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XXVI

Eben diese Schwermut war wohl auch der Grund, warum Indrek begann, den Friedhof zu besuchen. Ohne den geringsten Anlaß, völlig zwecklos, liebte er es, dort zwischen den Grabhügeln durch die langen Straßen der Vergänglichkeit dahinzuschlendern. Es wollte ihm scheinen, als würde ihm ein wenig leichter zumute, wenn er diese aus Leid und Tränen aufgeschossenen Hügel betrachtete. Es hatte gleichsam etwas Beruhigendes, sich zu vergegenwärtigen, daß über alle diese zahllosen Grabstätten hinweg das Leben doch unbeirrt seinen Gang weiter ging. Und wenn man alle die Tränen, welche die hier ruhenden Toten in ihrem Leben vergossen, und die Tränen, die um ihretwillen vergossen worden waren, sammeln und aufstauen und dann plötzlich vom Hügel hinabfließen lassen würde, so würde das vielleicht ein Frühlingswasser ergeben, das imstande wäre, die ganze Stadt mit ihrer gesamten lachenden und weinenden Bevölkerung zu ersäufen.

Aber Indrek freute sich, daß die Stadt dessenungeachtet ungestört weiterlebte. Und schließlich freute er sich auch über seine eigene schmerzliche Wehmut, denn es wollte ihm scheinen, als ob er sich damit den anderen Menschen mehr angleiche, überhaupt erst eigentlich ein richtiger Mensch würde, denn mit Schmerzen nimmt der Mensch seinen Anfang. Manchmal traf er auf dem Friedhof einen Trauerzug an, dem er sich anzuschließen liebte, wenn dieses unauffällig geschehen konnte, um an der Trauer der Leidtragenden teilzunehmen, obgleich dieses Leid an ihm vorüberging, als sei sein Herz mit einem Schutzgitter umgeben. Aber dann traf es sich einmal, daß jemand in einem langen, schwarzen Sarge beerdigt wurde, der von keinem einzigen Leidtragenden gefolgt war. Nur neben dem Sarge auf dem Lastfuhrwerk saßen zwei, drei Männer, mit herabbaumelnden Beinen, die wohl das Senken des Sarges und Zuschaufeln der Gruft besorgen sollten, denn dieses Geschäft kann der Tote natürlich nicht selbst versehen. Ja, jemand muß schon immer dabei sein, dachte Indrek und machte beobachtend halt. Es mochte sich wohl um einen armen Greis handeln, der allen schon lange zur Last gefallen war, unbedingt ein Greis, denn Frauen sind nicht so lang. Und auch jung konnte der Tote wohl kaum gewesen sein, darauf ließ der schwarze Sarg schließen. Und überdies – um junge Menschen trauert doch immer jemand, nur die Alten ziehen allein zu Grabe, in ihrem langen, engen, schwarzen Sarge. Sie brauchen keinen breiteren, denn das Fleisch um die Knochen ist schon geschwunden, wie bei Woitinski, nur Knochen sind noch übrig, und die passen gut in solch einen schmalen Sarg. Und während Indrek diese Gedanken durch den Kopf gingen, und er aus der Ferne zusah, wie gleichmütig die Männer ihr Geschäft versahen, empfand er plötzlich tiefes Bedauern mit dem alten Manne, der da in die Grube fuhr, und ehe er sichs versah, standen seine Augen voll Tränen. Und dabei dachte er: Nun mögen sie ihn einschaufeln, nun ist auch er betrauert worden und kann sich nicht beklagen.

Wer weiß, wie lange Indrek noch auf dem Friedhof verweilt hätte, wenn er dort nicht Herrn Schulz getroffen hätte, seinen früheren deutschen Lehrer, die Kopula. Schon von weitem erkannte er ihn und überlegte, ob er ihn begrüßen solle oder nicht. Aber da fiel ihm das Gespräch in Herrn Schulzens Wohnung ein, und er zog unwillkürlich vor ihm die Mütze. Das schreckte den Alten aus seinen Gedanken auf. Er erkannte Indrek sogleich und streckte ihm die Hand entgegen, als seien sie alte Freunde.

»Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen«, sagte er freundlich. »Zum letzten Male wohl damals, als wir beide bei mir plauderten. Mein alter Vater saß damals draußen in der Frühlingssonne auf dem Hof und wartete darauf, daß ich ihn heimbringen sollte, an den Rhein, von wo wir stammen. Und nun ruht er hier. Das ist sein Rhein und seine Heimat.«

Herr Schulz machte eine Pause, als schwanke er, um dann fortzufahren:

»Wollen Sie nicht das Grab meines Vaters sehen? Später könnten wir dann zusammen in die Stadt zurückkehren.«

Und ohne Indreks Antwort abzuwarten, nahm er seinen Weg wieder auf – klein, gebeugt, den Regenschirm als Spazierstock in der Hand, die grauen Haare verworren unter dem fettigen Hute hervorquellend. Indrek war es unmöglich abzulehnen, und so schloß er sich dem Alten an, um am Grabe seines Vaters ein Vaterunser zu beten, als ihm plötzlich einfiel, daß der Tote ja bei Lebzeiten kein Wort seiner Sprache verstanden hätte. Infolgedessen unterließ er das Gebet und tat nur so, als bete er.

»Ja, hier hat er nun seine Heimat gefunden, seine Ufer des Rheins«, begann Herr Schulz. »Der Rhein war sein letzter Lebenstraum, und ich sollte ihm diesen Traum erfüllen. Ich sprach Ihnen wohl davon, als Sie mir Herrn Maurus' Brief überbrachten. Und nun passen Sie auf, was ich Ihnen sagen werde: Wenn Sie einmal im Leben einen Traum haben, einen ganz großen Wunsch, dann erfüllen Sie ihn selbst, oder verzichten Sie, nur hoffen Sie nicht auf andere, weder auf den Bruder noch auf den Sohn, weder auf die Schwester noch auf die Tochter. Mein Vater setzte seine Hoffnung auf mich, und wie ist sie erfüllt worden? Noch auf dem Totenbette hat sein Sohn ihn belogen, denn er versprach ihm hoch und heilig, seinen Leichnam heimzubringen an den Rhein. Und dieser Sohn bin ich. Ich habe ihn belogen, belogen aus purem Egoismus, nur damit er mich mit seinen Bitten verschonen möchte. Das ist das erste. Und dann: sogar wenn ich aus Liebe gelogen hätte, auch dann wäre diese Lüge unzulässig gewesen. Warum? Darum, weil es in der Welt etwas Größeres, Höheres, Heiligeres gibt als den Trost eines Sterbenden, und sei es auch dein Vater, deine Mutter, dein Weib, dein Kind. Ja, selbst wenn es deine Geliebte wäre – entschuldigen Sie diese Bemerkung, für die Sie eigentlich noch zu jung sind –, ja, also, wenn es die Geliebte wäre, derentwegen du Weib und Kind und dich selbst unglücklich gemacht hast, sogar auch sie dürftest du auf dem Sterbebette nicht mit einer Lüge trösten. Denn der Mensch, sein Leben und sein Leid hier auf dieser Welt sind zufällig und kurz, die Lüge aber ist ewig, denn sie ist ja nichts anderes als die verkehrte Wahrheit. Verstehen Sie? Und die Wahrheit ist ewig! Die Wahrheit als solche, die Wahrheit an sich. Und wegen einer zufälligen, flüchtigen Sache soll man sich nicht gegen die Ewigkeit vergehen. Ich will diesen Gedanken durch ein Beispiel erläutern, das sich übrigens ebenfalls nicht ganz für Sie schickt, aber wir suchen ja die Wahrheit, und da mag es gestattet sein. Nämlich: wie wäre es, wenn es sich plötzlich auf irgendeine Weise herausstellen sollte, daß wir am Jüngsten Tage gar nicht auferstehen, das heißt daß es überhaupt gar keine Auferstehung des Fleisches gibt, kein Jüngstes Gericht und nichts Derartiges überhaupt, sondern nur Grabhügel wie diese hier, Verwesung und Zu-Erde-Werden, und daß darin eben die ganze Auferstehung besteht, wie diese Blumen hier aus der Erde auferstehen, wenn man sie sorgfältig begießt. Und wenn das sich herausstellen würde, was wäre dann Gottes Wort? Lüge wäre es. Aber der Mensch muß ja vergehen, wenn er annehmen muß, daß auch Gott lügt. Denn was folgt daraus? Nur eins: wenn auch Gott lügt, dann ist der Mensch das einzige Wesen, das nie und unter keinen Umständen lügen darf, denn jemanden, der für die Wahrheit eintritt, muß es doch geben. Das war das zweite. Und nun drittens: Woher wissen wir, daß das Bewußtsein im Tode erlischt? Und was dann, wenn diejenigen recht haben sollten, die behaupten, das Bewußtsein daure nach dem Tode fort, nur verstünden wir bisher noch nicht mit ihm in Verbindung zu treten. Mit einem Wort – zwischen dem Bewußtsein der Lebenden und dem der Toten fehle bisher noch der Kontakt. Aber der kann doch gefunden werden, wenn nicht heute, so morgen, es wird ja heutzutage so viel entdeckt und erfunden, warum nicht auch dieser Kontakt? Und warum nicht auch der Kontakt zwischen den Toten? Und nun bedenken Sie doch bitte: wenn man mich einst hier neben meinem Vater bestatten wird, und ich hier Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende, ja vielleicht Jahrmillionen neben ihm liegen werde, und mein Vater ununterbrochen die Frage an mich richten wird: ›Mein Sohn, warum hast du mich belogen?‹ Und was glauben Sie, was Gott getan hätte, Gott, der die ewige Wahrheit sein soll, aber auch die ewige Lüge sein kann, wenn sein Sohn ihn belogen hätte? Wenn er beispielsweise gelobt hätte, die Welt zu erlösen und das dann doch unterlassen, einfach erklärt hätte: ›Vater, gelobt habe ich es wohl, aber nun habe ich es mir anders überlegt, und darum nimm mich nun wieder zurück in deinen Himmel.‹ Was hätte Gott in solch einem Falle wohl getan? Was meinen Sie? Ich will Ihnen sagen, was er getan hätte: er hätte seinen Sohn in die unterste Hölle verstoßen, das hätte er getan, in dieselbe Hölle, wo sein erster Sohn sitzt.«

Herr Schulz führte seinen Mund dicht an Indreks Ohr heran und flüsterte so geheimnisvoll, als fürchte er, Gott könne seine Worte hören:

»Ja, dahin hätte er ihn hinabgestoßen, zu seinem Bruder, denn auch der Teufel ist ein Sohn Gottes, sein erstgeborener, ältester Sohn, den der Vater auf die Welt sandte, damit er sie erlöse, aber er tat es nicht, versprach es, aber brach sein Versprechen, belog seinen ewigen Vater und wurde von ihm dahin verstoßen, wo er bis zum heutigen Tage weilt. Denn es ist doch ganz ausgeschlossen, daß Gott erst vor zweitausend Jahren beschlossen hätte, die Welt zu erlösen. Nein, der Teufel war der erste, durch den Gott die Welt erlösen wollte, und nun harrt dieser arme Teufel selbst der Erlösung. Denn was hätte es für einen Sinn, nur den Menschen zu erlösen, wenn der Teufel unerlöst bliebe, nein, die ganze Welt soll erlöst werden. Aber wer wird den Teufel erlösen? Gottes zweiter Sohn hat den Menschen erlöst, aber wer wird den Teufel erlösen? Gott selbst kann das nicht tun, denn sein Wort und Ratschluß sind unveränderlich. Aber wer wird es dann tun, was meinen Sie? Der Mensch, nur der Mensch allein kann den Teufel erlösen, und dann bricht der Jüngste Tag an, eher nicht. Aber wo wäre der Mensch, der den Teufel erlösen könnte? Werde ich das tun oder Sie? Wollen Sie es auf sich nehmen, den Teufel zu erlösen? Nein? Ich auch nicht. Das wird überhaupt kein gewöhnlicher Mensch tun wie Sie oder ich. Auch nicht der neuerdings modern gewordene Übermensch, denn der ist ein Schwindel und Humbug. Den Teufel kann nur der Mensch als solcher erlösen, der Mensch an sich, als Idee. Der wird die ewige Wahrheit finden, die doch irgendwo existieren muß. Und wenn diese ewige Wahrheit gefunden ist, dann ist der Teufel eo ipso erlöst, denn er ist ja eben die Urlüge selbst, die aus der Erlösung der Welt geborene Lüge. Hieraus aber folgt, daß der Mensch unter keinen Umständen lügen darf, vielmehr immer und überall für die Wahrheit einstehen muß, für die Wahrheit, nichts als die Wahrheit und immer wieder die Wahrheit, auf daß doch allendlich die Urwahrheit geboren werden könne, die den Teufel erlöst, diesen einzigen Verfluchten auf der Welt. Aber das versteht wohl kaum jemand außer mir. Auch ich habe es ja bis vor kurzem noch nicht gewußt, denn sonst hätte ich meinen Vater doch nicht belogen. Sehen Sie sich diese Gräber an, nicht ein Toter liegt hier, nicht ein einziger, der nicht an einem Sterbebett gelogen hätte, der nicht auf seinem Sterbebette belogen worden wäre. Das ist furchtbar! Aber das Furchtbarste kommt erst.« Der Alte näherte seine wie im Fieber brennenden Augen Indreks Gesicht und flüsterte geheimnisvoll: »Uns selbst erwartet dieselbe Lüge. Nicht einmal auf dem Sterbebette werden wir die Wahrheit hören. Verstehen Sie, was das heißt? Ja, sogar der Diener Gottes lügt an den Sterbebetten. Und Gott läßt das alles geschehen. Aber was ist dann der Mensch, wenn er so belogen wird und so lügt? Was ist er? Wessen Züge trägt er? Das Ebenbild des Teufels ist er, nicht Gottes, ganz und gar das Ebenbild des Teufels. Auch ich ...«

Der Alte ließ seine Augen über die Gräber gleiten, während seine Lippen sich lautlos bewegten, als spräche er zu den Toten. Indrek betrachtete ihn eine Weile von der Seite, wie er so dasaß: mager, zusammengesunken, die Lippen von dem vielen Reden gleichsam erschlafft, in seinem schäbigen Mantel, die Augen wie im Fieber brennend – der nach dem Ebenbilde des Teufels erschaffene Mensch. Aber als Indrek ihn so betrachtete, tauchte in seiner Erinnerung plötzlich ein Bild aus ferner Vergangenheit auf: Pearus Hund, den der Vater am Weihnachtsabend in der nach Würsten duftenden Rauchstube so erbarmungslos geprügelt und mit der Ofenzange in die Wassertonne getunkt hatte, und der dann in seiner Todesangst in der Hinterkammer auf den Tisch gesprungen war, wo er seine schmutzige Spur auf dem Wort Immanuel in dem aufgeschlagenen Gebetbuch hinterließ. Die muß wohl noch ebenda zu sehen sein, dachte Indrek, und gleichzeitig empfand er plötzlich tiefes Mitleid mit diesem längst verendeten zottigen Hunde, dessen glühende Augen er noch jetzt aus der Ecke hinter den Tonnen zu sehen meinte. Gerührt erhob er sich, um Abschied zu nehmen, denn es war ihm unmöglich, diesen alten Mann, der ihm diesen verprügelten Hund so deutlich ins Gedächtnis rief, weiter anzuhören. Aber Herr Schulz schien ihn gar nicht zu bemerken, so war er in sein Gespräch mit den Gräbern versunken. Indrek machte einige Schritte, um zu sehen, ob der Alte ihm seine Aufmerksamkeit zuwenden würde, und als ihn das völlig gleichgültig ließ, entfernte er sich ohne ein weiteres Wort. Und von diesem Tage ab war der eigenartige, wehmütige Zauber, den der Friedhof auf ihn ausgeübt, plötzlich völlig verschwunden, ohne daß er hätte sagen können, warum eigentlich.

Aber sein Herz blieb voll schwermütiger Sehnsucht. Und dieses Gefühl hielt den ganzen Frühling über an und trug dazu bei, daß er den Sommer über in der Stadt blieb, in der stillen Hoffnung, hier doch vielleicht Ramilda noch einmal zu treffen. Aber diese Hoffnung erwies sich als eitel, denn Ramilda reiste schon bald nach Schluß der Schule zurück ins Ausland, ohne vorher noch zur Stadt gekommen zu sein.

Es gab heuer einen dürren, heißen Sommer. Blutrot ging die Sonne des Morgens auf, und ebenso versank sie des Abends, als habe sie all ihre Leuchtkraft als lastende Schwüle über die Erde gegossen, über welcher ständig ein staubiger Dunst schwebte. Tagsüber hielt man die Fensterläden geschlossen, um die Sonne fernzuhalten, aber auch der Abend brachte keine Linderung der drückenden Schwüle: wenn der rote Sonnenball am Horizont versunken war, strömten die durchglühten Häuserwände und Pflastersteine auch die Nacht über eine unerträgliche Hitze aus.

Indrek saß, gleichwie im vergangenen Sommer, gelegentlich auf dem Stroh im Schauer, wo sich nichts verändert hatte, als sei in der ganzen Welt das ganze Jahr hindurch alles beim alten geblieben. Die scheckige Katze lauerte nach wie vor auf Mäuse, und Tiina polterte mit ihren Krücken hinter der Bretterwand, durch die sie dann zu Indrek in den Schauer schlüpfte. Sie hat immer etwas Neues zu berichten, namentlich in bezug auf Molli, denn sie nimmt an, daß dies Indrek interessiere.

»Molli näht sich nun neue Hemden«, berichtete sie Indrek. »Sehr elegante, mit Spitzen, Stickereien und allen Schikanen. Der Stoff schneeweiß und fein wie Seide; früher trug sie Hemden aus gelbem Stoff, der hält länger vor. Wenn du willst, kann ich dir den Stoff zeigen. Sie verschließt ihn wohl in die Kommode wenn sie ausgeht, aber ich weiß, wo der Schlüssel liegt. Mutter sagt, sie habe solche Hemden nur getragen, als der Vater noch lebte, und sie noch reich waren. Mich gab es damals noch nicht – sagt die Mutter. Als ich kam, da waren wir schon arm, so daß ich also armer Leute Kind bin. Aber Molli wurde geboren, als die Eltern noch reich waren, und so ist sie reicher Leute Kind. Ich nähe mir standesgemäße Hemden – sagt Molli, und die Mutter meint, wir würden durch Molli auch standesgemäß. Aber das mag Molli nicht hören, sie will allein standesgemäß sein. Ihr tragt ja nicht einmal anständige Hemden – sagt sie mir und Mutter, wie wollt ihr denn da standesgemäß sein! Und sie hat ja recht, guck mal.« Und mit diesen Worten lüpfte Tiina ihr Kleidchen und zeigte Indrek die Bekleidung ihres armseligen Körperchens. Und dann fügte sie hinzu: »Nun kennst du meinen Stand; aber komm nun, ich zeige dir auch Mollis Stand. Komm nur, es ist niemand daheim, und ich weiß, wo der Schlüssel liegt.«

Tiina wollte Indrek um jeden Preis Mollis »Stand« zeigen, wie sie es nannte, aber Indrek hatte kein Interesse dafür. Das ergab zwischen den beiden eine kleine Mißstimmung, denn Tiina konnte absolut nicht verstehen, warum Indrek Mollis neue Hemden nicht sehen wollte. Indrek aber hatte bei diesem Gespräch seine eigenen Gedanken, von denen er Tiina nichts sagte. Er mußte nämlich mit Verwunderung daran denken, daß er daheim mit der Schwester auch gerade wegen ihrer Hemden einen Zusammenstoß gehabt hatte und nun heute sich wegen der Hemden der runden Molli mit Tiina entzweite; ja, und damals, als er bei Freund Metslang aus dem Fenster sprang, da war das genau genommen auch wegen eines Hemdes geschehen, das weiß er nun ganz genau – das alles war nur wegen des Hemdes geschehen, das Schultern und Brust des Mädchens bedeckte, das sich an seiner Brust zusammengekauert hatte. Dieses blanke Hemd hatte aus irgendeinem Grunde seine Gefühle beleidigt, und darum war er aus dem Fenster gesprungen, so daß er noch lange in den Sohlen den Schmerz zu spüren glaubte. Erst heute fiel ihm diese Erklärung seines damaligen Vorgehens ein. Aber wie war denn das? Auch Ramilda mußte doch wohl ein Hemd tragen, sicherlich doch. Sonderbar, daß ihm dieser Gedanke noch nie früher gekommen war. Das heißt genau genommen hat er diesen Gedanken auch jetzt nicht, er zwingt sich bloß, ihn zu denken. Ramilda war für ihn gleichsam ein schönes Bild, das überhaupt keiner Hülle bedarf. Wie ein Gemälde, das er mal auf einer Ausstellung gesehen: eine öde Sandwüste unter einem blendend roten Himmel und irgendwo im Sande schneeweiß geblichene Knochen – sonst nichts. Oder ein anderes Gemälde: ein hoher, leicht geneigter Baum mit einem buschigen Wipfel, der sich über niedrige Sträucher zu seinen Füßen niederbeugt, während hoch droben ein Adler seine Kreise zieht, scharf hinabspähend ins Gebüsch, als habe er da etwas entdeckt. Und der Himmel über allem blau, so blau. So war Ramilda, und darum ist Indrek nie der Gedanke gekommen, ob sie ein Hemd trage oder wie es wohl aussehen möge.


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