronatsrecht redet, denn eine Schule ist keine Gemeinde. In einer Gemeinde wird nichts gelernt. Aber hier gibt es Algebra und Geometrie, Latein und Griechisch, die Reisen des Apostels Paulus und ähnliche Dinge. Darum muß hier das Patronatsrecht bestehen bleiben. Und darum habe ich euch einen neuen Lehrer genommen – einen jungen, hübschen, langen und klugen, einen noch klügeren als der vorige. Aus den Hauptstädten ist er zwar ausgewiesen, aber hier bei uns darf er sein Licht, Gott sei Dank, noch leuchten lassen. Außer in staatlichen Schulen, die begnügen sich mit dümmeren. Und nun seht zu, wie ihr mit dem auskommt.«

Dieser neue Lehrer war nun tatsächlich jung und lang, aber seine Schönheit wurde durch eine Brille verunstaltet, die er über seinen trüben, nahezu leblosen Augen trug.

»Also ihr habt den Herrn Kurlow zum Teufel gejagt?« sagte Herr Molotow, nachdem der Direktor die Klasse verlassen hatte. »Wer waren die Rädelsführer?«

»Tigapuu, Tigapuu und Paas!« rief es im Chor, während zahlreiche Finger sich auf die Genannten richteten.

Herr Molotow trat erst vor den einen, dann vor den anderen hin, betrachtete sie prüfend aus seinen glanzlosen Augen, wandte sich dann der Tafel zu, wo er haltmachte und durch die Zähne zischte:

»Solche Schsch–weine! Bei Gott, Schweine! Aber das ist nicht böse gemeint, sondern kommt aus gutem Herzen. Einfach Schweine! Kurlow ist ja natürlich ein Idiot, ich kenne ihn, ein Hühnerkopf, aber zum Professor taugt er. Aber ich komme zu Ihnen nicht als Professor oder Lehrer, sondern als Genosse. Nicht als Freund, denn meine Freunde wähle ich mir, aber Genosse ist mir jeder Schafskopf, denn ich bin Sozialist. Aber Sozialismus werde ich Ihnen nicht beibringen, wie Ihr Direktor fürchtet, dieser Grützkopf – bei Gott, absoluter Grützkopf, das mögen Sie ihm sagen, wenn Sie wollen – nein, Sozialismus werde ich Sie nicht lehren, wenngleich ich selbst von ganzem Herzen Sozialist bin, vielmehr werde ich Ihnen Mathematik beibringen. Und damit sind wir bei der Sache. Wo ist das Klassenbuch? Die Namen der Schüler? Primus, was haben Sie durchgenommen? So, nun, wir werden ja sehen, was Sie verstehen.«

Er ließ die Schüler einen nach dem anderen an die Tafel treten, aber es fand sich keiner, den er nicht alsbald wieder auf seinen Platz geschickt hätte, mit den Worten:

»Idiot! Sie haben von Mathematik auch nicht die blasseste Ahnung! Anstatt Gehirn Grütze im Kopf, das reine Kalkuhnengehirn, bei Gott! Mathematische Hühnerblindheit! Mit Negern boxen, dafür taugen Sie allenfalls, elendes Mondkalb! Genug! Was? alle schon durch? Also lauter mathematische Rhinozerosse! Und wollen meine Genossen sein und meine Freunde werden. Was für ein Freund könnte ein mathematisches Rhinozeros sein? Was für ein Genosse? Gäbe es auf der Welt ohne Mathematik überhaupt Wahrheit? Und ohne Wahrheit Ehrlichkeit? Ohne Ehrlichkeit Offenheit? Würde ich so mit Ihnen reden, wenn ich ebensolch ein Idiot in der Mathematik wäre wie Sie? Hat Kurlow so mit Ihnen geredet? Hat er Sie Schweine, Kälber, Grützköpfe genannt? Nein, er hat Sie als Herren tituliert. Ich weiß Bescheid. Habe ich nicht recht? Wenn Herr Kurlow Kalb oder Schwein sagt, dann schimpft er, aber wenn ich Sie mit Idiot oder Grützkopf anrede, dann spreche ich bloß die Wahrheit, die mathematische Wahrheit, die reinste Wahrheit, die es gibt, denn sie ist eben weiter nichts als Wahrheit. Aber ich werde Ihnen schon ein mathematisches Gehirn anerziehen. Und zu diesem Zweck werden Sie heute um fünf bei mir antreten, denn ich will Sie zu Menschen machen, den ersten Menschen in Herrn Maurus' Schule. Kapiert? Die ersten Menschen, die erfassen, was für ein Tausendfuß die Zahl Pi ist und was für ein Krokodil der Logarithmus. Also verstanden? Punkt fünf Uhr! Bergstraße 25. Sollte ich nicht daheim sein, so treten Sie ruhig ein, die Tür ist unverschlossen, und warten Sie, bis ich komme.«

Damit hätte diese erste Stunde beim neuen Mathematiklehrer ihr Ende gefunden, wenn nicht Indrek auf dringenden Wunsch seiner Kameraden die Frage aufgeworfen hätte, wie es mit der Honorierung der privaten Nachmittagsstunden bleiben würde.

»Was? Was sagen Sie da?« schrie Herr Molotow, indem er sich auf Indrek stürzte und ihn mit beiden Händen an der Brust packte und heftig schüttelte. Erst als dieser seine Frage wiederholte, ließ Herr Molotow ihn los und brüllte ihm ins Gesicht:

»Sie sind ein Schweinehund! Alle sind Sie Schweinehunde! Herr Kurlow war der rechte Mann für Sie, und auch Herr Maurus ist Ihnen der rechte. Und ich Idiot sage Ihnen als wahrer Genosse in reinem klarem Russisch: um fünf Uhr, die Tür ist offen, warten Sie. Aber Sie schlottern schon vor Angst, daß ich Sie berauben, Sie nackt ausziehen könnte, fürchten in die Hände eines Halsabschneiders gefallen zu sein! Aber ist denn von Geld überhaupt die Rede gewesen, Sie dreidoppelten Mandrille? Und darum bitte ich mir aus, mich in Zukunft nicht mehr zu beleidigen. Also um fünf und direkt eintreten. Anklopfen ist nicht erforderlich. Die Lampe steht auf dem Tisch, Streichhölzer müssen Sie selbst mitbringen. Falls kein Petroleum da sein sollte, holen Sie welches, die Flasche steht hinter der Tür an der Wand. Tun Sie, als ob Sie zu Hause wären.«

Und damit verließ Herr Molotow die Klasse nach seiner ersten Stunde, die auf die Jungen anscheinend einen tiefen Eindruck gemacht hatte, denn am Abend wollten alle die in Aussicht gestellte Privatstunde mitmachen, ausgenommen den Deutschen Unter aus Moskau, den Sohn eines reichen Fabrikanten, der meinte, Privatstunden könne er auch für Geld nehmen, und zwar mit weniger Geschimpfe als bei Herrn Molotow.

Herrn Molotows Wohnung lag im dritten Stock unter dem Dach. Zu ihr führte eine dunkle, steile Stiege empor, die die Schüler mit Streichhölzchen erleuchten mußten, als sie einer hinter dem anderen die schmalen Treppen emporklommen, bis sie vor der ihnen gewiesenen Tür standen, hinter der es totenstill und auch durchs Schlüsselloch nichts zu sehen war. Man beriet sich flüsternd, ob man anklopfen oder ohne zu klopfen eintreten sollte, wie Herr Molotow befohlen.

»Weg da!« rief schließlich Tigapuu, indem er sich zwischen den anderen hindurch an die Tür drängte, die er mit großem Gepolter ausstieß. »Tretet nur ein!« rief er den anderen aus dem Zimmer zu. »Ich bin Sozialist, anzuklopfen ist nicht erforderlich«, denn er hatte bereits ein Streichholz angestrichen und festgestellt, daß das Zimmer leer war.

Das Zimmer war kalt, und kalt war auch der eiserne Ofen in der Ecke. Da die Streichhölzer zu schnell verloschen, wollte man die Lampe anstecken, aber die erwies sich als trocken, wie Herr Molotow vorausgesagt. Die Petroleumflasche hinter der Tür war leer und ohne Korken. Schließlich wurde Geld zusammengeschossen, um Petroleum zu holen, und dann machte man sich daran, Holz zu suchen, um den Ofen zu heizen. Aber auch Holz fand sich nicht. Endlich gelang es, vom Hausknecht einen Arm voll zu beschaffen.

»Nun sind wir Herren im Hause«, erklärte Tigapuu behaglich, indem er sich auf einem Stuhl vor dem brennenden Ofen niederließ. Die anderen konnten es sich nicht so bequem machen, denn es fehlte an Sitzgelegenheiten. So mußten die meisten stehen oder sich auf den Fußboden niederhocken, um den Lehrer zu erwarten. Als aber eine Viertelstunde nach der anderen verging, ohne daß Herr Molotow erschienen wäre, und der Ofen schon ausgebrannt war, ja das Zimmer schon begann, sich zu erwärmen, wurde den Jungen die Zeit zu lang, und sie machten sich davon. Tigapuu wollte eigentlich Zimmer- und Ofentür offenlassen, da Herr Molotow seines Erachtens keinen Anspruch auf die für ihre Kosten erzeugte Wärme hätte, aber damit waren die übrigen nicht einverstanden, und so wurden beide Türen sorgfältig geschlossen.

»Habe ich Sie gestern zu mir bestellt?« fragte Herr Molotow am nächsten Tage in der Klasse und fuhr, als er eine bejahende Antwort erhalten hatte, fort: »Soso, nun sehen Sie, was für ein Vieh der Mensch doch sein kann. Denken Sie sich doch mal bloß: ich – ein Sozialist, sozusagen das höchste Wesen auf der menschlichen Tonleiter – das ist mathematisch gemeint – lasse mir so etwas zuschulden kommen. Was werden dann erst gewöhnliche Sterbliche sich leisten? Spießer und Bourgeois? Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, denn das werden Sie im Leben brauchen können. Der Mensch ist ein Vieh. War es schon im Paradiese. Denn ich ... wissen Sie, wo ich war? Ich spazierte in den Domanlagen umher und versuchte vergeblich, mir etwas ins Gedächtnis zu rufen, denn ich wußte, daß ich irgendeine Verabredung getroffen hatte. Bis gegen sieben Uhr etwa. Dann gab ich es auf, denn wie lange soll man sich quälen, wenn einem nun mal doch nichts einfallen will. Hätten Sie nur die Lampe gefüllt, dann wäre es mir eingefallen, daß Sie zur Stunde gekommen waren, da aber auch der Ofen geheizt war, so wußte ich nichts daraus zu machen. Denn daß Sie solche Schweine sein würden, meinen Ofen zu heizen, das geht auf keine Kuhhaut. Aber kommen Sie heute zu mir, heute werde ich unbedingt daheim sein.«

Hierauf wandte er sich an den Deutschen Unter und sagte:

»Ach und Sie, Ferkel, haben sich beim Direktor über mich beschwert, weil ich Sie geschimpft hätte. Ich Sie Pavian geschimpft? Haben Sie Pestochs jemals gehört, wie ein richtiger Russe schimpft? Wer richtig russisch geschimpft wird, dem fallen die Haare aus, daß man meinen könnte, er sei überhaupt noch nicht geboren. Aber Sie, Aasvogel, haben ja Gottlob noch alle Ihre Haare beisammen, was beweist, daß ich auch nicht daran gedacht habe, Sie Heuochsen zu schimpfen. Einige reine termini technici von Genosse zu Genosse, das ist alles. Aber ganz wie Sie wünschen, Herr Ober, mit Schweinepriestern kann ich auch schweinepriesterlich verkehren. Mir ist es gleich.«

Als die Jungen an diesem Abend wieder bei Molotow erschienen, saß er mit irgendeinem bärtigen Manne, in eifrigen Auseinandersetzungen begriffen, am Tische. Vor ihnen stand eine nahezu geleerte Flasche und zwei Gläser, daneben lag eine Tüte mit Speiseresten.

»Ah!« rief Molotow, die Jungen erblickend, »meine neue Hammelherde, aus der vollberechtigte Übermenschen werden sollen.« Und sich an den Fremden wendend, fügte er hinzu: »Also auf nächstes Mal, augenblicklich habe ich keine Zeit mehr.«

Er reichte dem Fremden die Hand und schob ihn aus der Tür. Dann schob er Flasche, Gläser und Speisereste beiseite und sagte:

»Setzen Sie sich, wo sich Platz findet. Sie können auch stehen und abwechselnd sitzen, denn die Stühle reichen sowieso nicht für alle. Sie können sich auch aufs Bett setzen. Flöhe gibt es da nicht, die Kälte mögen diese aristokratischen Bestien nicht. Wo es warm und weich ist, da kriechen diese Biester hin. Aber hier ist es weder weich noch warm. Rückt das Bett an den Tisch heran.«

Und als die Jungen zauderten, rief Molotow ärgerlich:

»Nun, worauf warten Sie Idioten noch? Auf ein Sofa? Nur Halsabschneider sitzen auf Sofas, Blutsauger. Glauben Sie denn etwa, daß es in Rußland für alle für Sofas reicht? Wenn man nur wenigstens Sandalen und Fußlappen für alle hätte, schon das wäre gut.«

Und dann endlich begann Molotow mit dem Unterricht. Aber schon nach einer kurzen Weile erklärte er:

»Wißt ihr was, Brüderchen, ich bin betrunken. Erst merkte ich es nicht, aber sobald ich es mit der Mathematik versuchte, merkte ich es sofort. Das ist mein Maßstab. Mathematik verlangt einen klaren Kopf, denn Mathematik ist ja schon selbst wie ein Glas Branntwein nach dem andern. Verstanden? Da ist schon nichts zu machen, Sie müssen noch einmal wiederkommen: dann werde ich unbedingt zu Hause sein und nüchtern obendrein. Ich muß mich eben erst in die ganze Sache einleben. Verstehen Sie? Die beiden ersten Stunden gehen immer aufs Einleben, und dann wollen wir anfangen. Den dritten liebt Gott.«

Die Jungen gingen mit langen Gesichtern, der eine lachend, der andere fluchend, und das drittemal waren es schon bedeutend weniger, die sich einfanden. Aber gerade jetzt ging der Unterricht tatsächlich mit vollem Schwung an, so daß es die reine Freude war mitzumachen. Und schon nach wenigen Stunden fehlte kein einziger mehr, selbst der Deutsche Unter nicht. Die Mathematik wurde plötzlich geradezu mit einer Art Begeisterung aufgenommen.

»Fragen Sie, wenn Sie nicht begreifen«, wiederholte Molotow von Zeit zu Zeit. »Ich habe bisher noch jedem Hammel mathematische Kiemen angezüchtet, wie sollte es mir denn bei Ihnen nicht gelingen?«

Und tatsächlich arbeiteten alle mit Lust und Liebe mit, als habe jemand sie oder die Mathematik umgeschaffen. Und keiner achtete darauf, daß Molotow nach wie vor fluchte und schimpfte. Daran hatten sich alle schnell gewöhnt. Selbst Unter, dem Molotow es aber lange nicht vergessen konnte, daß er beim Direktor über ihn geklagt hatte. Immer wieder kam er drauf zurück:

»Solch eine Giftblase! Geht zum Direktor sich beklagen, über mich beklagen! Solch ein Giftpilz! Verträgt es nicht, wenn man ihm russisch kommt. Selbst Weiber vertragen es, wenn ich mit ihnen russisch rede. Anfangs wird freilich geflennt, aber dann gewöhnen sie sich daran. Ich habe da eine Person in der siebenten Klasse: lang wie eine Bohnenstange, meine Länge beinahe; wenn sie geht, wippt sie wie auf Federn. Und was glauben Sie wohl, was ich ihr gesagt habe? Schweißfuchs – weiter nichts. Und sie hat nichts Besseres zu tun, als in Ohnmacht zu fallen! Können Sie sich vorstellen: Schweißfuchs und gleich der Länge lang hingeschlagen. Das heißt natürlich nicht wirklich der Länge lang, denn es gelang mir noch zur rechten Zeit, sie zu stützen, und ich setzte sie auf die Bank. Kreischt, schreit, heult, ich hätte sie beleidigt! Ich und beleidigt! Und nun? Errötet bloß, wenn ich sie Schweißfuchs tituliere, errötet so, daß man es durch die Kleider sehen kann, bei Gott!«


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