Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXV

Ach, im Leben ist immer alles anders, als man es sich vorstellt, anders auch als in Büchern, die davon zu erzählen wissen, daß gleichzeitig mit dem Frühling mit seinen Blumen, knospenden Bäumen und Vogelsang auch die Liebe ins Menschenherz einzieht. Und im Leben ist es doch oft so sehr anders. Der Frühling kommt, während die Liebe geht, und dem verödeten Herzen bleibt nichts als die Trauer um ihr Scheiden. Denn kann es wohl etwas Traurigeres geben, als das Erwachen des Frühlings zu beobachten, während die Liebe in dem schmerzvoll sich zusammenkrampfenden Herzen erstirbt?

In der Stadt war es leer und öde geworden. Indrek beschloß, nach Wargamäe zu fahren – ob für den ganzen Sommer oder nur für einige Tage, das wußte er noch nicht, aber es drängte ihn, die Stadt zu verlassen, die so viele traurige Erinnerungen für ihn barg, und die Orte wiederzusehen, wo er einst gelebt, von wo er gekommen. Aber diesen Plan vereitelte ein Brief des Bruders Andres, der unter anderem folgendes schrieb:

»Lieber Bruder, denn Du sollst nicht glauben, daß ich das absichtlich tue oder um jemanden zu kränken, sondern nur, damit dieses fremde Land und Volk und diese anderen fremden Länder und Völker wissen möchten, wie ein wahrer Mann und Sohn des estnischen Volkes für den Ruhm seines Volksstammes hier im fernen Polen eintritt. Darum ade denn, liebe Heimat, liebe Stammesbrüder und Schwestern, denn ich bin entschlossen, Ehre für euch einzulegen mit der ganzen Kraft meines Leibes. Und hier unter dem grauen Himmel soll sich keiner finden, der imstande wäre, mir zu widerstehen, wenn ich im Namen meiner Stammesgenossen kämpfe. Und ich habe sie hier alle auf den Rücken gelegt, nach allen Regeln der Kunst, wie ich es damals mit dem Mätliku-Eedi in der Konfirmandenlehre machte, als ich ihm das Vaterunser für ewig in seinen dicken Schädel bläuen wollte. Und wir üben hier fleißig mit einem Letten, einem zähen Burschen, aber ich bin ihm doch über, und er kommt nicht gegen mich auf, wenn ich Volldampf gebe. Und er kann mit seinen Füßen auf meinem Nacken herumhüpfen, soviel er mag, krümmen tut mein Hals sich deswegen noch lange nicht, und sie alle, die Kompanie, das Bataillon, das ganze Regiment versuchen sich an meinem Nacken, aber sie können ihn nicht biegen, und da mag meinetwegen das ganze Korps kommen, aber meinen Hals kriegen sie nicht krumm, denn das ist mein Nacken, und den krümme und beuge nur ich selbst, wenn es mir beliebt, und wie es sich für einen wahren Sohn seines Stammesvolkes schickt. Aber nach Hause habe ich das alles geschrieben, wie ich mir das alles denke und zurechtgelegt und wie ich mich alle Tage übe. Und ich schrieb dem Vater, ach, lieber, teurer Vater, das ist ja wohl eine traurige Geschichte, daß Du Dich auf Deine alten Tage noch so abplagen mußt, aber was ist da zu machen, wenn es Gottes Wille ist, daß ich hier noch weit größer und stärker geworden bin, als ich in Wargamäe war, und nun mit meiner Leibeskraft den Russen und Deutschen zeigen will, daß sie zwar unsere Herren sind, deren Befehle wir zu erfüllen haben, daß sie aber gegen uns doch nicht aufkommen. Und darum, lieber Vater, traure nicht, sondern freue Dich und tanz auf Wargamäe wie einst David vor der Bundeslade, weil Dein Sohn Andres sein Licht nicht unter den Scheffel gestellt hat, sondern seine Kraft, die ihn in Wargamäe die Forkenstiele zerbrechen ließ wie Späne, zu Deiner Ehre und Ruhm unseres lieben Stammesvolkes im fremden Lande ruchbar gemacht hat, wo dafür so viel Geld gezahlt wird, daß wir in Wargamäe die Stadt aufbauen können, von der du immer sprachst, als wir zusammen Büsche und Bülte rodeten. Und ich habe nicht die Absicht, an irgend etwas anderes zu denken, als nur daran, wie ich einmal nach Wargamäe zurückkehren könnte, wo ich mir ein schönes Grabmonument erbauen will, unten im Brühl, mit einem Gitter ringsum und einem hohen Kreuz, das in der Sonne glänzen soll, während umher die Herdenglocken läuten, und die Vögel singen. So schrieb ich dem Vater, aber er hat nicht einmal Notiz davon genommen, denn was machst Du mit einem alten Menschen, wenn er nicht an sein Stammesvolk denkt, sondern nur an sein Wargamäe. Und auch die Mutter ließ mir durch Liine Nachricht geben, ich solle doch an meinen alten grauen Vater denken, denn der sei tatsächlich plötzlich ergraut, so schwer habe er es. Aber da nun Vater und Mutter mich nicht verstehen und mir nicht glauben, denn sie sind alt, und wir alle sind jung, so wollte ich Dich, lieber Bruder, bitten, denn Du bist da näher und kannst leichter mal nach Hause flitzen, daß Du doch mal dort mit ihnen sprichst, mit den Eltern meine ich, denn Dir glauben sie eher als mir, weil Du klüger bist als sie, und auch als ich. Was die Kräfte anlangt, so kommst du freilich gegen mich nicht auf, früher nicht und nun schon gar nicht mehr, aber meine Klugheit ist neben Deiner Klugheit auch so gut wie nichts, so daß jeder von uns den anderen aussticht, jeder auf seinem Gebiet, und nicht so wie früher, nur ich Dich, als Du noch nicht so klug warst und auch keine Kräfte hattest. Und ich weiß, wie schwere Tage es nun zu Hause geben mag, seit ich ihnen von meinen Plänen geschrieben, und darum eben wollte ich dich bitten, nach Hause zu fahren und dort ein wenig nach dem Rechten zu sehen und mit den Eltern zu sprechen ...«

So schrieb Andres aus dem fernen Polen, und dieser Brief nahm Indrek alle Lust heimzureisen, denn er rief ihm so viele schwere, traurige Tage seiner Vergangenheit in Erinnerung, daß es ihm direkt unerträglich schien, in dieser Stimmung den Schauplatz dieser Erinnerungen wiederzusehen, so gerne er auch den Wunsch des Bruders erfüllt hätte.

Und zu diesem Stimmungsumschwung gesellte sich dann noch ein anderer Umstand, der den Gedanken an die Heimreise in die Ferne rückte und verblassen ließ: Eines Tages verbreitete sich von Mund zu Mund wie ein Lauffeuer das Gerücht, Fräulein Ramilda sei heimgekehrt. Bei dieser Nachricht begannen Indrek die Beine zu zittern, anfangs die Waden, dann die Knie und schließlich sogar die Schenkel. Du stehst ruhig da und empfindest plötzlich, wie du zu zittern beginnst. Und da hilft kein Widerstand, keine Willensanstrengung, die Glieder gehorchen dir einfach nicht.

Indrek verkroch sich im großen Zimmer hinter den Vorhang und setzte sich dort auf seine Kiste, wo er eine Weile still dasaß, den Kopf gegen die Wand gestützt. Und während er so dasaß, verwoben sich in seinem Kopfe Ereignisse, Erlebnisse und Bilder zu einem seltsamen bunten Gewebe, das mit bekannten Stimmen zu ihm zu sprechen schien, aber das alles zog in einem so rasenden Tempo, so blaß und nebelhaft an ihm vorüber, daß diese Stimmen in seinem Ohre zu einem hohlen Rauschen zusammenflossen, die Bilder vor dem Auge zu einem flüchtigen Flimmern.

Tigapuu hatte mit Ramilda gesprochen und wußte hiervon Mit lauter Stimme zu berichten.

»Das Fräulein ist nun viel hübscher als früher«, erklärte er mit sachverständiger Miene. »Man sieht gleich, daß sie aus Deutschland kommt. Sie bleibt nur kurze Zeit hier, geht dann aufs Land, und im Herbst vermutlich wieder nach Deutschland, denn hier ist es ja ledern. Wenn ich erst die Universität hinter mir habe, gehe ich auch ins Ausland und denke auch nicht daran, mich hier überhaupt noch zu zeigen. Daheim zu hocken, das ist doch nichts für einen gebildeten Menschen.«

Als die anderen in dieser Hinsicht gewisse Bedenken äußerten, insofern als die Durchführung solcher Pläne doch größere Mittel erheischen würden, sagte Tigapuu:

»Geld? Ihr sprecht von Geld! Wenn ich erst die Universität beendet haben werde, so heirate ich einfach reich, und was fehlt mir dann?«

Dagegen ließ sich nun freilich nichts sagen. Indrek aber wollte es plötzlich scheinen, daß Tigapuus reiche Frau niemand anders sein werde als Ramilda. Gerade sie. Denn warum hätte sie sich sonst ausgerechnet gerade mit Tigapuu unterhalten und nicht mit Indrek, als verwahre nicht dieser, sondern jener am Boden seiner Kiste die abgebrochenen Tassenhenkel. Das waren gewiß sehr dumme Gedanken, aber Indrek konnte nichts dafür, er mußte sie nun mal denken.

Aber dann kam es doch so, daß Fräulein Ramilda auch mit Indrek sprach, ja sogar eine längere Weile. Sie kam nämlich nach unten, Herrn Maurus suchen, und stieß dabei zufällig auf Indrek, der gerade du jour hatte.

»Das sind Sie? Immer noch hier?« verwunderte sich Ramilda, indem sie auf Indrek zutrat, als wolle sie ihm die Hand reichen, um dieses dann schließlich aber doch zu unterlassen, was Indrek sehr lieb war, denn plötzlich brach ihm der Schweiß aus allen Poren, so daß auch seine Hände feucht wurden. Und es wäre ihm namenlos peinlich gewesen, Ramilda eine schwitzige Hand zu reichen, sie am Taschentuch abzutrocknen aber noch viel peinlicher, denn im selben Augenblick fuhr ihm durch den Kopf, daß sein Taschentuch eher einem Tafellappen glich als einem richtigen Taschentuche.

»Ja, immer noch hier«, murmelte Indrek verlegen, als empfinde er das als Schande.

»Sie schneiden also immer noch Brot und brechen den Tassen die Henkel ab?« fragte Ramilda in harmlos vertraulichem Ton, der Indrek das Blut ins Gesicht trieb.

»Da ist nichts mehr abzubrechen«, erklärte er, »sie sind schon alle kaputt.«

Ramilda lachte, indem sie sich auf die Tischkante schwang.

»Es ist doch niemand hier?« fragte sie.

»Alle sind in der Klasse, außer mir«, versetzte Indrek.

»Gott sei Dank!« seufzte das Mädchen erleichtert. »Haben Sie auch zuweilen an mich gedacht? Ich an Sie wohl. Unter fremden Leuten fühlt man sich oft so einsam, und da sagte ich mir dann: ich will mal an die Heimat denken und an die Menschen da, und da dachte ich denn auch an Sie. Was meinen Sie, habe ich mich sehr verändert?«

»Es scheint mir wohl«, murmelte Indrek, denn mehr wagte er nicht zu sagen.

»Ja, nicht wahr? Älter geworden? Nicht?«

»Ich weiß nicht recht.«

»Alle behaupten, ich sei stolz geworden. Aber wissen Sie, wenn man die Menschen loswerden will, dann muß man die Stolze spielen. Ich mag die Menschen nicht. Der Mensch ist das einzige Tier, das ich nicht leiden kann. Wenn Sie wüßten, wie mir die Menschen manchmal zum Überdruß geworden sind. Auch der Vater und die Tante. Alle wollen sie einem was vormachen und drücken sich mit ihren Worten um ihre Gedanken und Taten herum. Auch mein Vater, er ganz besonders, so daß du schließlich überhaupt nichts mehr begreifst. Und wissen Sie, warum mir das allmählich unerträglich wird? So wie die Menschen sich um einen herumdrücken und einen belauern, so macht es auch der Tod. Schleicht um einen herum und hat einen zum Narren! Alle! Mich auch!«

»Sie auch«, wiederholte Indrek leise.

»Ja, mich auch«, sagte das Mädchen, seitlich zu Indrek auf der Tischkante sitzend. »Mir war damals alles so furchtbar gleichgültig«, wollte sie fortfahren, um sich dann aber plötzlich mit der Frage an Indrek zu wenden: »Wissen Sie, was Überdruß ist? Wissen Sie, was das bedeutet, wenn man Ihnen sagen könnte: morgen kommt das Glück, ein Glück, so unerhört groß, daß du davon den Verstand verlieren könntest, du aber ganz gleichmütig erklärst: laß nur das große Glück kommen, aber ich brauche weder ein großes noch ein kleines Glück mehr, ich will nur sterben, gerade eben nur sterben, denn ich glaube nicht an ein Glück, das mich auch nur ein ganz klein wenig glücklich machen könnte. Ja, wenn Gott, der Himmel und Erde in sieben Tagen geschaffen hat, selbst käme und sagte: ich will dir einen Wunsch erfüllen, was wünschst du dir? So würde ich dem Schöpfer Himmels und der Erden ganz ruhig erwidern: lieber himmlischer Vater, du bist ein wenig zu spät gekommen, um einen einzigen Tag hast du dich verspätet, denn noch gestern hatte ich eine Menge Wünsche, aber heute nur noch einen – den Tod. So war es damals. Aber man hat mich damals gegen meinen Wunsch gerettet. Mir war es gleich. Und dann kam ein Brief von der Tante. Das heißt eigentlich war er schon lange gekommen, aber man hatte ihn mir nicht abgegeben. Und in diesem Brief war auch von Ihnen die Rede, an mehreren Stellen. Und als ich Ihren Namen las, da kam mir ein guter Gedanke. Ich sagte mir nämlich: wäre Herr Paas hier gewesen, so wäre es viel einfacher gewesen, mich zu retten. Denn wissen Sie, was der Oberarzt mich fragte? Ob ich nicht einen Menschen hätte, mit dem ich sozusagen blutsverwandt wäre, einen Menschen, der bereit wäre, mir ein wenig von seinem Blut abzugeben? Das fragte er mich. Aber mir wollte kein solcher Mensch einfallen. Aber als ich dann im Brief der Tante Ihren Namen las, da dachte ich mir gleich: das ist der Mensch. Das glaubte ich fest. Und ich dachte mir: wenn ich noch mal mit Herrn Paas zusammentreffe, dann werde ich ihn unbedingt fragen, ob meine Annahme, mein Vertrauen damals gerechtfertigt waren oder nicht. Und nun frage ich Sie: hatte ich recht oder nicht? Antworten Sie mir ganz aufrichtig, denn nun ist das ja schon lange vorüber, und ich will bloß wissen, ob ich recht hatte oder nicht, und bitte drücken Sie sich nicht mit leeren Worten um die Antwort herum. Verstehen Sie? Also, hatte ich recht oder nicht?«

»Fräulein, wie können Sie nur so fragen?« versetzte Indrek gequält.

»Ich habe mich also geirrt«, sagte Ramilda, Indrek betrübt anblickend, indem sie sich vom Tisch gleiten ließ, um zu gehen.

»Nicht doch!« rief Indrek, dem Mädchen ein paar Schritte nachgehend, während seine Augen voll Tränen standen, so daß er nichts recht mehr unterscheiden konnte. »Selbstverständlich wäre ich mit allem einverstanden gewesen. Lassen Sie heute noch oder einerlei wann meine Adern öffnen, und nehmen Sie Blut soviel Sie brauchen, was ist da noch viel zu fragen!«

Als Indrek seiner Tränen wieder Herr geworden war, stand Ramilda dicht vor ihm, mit den Händen eine unbestimmte Bewegung machend, als wolle sie Indrek berühren oder etwas dergleichen. Aber kaum waren Indreks Augen wieder klar, als sie die Arme sinken ließ und sagte:

»Ich bin so froh, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe, wenigstens in Ihnen nicht. Es ist so sonderbar, jemanden zu haben, dem man völlig vertrauen, auf den man sich verlassen kann, auch wenn man seiner Hilfe vielleicht nie bedürfen wird. Vielleicht glauben die Menschen gerade darum an Gott, um sich diese letzte Zuversicht zu schaffen. Aber das bleibt alles unter uns, ganz wie die Geschichte mit den Tassenhenkeln, die wir damals abbrachen. Wo sind sie übrigens geblieben? Sie können sich dessen nicht entsinnen? Das ist ja auch gleich, denn im Grunde war es doch recht töricht und sinnlos. Aber nun muß ich gehen, denn die Stunde ist bald aus. Morgen reise ich aufs Land zu meiner anderen Tante, Papa meint, das würde für meine Gesundheit besser sein. Er und die Tante hier haben ja auch für mich nie auch nur einen Augenblick Zeit, sie haben ja ihre Jungen, wie immer. Aber wenn die Jungen auseinandergefahren sind, dann werden sie mich vornehmen und einpacken und dahin zurückbringen, von wo ich erst eben losgezogen bin. Meinetwegen! Wenn sie sich wenigstens in der Weise ein wenig um mich kümmern. Wenn Sie wüßten, wie einsam ich bin! Es ist manchmal direkt furchtbar! Manchmal kann mir irgendein Möbelstück, eine Wand, eine Zimmer- oder Straßenecke mehr bedeuten als ein Mensch. Aber das sage ich nur Ihnen, behalten Sie das. Haben Sie auch manchmal ähnlich empfunden? Ja?«

»Wenn Sie das so schildern, dann will es mir wohl so scheinen«, versetzte Indrek. »Wenn ich Heimweh habe, dann denke ich auch oft mehr an die Orte und Gegenstände als an die Menschen: an Bäume, Sträucher, einen alten Zaun, oder eine Zaunlücke, durch die man so oft geklettert ist, an eine kreischende Pforte, die man unzählige Male geöffnet hat. Und wissen Sie, Fräulein, wir haben auf einem Hügel bei unserem Hof alte Kiefern, an die denke ich immer ganz zuerst.«

»Und wissen Sie, warum das so ist? Ich weiß es, weiß es ganz genau. Die Sachen sind ehrlicher als die Menschen, sie sind wahrer. Sie haben ihren festen Charakter, den haben die Menschen nicht. Die Menschen haben überhaupt gar nichts. Heute trennt man sich von seinem besten Freunde, und morgen ist er einem schon wildfremd, – so sind die Menschen. Ich bin auch so, ich habe nur Launen und Illusionen, die habe ich reichlich. Das wollen Sie nicht glauben? Oh, da kennen Sie mich schlecht! Und mein Vater kennt mich auch nicht. Andere Frauen kennt er, das weiß ich, jetzt weiß ich es, aber seine eigene Tochter kennt er nicht, denn die ist ja keine Frau, nur ein Kind. Aber vielleicht tut er auch nur so, als kenne er mich nicht. Ihm kann man nämlich überhaupt nicht trauen, er ist der unwahrste Mensch, den ich kenne. Glauben Sie mir! Ich kenne doch meinen Vater. Wollen Sie, ich erzähle Ihnen eine Geschichte ...«

Aber diese Geschichte blieb unerzählt, denn aus dem Korridor ließ sich die Glocke hören, die den Schluß der Stunde verkündete, und gleichzeitig begann das ganze Haus zu summen wie ein Bienenstock, der sich anschickt zu schwärmen. Ramilda lief davon, aber in der Tür wandte sie sich noch einmal um und winkte Indrek lächelnd zu, so leicht und sorglos, als sollten sie sich schon nach einer kurzen Weile wieder treffen, um weiter zu schwatzen. Und doch hatte sie Indrek zum letzten Male gewinkt, zum letzten Male zugelächelt. Das schien er zu ahnen, denn warum hätte er sonst wohl solch eine hoffnungslose Wehmut empfunden, die sich bis zu einem direkt körperlichen Schmerz in der Brust steigerte, und sonst hätte diese Schwermut doch wohl nicht Tage und Wochen angehalten.


 << zurück weiter >>