Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die durch den Tod Professor Kölers verursachten Eindrücke hätten vielleicht länger angehalten, wenn nicht Puschkins Geburtstag herangekommen wäre. Der Original-Geburtstag lag nun freilich schon hundert Jahre zurück, aber damals lebte auf der Welt noch niemand, der gewußt hätte, daß dieser Tag einer besonderen Feier wert sei. Inzwischen war Puschkin längst gestorben – 2,702702 ... mal hätte er inzwischen sterben können, wenn er seine richtige Zeit gelebt hätte. Das hatten Jaan Wainukägu und Adalbert Sikk zusammen ausgerechnet, freilich nur annäherungsweise, wie sie zugaben, denn für übermäßige Genauigkeit läge doch kein rechter Grund mehr vor, wenn ein Mensch doch nun mal schon gestorben sei. Das Ergebnis ihrer Rechnung teilten sie Herrn Slopaschew mit, als dieser Puschkins Geburtstags erwähnte, aber Slopaschew antwortete ihnen ganz gleichmütig:
»Puschkin kann tausend Male sterben, er lebt dennoch, denn während er tausend Male stirbt, wird er gleichzeitig zehntausend Male geboren.«
In der ganzen Stadt, zum mindesten in den Lehranstalten, von der höchsten bis zu den untersten, gab man sich den Anschein, als sei man voller Erregung im Zweifel darüber, ob Puschkin nun nicht vielleicht wirklich noch einmal geboren werden oder ob dieser wichtige Akt mißlingen würde. Herr Slopaschew ging schon seit Wochen mit besonders aufgedunsenem Gesicht umher und hielt mit seinem Freunde Woitinski Kolloquien, wie er sich ausdrückte. Diese Kolloquien fanden meistens daheim statt, aber wenn die Streiche der Jungen gar zu ausgelassen wurden, auch auswärts, in irgendeinem stillen Winkel. Und bei diesen Sitzungen verstieg sich Slopaschews Gedankenflug zuletzt so hoch, daß er Puschkin mit Christus verglich, indem er der Meinung Ausdruck gab, daß, wenn Gott nochmals auf den Gedanken kommen sollte, die Menschheit durch das Blut seines Sohnes zu erlösen, dieses unbedingt nur in Rußland geschehen könne, denn wenn man dort mit Puschkin fertig geworden sei, indem man ihn vor der Zeit ermordete, so würde man wohl auch des Heilandes nicht schonen; an die Juden brauche man sich wegen der Erlösung der Welt nicht zu wenden.
»Aber Herr Slopaschew, Puschkin kann man doch nicht mit Christus vergleichen«, meinte der Direktor.
»Nun sehen Sie doch selbst«, rief Slopaschew triumphierend, »Sie haben ja keine Ahnung, wer Puschkin ist! Dichter sind sie doch beide, große Dichter, nur daß Puschkin seine Dichtungen selbst ausgezeichnet hat, während Christus sie von anderen aufzeichnen ließ, da er selbst vermutlich dieses Handwerk nicht verstand. Sie nehmen natürlich an, daß Christus als Dichter Puschkin übertrifft, aber warten wir mal erst ab, bis auch Puschkins zweitausendster Geburtstag herankommt, und dann wollen wir mal sehen. Ich behaupte, wenn Puschkin seine zehntausend Jahre im Grabe gelegen haben wird, dann wird er mehr wert sein als Christus, der zweitausend Jahre zur rechten Hand Gottes gesessen hat.«
Aber Herrn Maurus gefiel dieser hohe Gedankenflug nicht, und so ließ er denn, wie beiläufig, eine Andeutung über den Einfluß des Alkohols fallen. Hierauf erfolgte von seiten Slopaschews die weise Antwort:
»Daß ein Lehrer säuft, ist kein großes Unglück. Aber der Schüler muß nüchtern sein, denn lernen ist schwieriger als lehren. Lehren kann man auch, ohne selbst etwas zu begreifen, aber um zu lernen, muß man begreifen, sonst geht es nicht ...«
So hoch gingen die Wogen vor Puschkins Geburtstag in Slopaschews erregtem Geiste.
Seine Erregung schien auch die Schüler anzustecken. Es wurden allerlei Vorbereitungen getroffen, die von geheimnisvollem Dunkel umgeben waren. Besonders eifrig waren Lible, Wutt und Wainukägu tätig. Als dann der große Tag endlich anbrach, da schien die Atmosphäre direkt mit Elektrizität geladen.
Slopaschew erschien in äußerst gehobener Stimmung in der Klasse, und sein Gesicht strahlte, als er das Katheder bestieg.
»Heute, meine lieben Kinder, will ich euch von Puschkin erzählen, dem größten und genialsten Dichter der Welt. Von Puschkin als Menschen will ich euch erzählen, meine lieben Kinder.« So begann Slopaschew seine Festrede, nachdem er auf dem Katheder Platz genommen hatte. Aber lange konnte er nicht sitzenbleiben, denn er berauschte sich alsbald so sehr an seinen eigenen Worten, daß er sich erheben mußte, um sich dann auf den Zehenspitzen emporzurecken und schließlich, mit den Händen fuchtelnd, vornübergebeugt, die Brust gegen das Kathederpult gedrückt, dastand, als wolle er sich zum Fluge der Begeisterung erheben, um als Geist Puschkins über der Klasse zu schweben, das Gesicht gedunsen, die Augen blutunterlaufen.
In diesem Moment senkte sich von der Decke, hinter dem Streckbalken hervor, vor Herrn Slopaschews flimmerndem Blick etwas Kleines, Schmächtiges, das ein wenig mit seinen Gliederchen zappelte und dann ebenso unerwartet, wie es gekommen, wieder verschwand. Slopaschews linke, nach den Schülern hin ausgereckte Hand erstarrte wie versteinert, während die Rechte einige sonderbare, direktionslose Bewegungen machte, um dann mehrfach über die Augen zu fahren, als wollte sie dort etwas fortwischen oder erhaschen. Dann näherte sich auch die Linke den Augen, und nachdem Slopaschew sich eine Weile die Augen gerieben hatte, öffnete er sie wieder blinzelnd und fragte erschrocken:
»Habt ihr was gesehen?«
»Nein!« schrien die Jungen im Chor, am lautesten Lible mit seiner gellenden Stimme von der hintersten Bank.
»Mir schien es, als schwebte etwas vorüber«, erklärte der Lehrer.
»Das war Puschkins Geist«, wurde erwidert.
»Schändet das Andenken dieses edlen Genius nicht mit euren dummen Scherzen«, rief Slopaschew, und nahm dann seine Rede wieder auf. Aber es währte nicht lange, bis er von seiner eigenen Rede bis zu Tränen gerührt wurde. Und dann schwebte die winzige Gestalt aufs neue von der Decke hernieder und fuchtelte mit ihren weißen Gliederchen vor Herrn Slopaschews verschwollenen Augen, die er nun mit beiden Händen wiederum eifrig zu reiben begann.
»Es fängt doch wieder an«, murmelte er für sich.
»Was fängt wieder an?« fragten die Schüler.
»Ihr begreift das noch nicht, ihr seid noch nicht alt genug«, sagte Slopaschew düster und setzte dann seine Rede fort, aber die frühere Ekstase konnte er nicht mehr wiederfinden. Nur die Stimme überschlug sich manchmal, gleich dem Krähen eines jungen Hahnes, wie das stets zu geschehen pflegte, wenn Slopaschew ernstlich in Begeisterung geriet. Und dieses Krähen deutete der hinter dem Streckbalken an der Decke lauernde Geist mit Recht als Begeisterung und senkte sich abermals tänzelnd vor Herrn Slopaschews Augen nieder. Aber im selben Augenblick hatte Slopaschew ihn auch schon erwischt, und seine Rede unterbrechend, brüllte er mit geradezu löwenähnlicher Stimme: »A...a! O...o! Was ist das?« Und ehe noch jemand ein Wort der Erwiderung finden konnte, war der kleine weiße Pappgeist, dessen Gliederchen durch Fädchen in Bewegung gesetzt wurden, die sich in Libles Fingern vereinigten, in tausend Stücke zerrissen und der Klasse ins Gesicht geworfen. Nur die grinsende Fratze blieb an der Schnur hängen. Slopaschew schrie triumphierend:
»Habe ich dich! Das bist du, Lible! Deine Hände stecken unter der Bank!«
Mit diesen Worten stürmte er mit seinem gewichtigen Körper vom Katheder herab, um Lible zu ertappen. Dies war erst der Moment, wo die eigentliche Geburtstagsbegeisterung losbrach. Denn der ganze Fußboden vor und zwischen den Bänken war mit Knallerbsen bedeckt, ja sie fehlten auch nicht unter den Bänken, hier und in den übrigen Klassen, um von den Füßen der Schüler im verabredeten Moment in Aktion gesetzt zu werden. Als nun Herr Slopaschew in heiligem Zorne vom Katheder stürzte, um den vermeintlichen Übeltäter zu fassen, da erhob sich unter seinen Füßen ein Höllengeknatter. Und nun ließen auch die Schüler ihre Füße spielen, erst in Slopaschews Klasse, dann aber auch in den anderen Klassen, einer nach der anderen, bis das ganze Haus durch alle drei Stockwerke von Pelotonfeuer widerhallte. Und diesem Pelotonfeuer gesellte sich das Schreien und Pfeifen der Jungen, die plötzlich alle den Verstand verloren zu haben schienen. Man hätte wirklich annehmen können, es hier nicht mit einer Lehranstalt erster Kategorie zu tun zu haben, sondern mit einer Menagerie.
Die Lehrer, die auf ein solches Höllenkonzert denn doch nicht vorbereitet waren, traten den Rückzug an. Alles rief nach Herrn Maurus, der indessen nicht daheim war. Auch Ollino war machtlos, denn er wurde kaum mit seiner eigenen Klasse fertig. Während die ratlosen Lehrer unten im großen Zimmer über die Lage berieten, nahm die Sache in Slopaschews Klasse eine neue Wendung: dort trat wieder Ruhe ein, während der Lärm in den übrigen Klassen noch andauerte. Das geschah ganz unerwartet. Slopaschew machte aufs neue einen Versuch, Lible zu erhaschen, indem er versicherte, ihn so zuzurichten, daß von ihm auch nicht ein feuchter Fleck übrigbleiben würde, aber als der Junge sich gewandt unter die Bänke flüchtete, gab Slopaschew die wilde Jagd alsbald auf, ging langsam nach dem Katheder zurück, wo er sich niedersetzte, die Augen mit der Hand bedeckend, ohne sich weiter auch nur im geringsten um das Knattern und Schreien zu kümmern. Und als er dann schließlich die Hand von den Augen zog, um die verstummte Klasse zu betrachten, da konnten alle, sogar auch der inzwischen schon wieder unter den Bänken hervorgekrochene Lible sehen, daß Herr Slopaschew weinte, denn sein ganzes Gesicht war feucht, und aus seinen Augen liefen sogar eben noch Tränen, als rede er noch immer von Puschkin, dem größten Dichter der Welt. Darauf war niemand vorbereitet, und darum ergriff dieser Anblick alle gleich heftig. Slopaschews Tränen muteten die Jungen an wie eine Erscheinung. Nun mochten die übrigen Klassen knattern und schreien, soviel sie wollten, Slopaschews Klasse gab auch nicht einen Ton mehr von sich. Und inmitten dieser Stille fragte Herr Slopaschew sanft:
»Kinder, warum habt ihr mir das getan?«
Aber auf diese Frage erfolgte keine Antwort.
»Bin ich etwa schlecht zu euch gewesen?« fragte Slopaschew. »Paas, Sie sind schon erwachsen, sagen Sie mir, bin ich schlecht gegen Sie gewesen?«
»Aber warum behandelt man mich denn so?«
»Sie sind häufig betrunken, Herr Lehrer«, erwiderte Indrek nun.
Aber diese Antwort hatte Slopaschew anscheinend am allerwenigsten erwartet. Er blickte Indrek wie erstarrt an und ließ seine Blicke erst nach einer geraumen Weile auch über die Gesichter der übrigen Schüler gleiten. Und als sein Blick dann schließlich wieder zu Indrek zurückkehrte, sagte Slopaschew gleichsam ergeben:
»Richtig, ich bin sogar heute betrunken, und habe euch trunkenen Muts vom größten Dichter und edelsten Menschen der Welt gesprochen. Daraus mögt ihr ermessen, welch ein Schwein der Mensch sein kann. Nur der Mensch! Und ich schäme mich nicht, das zu sagen, denn es ist die Wahrheit. Aber zum Vorbild sollt ihr euch das nicht nehmen, denn nicht jeder Lehrer taugt zum Vorbilde. Nicht einmal Puschkin taugt für euch in jeder Hinsicht zum Vorbilde, geschweige denn ich. Seht mal, liebe Kinder, das ist ja eben das ganze Unglück, daß es so wenig Vorbilder gibt, denn die richtige Erziehung liegt ja gerade im Vorbilde. In nichts sonst! Aber sagt doch nun selbst, was für ein Vorbild könnte ich euch sein, wenn ich euch trunkenen Muts vom größten Dichter aller Zeiten erzähle. Und was soll aus euch, liebe Kinder, werden, wenn ihr solch einen Lehrer habt. Aber wollt ihr es nicht doch noch weiter mit mir versuchen, wenn ich euch verspreche, euch beim heiligen Namen des Dichters Puschkin feierlich gelobe, mich vom heutigen Tage an zu bessern? Und wenn ich wieder straucheln sollte, so erinnert mich an mein Versprechen, und ich will euren Worten folgen. Und ihr werdet schon sehen, meine lieben Kinder, aus mir kann noch auf meine alten Tage etwas werden, wenn ihr euch ein wenig meiner annehmen und mich erziehen wollt. Überhaupt sollten nicht die Eltern ihre Kinder, die Lehrer die Schüler erziehen, sondern umgekehrt, denn Eltern und Lehrer sind vom Leben mehr verdorben als Kinder und Schüler. Das meinte ja auch Christus, als er sagte: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Sagte er etwa: Laßt die Eltern kommen? Nein, sondern die Kinder. Versteht ihr? Und so müßt ihr, liebe Kinder, euch eben eure Lehrer selbst erziehen, ihnen Vorbild sein, dann wird es schon besser werden. Euer, der Jugend, ist die Welt, die Zukunft, und wenn ihr nicht wollt, daß sie zugrunde geht, daß wir Alten sie zugrunde richten, euch durch unser schlechtes Beispiel von Grund aus verderben, so müßt ihr die Zügel straffer anziehen. Ihr sitzt auf Christi Knien, nicht wir Alten, und wenn ...«
Slopaschew konnte seine Rede nicht vollenden, denn die Türe öffnete sich und Herr Maurus betrat die Klasse. Er war offensichtlich höchst überrascht, daß hier vollkommene Ruhe herrschte, während aus den übrigen Klassen immer noch vereinzelte Knalle und Massengebrüll herüberschallte. Er hätte eigentlich genau das Umgekehrte vorausgesetzt. Und darum hielt er sich hier auch vorerst gar nicht länger auf, sondern eilte weiter und erschien erst wieder, als im ganzen Hause die Ruhe völlig wiederhergestellt war.
»Herr Slopaschew«, bemerkte er nun mit boshafter Ironie, »heute hat sich etwas Merkwürdiges ereignet, etwas sehr Merkwürdiges.«
»Und das wäre?« fragte Slopaschew offensichtlich neugierig.
»Als ich in der Droschke über die Brücke fuhr, hörte ich plötzlich einen fürchterlichen Lärm und Geschrei. Da sagte ich zum Droschkenkutscher: ›Herr Droschkenkutscher‹, sagte ich, ›haben Sie gute Ohren?‹ Und der Droschkenkutscher hielt sein Pferd an und sagte: ›Warum fragen der Herr das?‹ Worauf ich wiederholte: ›Haben Sie gute Ohren, Herr Droschkenkutscher, oder nicht?‹ Hierauf sagte er: ›Viel taugen tun die Dinger wohl nicht, das eine ist immer zugefallen und das andere summt.‹ Da fragte ich ihn: ›Herr Droschkenkutscher, hören Sie etwas?‹ Und er: ›Ja, es scheint mir beinahe so.‹ – ›Und was hören Sie, Herr Droschkenkutscher?‹ fragte ich. ›Drüben über dem Fluß ist wohl wieder eine Menagerie, wie im vergangenen Jahre‹, sagte mir dieser halbtaube Droschkenkutscher. Und wissen Sie, was ich dann tat? Ich stieg aus der Droschke, zahlte, wobei ich noch einen Zwanziger zulegte, weil ich die ausbedungene Strecke nicht bis zu Ende gefahren, und sagte: ›Danke schön, Herr Droschkenkutscher, aber leider kann ich Sie nicht weiter benutzen, denn Sie sind nicht völlig taub. Ich kann nur mit einem völlig tauben Droschkenkutscher vor mein Haus fahren, denn sonst muß ich mich schämen.‹ Und so kam ich denn zu Fuß nach Hause. Und als ich dann zu Hause begann nachzufragen, da sagten alle: ›Herr Slopaschew weiß Bescheid.‹ Und nun würde ich gerne erfahren, worüber Sie Bescheid wissen.«
»Herr Maurus«, sagte Slopaschew, »Sie bringen mich vor der Klasse in eine peinliche Lage, denn ich weiß von alledem, was Sie da reden, nichts. Allenfalls könnte ich bei meinem Vortrage über Puschkin so weit in Begeisterung geraten sein, daß ich auch die Klasse angesteckt habe. Aber gerade eben habe ich versucht, den Jungen klarzumachen, daß jedes Übermaß auf Charakterschwäche zurückzuführen ist, und der Mensch sich jeglicher Übertreibung enthalten solle. Jeder für sich und das ganze Volk. Wir Russen haben keinen festen Charakter, und daher wäre es vielleicht gut, Herr Maurus, wenn Sie die Klasse fragen würden, in estnischer Sprache fragen würden, die ich nicht verstehe, so daß die Antwort mich nicht beschämen könnte. Oder wünschen Sie vielleicht, daß ich die Klasse für einen Augenblick verlasse?«
»Nein, nein«, versetzte der Direktor, »meine Jungen wagen stets, die Wahrheit zu sagen.«
Aber dieser gelobte Mut mußte doch eine zweifelhafte Sache sein, denn der Direktor wandte sich entsprechend Slopaschews Wunsch in estnischer Sprache an Lible.
»Du, großer Schlingel«, sagte er, »erzähl' mal, was hier vorgefallen ist, und flunkere nicht, denn Herr Maurus hat Augen und Ohren, die über den Fluß reichen und durch Mauern und Wände dringen. Also sprich, oder ...«
»Herr Maurus, hier ist nichts vorgefallen«, antwortete Lible, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ihr habt nicht geschrien?« fragte der Direktor.
»Nur ein wenig, wie auch sonst zuweilen.«
»Warum habt ihr denn geschrien?«
»Es war so komisch, was Herr Slopaschew von Puschkin erzählte.«
Herr Maurus wandte sich noch an einige Jungen, aber erhielt immer dieselbe Antwort. Schließlich faßte er vor Indrek Posto und sagte:
»Nun, und Sie altes langes, echtes Kind Gottes, in dem kein Falsch ist, was sagen Sie?«
»Nichts anderes als auch die anderen, nur daß ...«
Indrek stockte, denn er bedauerte es nun, etwas mehr haben sagen zu wollen als die anderen.
»Nun, so sprechen Sie doch, was denn?« forschte der Direktor.
»Nur, daß Herr Slopaschew durch Puschkin bis zu Tränen gerührt wurde, und wir lachten«, beendete Indrek seinen Satz.
»Ihr solltet euch schämen«, rief Herr Maurus unwillig.
»Wir schämten uns später auch«, murmelte Indrek entschuldigend.
»Lible, hast du dich auch geschämt?« fragte der Direktor.
»Doch«, versetzte der Junge, anscheinend zerknirscht.
»Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte der Direktor und fuhr dann, sich zu Slopaschew wendend, in russischer Sprache fort: »Sie schämen sich und bedauern, anläßlich Puschkins Geburt gelacht zu haben. Aber Sie müssen ihnen verzeihen, denn sie sind noch jung und wissen nicht, daß die Geburt ebenso schwer und bedeutsam ist wie der Tod. Wir Alten wissen das und geraten in Begeisterung, aber sie lachen nur darüber.«
Und damit verließ der Direktor die Klasse.
»Ich danke euch, Kinder«, sagte Slopaschew und wollte noch etwas hinzufügen, aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, und darum hob er bloß die rechte Hand und machte mit ihr eine unbestimmte Bewegung, worauf er Herrn Maurus folgte, denn es hatte schon lange geläutet.
Erst nach Schluß des Unterrichts fragte der Direktor Indrek unter vier Augen:
»Ist es wahr, daß Sie Herrn Slopaschew vor der Klasse gesagt haben, er sei betrunken?«
»Nein«, versetzte Indrek, »nur, daß er häufig betrunken sei, und daß uns das nicht gefalle.«
»Das war sehr gut«, lobte Herr Maurus. »Auf mich hört er nicht, vielleicht hört er wenigstens auf Sie, ein alter Mann schämt sich vor Jungen immer eher als vor seinesgleichen.«
* * *
Puschkins Geburtstag war das letzte Ereignis, welches das ganze Institut gewissermaßen zusammenschloß; dann begann eine gewisse Zersetzung sich bemerkbar zu machen. Es hatte den Anschein, als hätten alle plötzlich alles Interesse fürs Lernen und Lehren verloren. Man hatte nur noch die Abreise im Kopf und harrte mit Sehnsucht des Tages, an welchem man seine sieben Sachen zusammenpacken und sich davonmachen könnte.
Indrek war im Zweifel darüber, ob er zum Sommer wieder zum Schreiber, oder ob er zusammen mit Ollino in der Stadt bleiben sollte, das Haus hüten, wie Herr Maurus sich ausdrückte.
»Ich würde nicht wünschen, daß Sie hierblieben«, sagte Ramilda eines schönen Tages, als die Rede auf dieses Thema kam.
»Warum das, Fräulein?« fragte Indrek.
»Ich fahre fort, darum«, versetzte Ramilda. »Sie wissen ja, wohin ich fahre. Nach Deutschland. Sie wundern sich? Aber ich bin doch gar nicht so leichtsinnig, wie ich vielleicht scheine. Goethe ist natürlich gestorben, da ist nichts zu machen. Aber ins Sanatorium kann ich doch immerhin. Heute betrachtete ich mich im Spiegel, und können Sie raten, was ich da fand? Ich fand in meinem Gesicht schon leichte Runzeln. Kaum merkliche natürlich, aber immerhin. Können Sie das begreifen? Ich habe eigentlich ja noch gar nicht recht angefangen zu leben und habe schon Runzeln! Und dann dachte ich mir: eben daher die Runzeln, weil ich noch nicht begonnen habe zu leben; aber wenn ich erst nach Deutschland komme, da soll das Leben losgehen, und dann werden auch schon die Runzeln verschwinden. Und wenn es dort auch kein Leben gibt, dann ... Wissen Sie, was dann geschieht?« Sie trat nahe an Indrek heran, blickte ihm frei in die Augen und sagte dann: »Dann kommt der Tod. Wie er kommt, das weiß ich eben noch nicht, aber daß er kommt, das weiß ich gewiß. Fürchten Sie den Tod? Sprechen Sie ganz offen, denn wir trennen uns ja ohnehin für längere Zeit. Jagt er Ihnen Furcht ein?«
»Nein«, versetzte Indrek. »Er kommt mir überhaupt nicht in den Sinn.«
»Aber mir wohl«, sagte Ramilda. »Manchmal rufe ich ihn mir selbst ins Gedächtnis. Ich hatte einmal eine Freundin – es war meine einzige –, und die starb. Ich ging sie als Leiche sehen und küßte sie auf die Stirn, sprach zuerst ein Vaterunser und küßte sie dann. Wenn ich mir nun den Tod recht lebhaft ins Gedächtnis rufen will, dann denke ich immer an diesen Kuß. Um mich mir selbst tot vorzustellen, mache ich es so: ich trete vor den Spiegel und blicke mir selbst starren Blickes ins Gesicht; dann schließe ich die Augen, spitze die Lippen – so küßte ich auch die Freundin – und küsse dann mein Spiegelbild. Die Berührung des kalten Glases läßt einen erschauern, grausig und angenehm zugleich, und ich denke: das war meine eigene kalte Stirn, kalt wie die Stirn einer Verstorbenen; also bin ich im Tode erstarrt, bin tot. Und dann wage ich es nicht mehr, die Augen zu öffnen, in der Befürchtung, mich selbst im Spiegel tot zu erblicken. Ich wende mich erschrocken ab, tappe mit geschlossenen Augen bis zum Sofa, werfe mich nieder und verberge das Gesicht in den Kissen. Und erst dann wage ich es, die Augen wieder zu öffnen. Wenn Sie wüßten, was das für eine Freude ist, wieder allein zu sein und zu empfinden, daß man noch lebt, daß man noch eben tot war, nun aber gesund wieder erstanden ist, von den Toten auferstanden. Die Tante kann das gar nicht begreifen. Können Sie es?«
»Ja, das kann ich wohl«, versetzte Indrek.
»Was begreifen Sie?« fragte Ramilda.
»Sagen kann ich das nicht recht, aber ich fühle, daß ich es begreife«, erklärte Indrek.
»Nicht wahr?« bestätigte Ramilda. »Es ist gleichsam irgendwo auf dem Rücken oder im Nacken, und darum läßt es sich nicht sagen. So habe ich zum Beispiel keine Ahnung, ob ich einmal heiraten werde und wen, aber manchmal denke ich doch: wie wäre es, wenn der Fürst mein Mann wäre? Was würde ich tun, wenn mein Mann anfangen würde, Geschirr zu zerschlagen? Und wissen Sie, was ich dann tun würde? Ich würde ihm selbst das Geschirr in die Hände drücken und sagen: hier, da hast du, tob' dich nach Herzenslust aus, wenn es anders nicht geht. Ich würde die Schranktüren öffnen und von dort alles auf dem Tisch aufschichten, um es meinem Manne bequemer zu machen. Glauben Sie, daß ich so verfahren würde?«
»Das weiß ich nicht, das weiß ich wirklich nicht«, versetzte Indrek ergeben, als wäre man ihm zu nahe getreten.
»Immer ich weiß nicht, und ich weiß nicht«, rief Ramilda ironisch. »Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das überhaupt kein rechter Mann ist, der aus Ärger anfängt, Geschirr zu zerschlagen; das tut nur meine Tante, wenn sie sich mit Papa in die Haare gerät. Dann zerschlägt sie alles, was ihr unter die Hände kommt, und weint dann später beim Gedanken, was das alles kostet. Ein rechter Mann, der vergreift sich an einem, wenn er sich ärgert. Wenn der Fürst sich damals auf die Tante gestürzt hätte, das wäre das Rechte gewesen. Auch auf mich hätte er sich stürzen können, denn was ging die ganze Geschichte mich an, aber nein, auch das tat er nicht. Ich dachte gerade, nun wird er mich überfallen, aber nein. Er zerschlug bloß Geschirr, alte Tassen und Teller! Nun wissen Sie, was ich von solchen Männern halte, wie der Fürst. Aber mit Ihnen sollte ich eigentlich überhaupt nicht so reden, denn Sie verführen mich zu Dummheiten, meint die Tante.«
»Aber Fräulein, ich rede ja keinen Ton«, verteidigte Indrek sich.
»Gerade damit verführen Sie mich: selbst reden Sie keinen Ton und lassen nur mich reden, und so kommt es denn.«
»Ich verstehe ja nicht so schön zu reden wie Sie«, sagte Indrek nun.
»Ich verstehe nicht so schön ...« wiederholte Ramilda, gleichsam ironisch, fragte dann aber plötzlich lebhaft: »Rede ich wirklich schön?«
»Meiner Ansicht nach wohl.«
»Ehrenwort«, versicherte Indrek.
»Wie hübsch von Ihnen, mir das zu sagen. So findet doch wenigstens ein Mensch etwas an mir! Aber das erzähle ich niemandem, auch in Deutschland nicht. Und Sie dürfen es auch niemandem sagen, nicht?«
»Nein, niemandem«, versprach Indrek, wobei er gleichzeitig etwas wie Scham empfand.
Das war ihr letztes Gespräch, später haben sie nicht ein Wort mehr gewechselt. Mit diesem Eindruck fuhr Indrek heim. Aber lange wurde er den Gedanken nicht los, daß sie zuletzt vom Tode geredet hatten, als käme dem irgendeine Bedeutung zu. – Und erst viel später begriff Indrek, daß es tatsächlich etwas hatte bedeuten können. Im Zuge wiederholte Indrek sich immer wieder: Ramilda sprach vom Tode, also ist sie doch reif; und mit mir sprach sie vom Tode, also nimmt sie mich ernst. Und dann wollte es ihm plötzlich scheinen, als habe er Ramilda nie so deutlich gesehen wie eben im Eisenbahnwagen, dessen rollende Räder ihn schnell immer weiter von ihr entführten. Bisher hatte Indrek immer irgendwie an ihr vorbeigesehen, aber nun, wo er mit ihr über den Tod geredet hatte, blickte er ihr direkt in die Augen ...
Und noch als er von der Eisenbahnstation, sein Bündel auf dem Rücken, durch den Wald und längs der schlafenden Roggenfelder heimwärts schritt, bewegten ihn diese Gedanken. Wie wunderbar war dieses Wandern durch das nächtliche Land. Anfangs sputete er sich, aber dann fiel ihm ein, daß auch nicht der geringste Anlaß vorlag, sich zu beeilen, in dieser weißen Frühlingsnacht, in welcher der Kuckuck nahezu bis zum Morgen ruft, um dann mit erneuter Kraft einzusetzen, wenn der Wachtelkönig sein eintöniges Weberlied schnarrt, und die anderen Vögel im Moor ihre Stimmen hören lassen. Du gehst dahin wie halb im Schlaf, wie in einer süßen Betäubung, aus der dich nur dann und wann ein Hase aufschreckt, der über den Weg flitzt, oder ein Hund, der hinter einer fremden Pforte aufbellt.