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XXXII

So vergingen die Ferien, und dann kam wieder Leben ins Haus. Die alten Schüler trafen wieder ein, und neue meldeten sich, denn Herrn Maurus' Lehranstalt nahm alle mit offenen Armen auf. Indrek ging in diesem unruhigen Gewimmel anfangs gleichsam wie betäubt umher. Und doch war es ihm lieber als die Ruhe der Ferien. So gab es doch etwas, was den quälenden an einem Punkte herumbohrenden Gedanken abzog, diesen Gedanken, der ihn dort unter der großen Kiefer im Walde in der niedersinkenden Winterdämmerung besessen hatte und den ganz bis zum Ende zu denken, ihm nie gelingen wollte, weil sich dem in seinem Gehirn immer irgend etwas Zähes, Reckiges widersetzte. Erst ein glücklicher Zufall befreite Indrek endlich von diesem quälenden Gedanken.

Die Kosmographiestunden gab ein alter Professor – ein langer, magerer Mann mit tief in ihre Höhlen gesunkenen, müden Augen, die nur dann zu blitzen begannen, wenn er auf Parallaxe und Lichtjahre zu reden kam. Dann ergoß sich in seine knochigen Hände eine solche Kraft, daß die Kreidestücke beim Schreiben und Zeichnen zersplitterten und nur so herumflogen. Er kannte kein größeres Vergnügen, als die Schüler spätabends hinauszuführen unter den flimmernden Sternenhimmel und ihnen dort von der Sternenwelt zu erzählen und mit Zahlen und Namen um sich zu werfen. Aber was sollten die Schüler damit anfangen? Sie gähnten, ob vor Frost oder Langeweile, das wußten sie selbst nicht. Aber einmal führte der alte Professor sie auf die Sternwarte, ließ sie sich dort der Reihe nach unter dem Refraktor auf den Rücken strecken und den Mond betrachten, dessen Scheibe, ins Riesenhafte vergrößert, unheimlich genug durchs Okular auf den überraschten Beobachter niederblickte. Durch diese frostige Mondscheibe gewann der alte Professor sich die Herzen der Jungen, ja sogar Indreks wie eine offene Wunde blutendes Herz. Wie wunderlich war es doch, von diesem alten Manne zu hören, wie unerhört groß das Weltall sei, und wie unbeschreiblich winzig unsere alte Erde. Ein Stäubchen nur im All. Und erst der Mensch! Das ließ sich ja gar nicht ausdenken. Vielleicht daß der alte Professor das wüßte, aber das war wohl kaum anzunehmen. Der Mensch steht uns zu nah, so nah, daß man eigentlich nichts von ihm wissen kann, weil er sich sozusagen selbst im Lichte steht. Wenn er von uns wenigstens so weit entfernt wäre wie der Mond, so daß man ihn rücklings daliegend durchs Teleskop betrachten könnte, – ja, das wäre eine andere Sache. Aber so ging das wohl nicht.

Als die Schüler einmal wieder um den Professor geschart am Hange des Domberges standen, das flimmernde Lichtermeer der Stadt zu Füßen, zu Häupten die funkelnde Sternenpracht der Unendlichkeit, begann der Professor von der Milchstraße und den Nebelflecken zu erzählen, die nichts weiter seien, als ferne Milchstraßen. Er warf mit Hunderten und Tausenden von Lichtjahren um sich, als handle es sich um Spaziergänge von wenigen Stunden im Weltenraum. Er erzählte von Sternen, die mit rasender Geschwindigkeit auf uns zustürmen und von anderen, die sich mit derselben Geschwindigkeit von uns entfernen. Um diese letzteren schien es ihm irgendwie leid zu sein, denn solche Sterne können eines schönen Tages überhaupt verschwinden, und dann ist der Himmel um einen Stern ärmer. Der Mensch mag dann noch auf der Erde leben, er mag die Kraft seiner Teleskope vertausendfacht haben, den fliehenden Stern holt kein Teleskop mehr ein. Der Mensch lebt weiter, aber der Stern ist tot. Und wer kann behaupten, daß die Sterne, die wir erblicken, tatsächlich existieren? Niemand! Hunderte, Tausende von Jahren können vergehen, bevor ihre Strahlen uns erreichen. Wenn gleichzeitig mit Christus irgendein Stern geboren wurde – denn auch Sterne werden geboren und sterben –, so erreichen seine Strahlen uns vielleicht erst heute oder morgen, vielleicht aber auch erst nach Hunderten oder Tausenden von Jahren. Und wenn gleichzeitig mit Christus irgendein ferner Stern gestorben ist, so erblicken wir ihn heute vielleicht zum letzten Male, und morgen ist er schon erloschen, nachdem sein letzter Strahl die Erde erreicht hat. Aber vielleicht erreicht dieser letzte Strahl des sterbenden Sterns die Erde auch erst nach Hunderten oder Tausenden von Jahren, so daß wir am Himmel Sterne sehen, die in Wirklichkeit schon lange nicht mehr existieren. So bewegen sich im Weltenraum unzählige Sterne, die wir noch nicht sehen, und ebenso auch unzählige, die wir nicht mehr sehen. Vielleicht ist die ganze Milchstraße weiter nichts als eine Täuschung ...

Lang und mager, vornübergebeugt stand der Professor inmitten seiner Schüler da, den Kragen des abgetragenen Mantels hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben, denn es herrschte starker Frost.

Als er endlich, in sich versunken, schwieg, fragte Indrek, der gerade vor ihm stand:

»Herr Professor, wenn der Weltraum so unendlich groß ist und überall voller Sterne, Nebelflecken und Milchstraßen, wo ist dann der Himmel?«

Der Alte richtete seinen Kopf mit einem Ruck empor; seine von der Kälte erstarrten Lippen lächelten wehmütig, als er sagte:

»Bald fünfzig Jahre habe ich ihn gesucht und ihn nicht finden können. Nun bin ich alt. Aber Sie sind noch jung, suchen Sie, vielleicht finden Sie ihn.«

Sprachs und versank dann wieder in Schweigen, von seinen Schülern umringt dastehend, lang und hager, vornübergebeugt, als falle ihm das Stehen schwer.

Als die Gesellschaft den Hang hinabstieg, trennte sich Indrek unter einem Vorwande von den andern, denn er hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Er wollte mit sich selbst ins reine kommen, ohne von irgend jemandem gestört zu werden.

»Also es gibt keinen Himmel«, murmelte er, allein geblieben, vor sich hin. »Es gibt überhaupt nichts, nirgendswo, nur Sterne, Sterne und Sterne. Aber wenn es keinen Himmel gibt, wo ist Gott dann? Wo ist er? Gibt es ihn überhaupt?«

Schon lange hatte Indrek dunkel geahnt, daß es ihn gar nicht gebe, aber nun war er davon überzeugt. Richtig! Darum konnte alles so geschehen, wie es geschehen war. Nur darum. Nun war ihm alles klar. Sonst hätte vielleicht auch Ramilda noch leben können, denn wer sollte denn überhaupt leben, wenn nicht sie. Aber wenn es nur Sterne gab, dann war es ja verständlich. Die Sterne müssen ja auch sterben, was vermögen sie da gegen den Tod auszurichten. Nur ihr Licht leuchtet noch eine Weile wie Ramildas Name, die Erinnerung an sie.

Lange ging Indrek so unter den funkelnden Sternen im scharfen Frost dahin, in tiefe Gedanken versunken. Aber als die anderen am Abend zur Ruhe gingen, setzte er sich an den Tisch und begann zu schreiben. Er konnte nicht anders, er mußte schreiben, um seinem Herzen Luft zu machen. Das sollte sein erster Beitrag zu dem im vorigen Jahre begründeten Schülerblatt sein, das den Namen »Die Wahrheit« trug und als Motto die Worte: »Wahrheit, Wahrheit, die reine Wahrheit.« Dieses Blatt sollte die Auswüchse im Schulleben bekämpfen, die literarischen und wissenschaftlichen Interessen fördern und den Schülern Gelegenheit bieten, sich geistig zu betätigen. Schreiben konnte man in russischer, deutscher, lateinischer und estnischer Sprache. Bisher hatte Indrek nur gelesen, was andere geschrieben hatten, aber nun wollte er seinerseits auch den anderen etwas bieten.

Für die nächste Nummer des Blatts war besonders scharfer Toback vorgesehen: der Jude Solotarsky setzte sich mit den Sauriern auseinander, Wellemaa, der nun schon Student war, mit dem Übermenschen, und Indrek ging niemand Geringerem als Gott selbst zu Leibe. Er ging am allerschärfsten vor, aber er hatte vielleicht auch Grund dazu. Aus seinem wunden Herzen flossen ihm die Zeilen in der tiefen Einsamkeit der Mitternacht fast ungesucht aufs Papier. Und wenn Gott in diesem Augenblick bei ihm eingetreten wäre, ihm die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt hätte: »Junger Mann, scheust du nicht die Sünde?« dann hätte er wohl reinen Herzens erwidern können: »Nein, lieber Gott, ich scheue überhaupt nichts mehr. Geh nach Wargamäe, wenn du willst, und red dort von Sünde; aber mich laß in Frieden, denn ich weiß, daß es am Himmel nur Sterne gibt, Sterne, Sterne, nichts als Sterne. Und einen Himmel gibt es überhaupt nicht.«

So hätte Indrek gesagt, wenn Gott ihm zur Mitternacht die Hand auf die Schulter gelegt hätte. Aber das tat Gott nicht, und darum hatte Indrek es auch nicht nötig, irgend etwas zu sagen. Er schrieb bloß, alle seine gelesene, gehörte und aus eigenen Erfahrungen geborene Weisheit sammelnd, um den zu vernichten, der alles sehen und hören soll. Und beim Schreiben redete er sich in eine so schwungvolle Begeisterung hinein, daß sein Selbstbewußtsein sich zur Selbstüberhebung steigerte:

»Ich bin der erste, der dir in Estland den Todesstreich versetzt. Ich bin der erste, der es wagt, öffentlich zu rufen: Es gibt dich überhaupt nicht, es gibt nur Sterne, Sterne, Sterne! Nur den unendlichen Raum, in dem das Licht der erloschenen Sterne umherirrt. Wenn du bist, dann erweck die toten Sterne zu neuem Leben, gib dem umherirrenden Licht seine Mutter, seine Wiege wieder. Mach aus dem verrauchten Duft eine frische Blume, aus dem duftenden Namen einen lebenden Menschen. Tu das, wenn du bist, hörst du mich! Aber du tust es nicht. Du hast weder diese noch andere Welten erschaffen, auch den Menschen hast du nicht erschaffen, sondern die Entwicklung hat das getan, die über die Saurier heraufführt. Du läßt bloß Tausende, Millionen von Sternen erlöschen. Wozu? Du läßt den einzigen Menschen sterben, der hätte leben sollen. Warum? Es gibt nur eine Antwort: es gibt dich nicht, es hat dich nie gegeben, und du wirst auch nie sein. Nie hast du Lazarus oder Jairi Töchterlein von den Toten auferweckt, nie würdest du jemand anderes von den Toten auferwecken, keinen einzigen, auch wenn man an dich glauben und dich darum bitten würde. Nie ...«

Seine Worte rührten Indrek so, daß er schluchzend mit dem Kopf auf den Tisch sank. Wenn Gott ihm nun die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt hätte: »Junger Mann, ich werde alle toten Sterne zu neuem Leben erwecken, ich werde der Erde alle ihre Saurier wiedergeben, wenn du nur an mich glauben willst«, dann hätte Indrek ihm vermutlich geantwortet: »Lieber Gott, was fange ich mit deinen Sternen und Sauriern an, ich liebe doch keinen von ihnen.«

Als Indrek sich schließlich zur Ruhe begeben hatte, schlief er wie schon lange nicht mehr. Und am Morgen fühlte er sich geistig und körperlich seltsam erfrischt. Das sollte ihm auch zustatten kommen, denn ihm standen schwere Prüfungen bevor.

* * *

Wenige Tage nach dem Erscheinen der letzten Nummer des Schülerblattes wurde Indrek zum Direktor gerufen, der ihn unten im großen Zimmer zusammen mit Herrn Ollino erwartete.

»Was ist das?« fragte Herr Maurus Indrek, auf das Blatt deutend, das auf dem Tisch lag.

»Das ist unser Blatt«, versetzte Indrek.

»Wessen unser?« fragte der Direktor, bestrebt ruhig und sachlich zu sein.

»Der Schüler«, versetzte Indrek.

»Und wer hat das geschrieben?« fragte der Direktor, indem er auf Indreks Aufsatz wies, der die Überschrift trug: »Gott und der Mensch.«

»Ich«, sagte Indrek.

»Schön«, sagte der Direktor. »Wenn Sie das geschrieben haben, dann werden Sie vielleicht auch die Güte haben, es uns vorzulesen.« Und dabei deutete er auf einen mit Rotstift angemerkten Absatz.

Während Indrek seine Blicke über den Aufsatz gleiten ließ, empfand er deutlich, daß er dies nicht vorlesen könne, denn ihn packte plötzlich die Scham. Beim Schreiben hatte er nichts Derartiges empfunden, aber nun hatte er dieses Empfinden sehr deutlich. Das kam ihm selbst so überraschend, daß er völlig erstarrt dastand. In der Nacht Begeisterung und Befriedigung – und nun Peinlichkeit und Scham!

»Lesen Sie«, befahl der Direktor, plötzlich brutal werdend, »wir warten.«

»Nein«, versetzte Indrek fest, indem er ein paar Schritte zurücktrat.

»Dann wird vielleicht Herr Ollino so freundlich sein, uns das vorzulesen, denn wir wollen doch alle gern wissen, was unser langer Paas denn eigentlich schreibt.«

Ollino nahm das Blatt und las:

»Deine Tage sind gezählt ...«

»Wer ist dieser ›Deine‹?« fragte der Direktor, die Lektüre unterbrechend.

»Das ist Jehova«, sagte Ollino.

»Also Gott«, erläuterte der Direktor. »Das wollen wir im Auge behalten. Und nun bitte weiter.«

»Deine Tage sind gezählt«, begann Ollino aufs neue. »Es hat Saurier gegeben, aber dann kam der Mensch, und nun gibt es nicht einen Saurier mehr. Nun haben wir den Menschen, aber bald wird der Übermensch kommen. Den heiligen Stier hat es gegeben, aber dann kam Zeus, und den heiligen Stier gab es nicht mehr. Zeus hat es gegeben, aber dann kam Jehova, und Zeus mußte ihm weichen. Es hat Jehova gegeben, aber dann kam die Wissenschaft, und nun frage ich: wo ist Jehova geblieben? Und ich antworte darauf: er ist den Weg der Saurier gegangen. Hört, ihr Männer und Frauen Estlands und Söhne des Vaterlands ...«

»Das genügt«, unterbrach der Direktor. »Und nun bitte die andere Stelle.«

Als solche war das weiter oben aufgeführte Bruchstück angemerkt. Nachdem Ollino auch dieses vorgelesen hatte, trat der Direktor vor Indrek hin und fragte:

»Haben Sie das geschrieben?«

Indrek zauderte mit der Antwort.

»Ich frage Sie: haben Sie das geschrieben?« wiederholte der Direktor.

»Ja, ich«, gab Indrek nun zu.

»Sie sind verrückt!« schrie der Direktor in loderndem Zorn, und seine Hand traf klatschend Indreks Backe. Das geschah so plötzlich und unerwartet, daß Indrek nicht Zeit hatte, sich zu schützen oder zu rächen, indem er auch handgreiflich wurde, denn seine Gedanken weilten wieder einmal ganz woanders, wie in der letzten Zeit fast immer. Und als er sich endlich gefaßt hatte und die Hand heben zu wollen schien, drückte Ollino diese nieder und sagte: »Hände ruhig!« So stand Indrek mit brennender Backe ratlos da. Er hatte sich wieder einmal verspätet, wie bisher stets im Leben. Herr Maurus aber spreizte die Finger derselben Hand, die Indrek geschlagen hatte, fuchtelte mit ihr vor seinen Augen, blickte über seine Brille nach den anderen Schülern hinüber und schrie:

»Dieser Mensch ist total verrückt! Das ist der erste vollkommen Verrückte in Herrn Maurus' ehrlichem anständigem Hause. Halb Verrückte hat es genug gegeben, aber dieser hier ist ganz verrückt. In der Mathematik hat er Null, und selbst ist er toll. Aber Herrn Maurus, den heiligen Stier und Jehova überfällt er. Er will berühmt werden, in Estland durch die Ermordung Gottes berühmt werden. Verstehen Sie? Als erster Gottesmörder. Hätte er doch lieber versucht, den Teufel totzuschlagen. Aber nein, den Teufel rührt er nicht an, stürzt sich gleich auf Gott, als ob er an den Teufel nicht herankönne, bevor er Gott beiseitegeschafft. Paas will auch Herrn Maurus berühmt machen, denn bald wird der Schulrat in der Zeitung lesen, daß in Herrn Maurus' Lehranstalt erster Kategorie Götter gemordet werden, als Mörder figuriert der lange Paas. Aber Herr Maurus will durch Gottesmord nicht berühmt werden, denn er weiß nur zu gut, daß er gegen Gott nicht aufkommt. Herr Maurus ist alt, der weiß das. Aber Paas ist jung und lang und dumm, er weiß das nicht. Er baut auf seine Länge, wie dieser lange Philisterfürst, den der kleine David niederschlug. Aber Herr Maurus weiß, welchen Verlauf die Sache nehmen wird: Gott wird es dem Schulrat sagen, der Schulrat dem Kurator, der Kurator dem Minister, der Minister dem Kaiser, daß man ihn ermorden will. Und der Kaiser wird es dem Minister sagen, und der Minister der Polizei und den Gendarmen, daß bei Herrn Maurus Götter gemordet werden. Und nun sagen Sie mir doch bitte selbst: was kann der alte Herr Maurus gegen den Kaiser, seine Polizei und Gendarmen ausrichten? Und darum muß der lange Paas mit seiner Berühmtheit sich schon woanders hin verfügen. Mag er doch dahin gehen, wo es keinen Kaiser und keinen Glauben gibt, mag er nach Frankreich gehen, mit seinem Präsidenten und seiner Revolution. Mag er dahin gehen. Aber Herr Maurus bleibt in Rußland, unter den gnädigen Fittichen des russischen Aars.«

So redete Herr Maurus, bis seine Aufregung sich ein wenig gelegt hatte. Dann wandte er sich direkt an Indrek und fragte:

»Wie schnell können Sie Ihre Sachen packen?«

»In einer halben Stunde«, versetzte Indrek, der während der langen Rede des Direktors Zeit gehabt hatte, sich seine Lage zu überlegen.

»Sagen wir in einer Stunde«, meinte Herr Maurus, »dann kommen Sie zum Abendzug noch gerade recht, wenn Sie nach Hause fahren wollen.«

»Ich fahre nicht nach Hause«, sagte Indrek.

»Natürlich nicht«, pflichtete der Direktor Indrek bei, »denn da weiß man, daß der alte Gott noch lebt, daß er bei bester Gesundheit ist.«

Nachdem Indrek gegangen war, seine Sachen zusammenzukramen, um sie in seine Kiste zu verstauen oder in ein Bündel zusammenzuschnüren, gab der Direktor seinen Schülern folgende Erklärung ab:

»Herr Maurus kann es nicht dulden, daß unter seinem Dache ein Mensch lebt, der Gott nach dem Leben trachtet. Wenn dieser Mensch kommen würde und sagen: ›Geehrter Herr Maurus, ich habe große Lust, einen Mord zu begehen, und darum möchte ich dich gerne ermorden‹, – dann würde ich ihn für eine Nacht noch unter meinem Dache lassen, denn in dieser einen Nacht wird er den alten Maurus doch nicht gleich umbringen. Aber wenn dieser Mensch nicht Herrn Maurus ermorden will, sondern Gott selbst, der Herrn Maurus hier zum Direktor bestellt hat, dann muß auch der alte Herr Maurus sich rühren. Denn wer sollte hier im Hause wohl sonst Gott schützen, wenn Herr Maurus das nicht tut? Vielleicht Herr Koovi? Nein, bestimmt nicht. Er würde in seiner faulen russischen Art sagen: ›Ich habe nicht mit dem Kerl zusammen gedient, was geht er mich an.‹ Wird vielleicht Herr Ollino Gott schützen? Nein, auch er nicht, vielmehr würde er sagen: ›Mein Gott lebt noch, was gehen mich die anderen an.‹ Oder vielleicht Sikk, der so große Kräfte hat? Auch nicht. Er würde sagen: ›Es gibt noch stärkere Leute als mich, mögen die das besorgen.‹ Und Wainukägu? Der würde antworten: ›Vielleicht übernimmt das ein anderer, ich habe noch nicht die Konfirmandenlehre besucht.‹ Und so alle. Wer bleibt dann übrig? Herr Maurus, denn der hat zusammen mit Gott gedient und auch den Konfirmandenunterricht besucht. Und wenn es nötig ist, für Gott einzutreten, dann würde er auch mit einem Bären den Kampf aufnehmen, ja mit dem Teufel selbst. Solch ein Mann ist der alte Maurus.«

Als Indrek bei Herrn Koovi eintrat, um ihn zu fragen, ob er die geliehenen Bücher noch einige Tage behalten dürfe, bemerkte dieser wie beiläufig:

»Ich habe Ihnen, glaube ich, schon früher mal gesagt, Sie sollten diese Albernheiten mit Gott und dem ewigen Menschen bleiben lassen, denn darüber verlieren Sie den Alltag aus den Augen. Sie wissen und sehen doch, wie es hier hergeht: Elend und Armut überall. Wird Gott oder der ewige Mensch da Abhilfe schaffen? Nein, gewiß nicht! Wir selbst müssen uns und unseren Mitmenschen helfen. Was werden Sie denn nun beginnen? Im Frühling hätten Sie vielleicht Ihren Schluß machen können, aber nun ist alles zum Teufel. Wenn Sie es trotzdem versuchen wollen, so bin ich gerne bereit, Ihnen dabei behilflich zu sein, so viel ich vermag. Schade, daß Molotow nicht mehr da ist, der würde Ihnen in der Mathematik weiterhelfen. Den hat ein Weib auf dem Gewissen. Die Weiber und die Götter, die sind das eigentliche Kreuz des Mannes, die Wurzel allen Übels in seinem Leben.«

So meinte Koovi. Aber Indrek konnte sich mit ihm nicht einverstanden erklären, namentlich was die Weiber anlangt. Und das freute ihn, denn er sagte sich: wenn ich trotz Herrn Koovis Ansichten meine eigenen Ansichten habe, so kann es doch mit mir nicht so ganz jämmerlich bestellt sein. Und so verschnürte er denn wohlgelaunt seine Kiste und band sie mit dem Bündel zusammen, um sein ganzes Gepäck auf der Schulter tragen zu können, das eine Stück vorne, das andere hinten. Er war gerade dabei, seinen Mantel anzuziehen, als der Direktor erschien, die gaffend herumstehenden Schüler hinausjagte und Indrek dann unter vier Augen fragte:

»Haben Sie Geld?«

»Ja«, versetzte Indrek.

»Wieviel?«

»Dreiundvierzig Kopeken«, sagte Indrek.

»Sie sind tatsächlich nicht bei Troste«, sagte der Direktor, aber in einem Ton, der deutlich erraten ließ, daß er scherze. »Sie besitzen außer Leib und Seele bloß dreiundvierzig Kopeken und wollen Gott in Estland totschlagen. Wo werden Sie dann aber Geld herbekommen, wenn Gott tot ist, denn mit dreiundvierzig Kopeken werden Sie doch nicht leben wollen?«

»Ich habe noch für Stunden Geld zu bekommen«, erklärte Indrek.

»Wieviel?«

»Über einen Rubel.«

»Das ist immer noch zu wenig«, meinte der Direktor.

»Ich werde auch weiter Stunden geben«, sagte Indrek.

»Was bekommen Sie für die Stunde?«

»Von einem fünfzehn, vom anderen zwanzig.«

Herr Maurus betrachtete eine Weile über seine Brille hinweg Indrek, der reisefertig vor ihm stand; in seinem langen, grauen, hausgewebten Paletot, Galoschen an den Füßen, die Mütze in der Hand.

»Sie sind ein Idiot«, sagte der Direktor endlich ernst, aber irgendwie so, daß Indrek sich auch nicht eine Spur beleidigt fühlte, eher geschmeichelt. »Mit so wenig Geld wollen Sie den Kampf mit Gott und seinem Sohne aufnehmen! Warten Sie ein bißchen, warten Sie«, sagte er auf deutsch, während er mit den Händen in den Taschen, in denen Geld klimperte, herumkramte, worauf er sich plötzlich umwandte und nach oben eilte, als habe er große Eile. Als Indrek so dastand, unschlüssig ob er den Direktor erwarten solle oder nicht, begann jemand im Hinterzimmer plötzlich das Liedchen des Grafen zu singen: »Hatte einst ein Pop' ein Hündchen ...«, das bis dahin noch nicht in Vergessenheit geraten war, und das benahm Indrek irgendwie jeden weiteren Zweifel. Er lud sich Kiste und Bündel auf die Schulter und ging zur Tür. Herr Ollino trat aus seiner Tür und blickte Indrek, ohne ein Wort zu sagen, nach. Indem dieser die Haustür, deren Schelle in Bewegung setzend, öffnete, hörte er oben an der Treppe die Schritte des Direktors, und es schien ihm, als ob er gerufen würde. Aber er kümmerte sich nicht weiter darum, trat vielmehr mit seiner Kiste polternd durch die Tür auf die Straße ins Schneetreiben hinaus. Bald darauf hörte er die Türglocke hinter sich schellen und den Direktor ihn bei Namen rufen, aber er tat, als hörte er nicht. Aber Herr Maurus ließ nicht nach zu rufen, und Indrek hörte ihn sich nähern. Und gleich darauf hörte er jemand dicht hinter sich keuchen und fühlte, wie seine Kiste bei der Ecke gefaßt wurde, während Herr Maurus ihn anschrie:

»Warum hören Sie nicht, wenn Herr Maurus ruft! Er ist alt, er kann nicht mehr laufen, und Sie selbst werden auch einmal alt werden.«

Diese Worte griffen Indrek irgendwie wunderlich ans Herz. Ihm fielen plötzlich die steifen verkrümmten Finger des Vaters ein, wie er sie damals daheim an den Leitersprossen gesehen hatte. Und an den elenden Woitinski mußte er denken und den unglücklichen Schulz. So machte er halt und wandte sich um. Der Direktor stand barhaupt hinter ihm, die grauen Haarsträhnen vom Schneesturm zerzaust. Mit der Linken hielt er die vom Winde geblähten Schöße seines Schlafrocks übereinander fest, mit der Rechten stopfte er Indrek etwas in die Manteltasche, indem er sagte:

»Hand drauf, sonst bläst der Wind es fort Wenigstens fünf Rubel muß ein Mensch doch haben, wenn er gegen den estnischen Gott ins Feld ziehen will. Wenn Herr Maurus noch jung wäre, so würde er vielleicht auch mitmachen, denn in seinem Herzen ist er auch ein Aufrührer, aber nun ist er schon alt.«

Und damit wandte er sich um und ging mit trippelnden Greisenschritten heimwärts, während Indrek ihm nachblickte.

Aber als das Schellen der Türglocke annehmen ließ, daß Herr Maurus das Haus wieder betreten hatte, stützte Indrek die Kiste gegen den Zaun und blieb so stehen, als ruhe er sich aus oder denke über irgend etwas nach. Langsam ließ er die Kiste zur Erde gleiten, legte dann sein Bündel darauf und setzte sich, als sei er tatsächlich schon ermüdet. So saß er eine Weile da und ließ die verflossene Zeit an seinem inneren Auge vorüberpassieren. Es war eigentlich kein richtiges Denken, sondern mehr ein waches Träumen. Irgendwo sah er einen alten Droschkenkutscher, jemandes roten Bart, die lächelnden Züge eines Mädchens, das seine weichen Knie gegen seine Schenkel stemmte, jemanden irgendwo im Schnee, irgendwo hinter einer Pforte, spürte die ersten Küsse auf seine zuckenden Lippen, sah irgendwelche Grashalme zwischen den Pflastersteinen sprießen, eine gescheckte Katze, ein Paar Tassenhenkel und noch etwas, noch jemanden. Aber daran dachte er nicht, dessen erinnerte er sich auch ohnedies. Eigentlich gab es für ihn im Leben gar nichts Wirkliches, als eben nur dieses, woran er nicht dachte. Und dann tauchte plötzlich irgendwo Herrn Maurus' grauer Bart auf, und seine lauernden Augen blitzten über die Brillengläser. Aber hinter ihm stand noch jemand, viel grauer noch als er, aber als Indrek den näher ins Auge fassen wollte, verschwand er zusammen mit Herrn Maurus. »Wir werden uns im Leben schon noch mal begegnen«, murmelte Indrek, gleichsam sich selbst zum Trost und gleichzeitig gewissermaßen drohend.

Aber seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen, denn Herrn Maurus sah er niemals wieder. Nicht einmal seine Schuld bezahlte er ihm, gleich so vielen anderen, die jahrelang an Herrn Maurus' Tische sich satt gegessen und bei ihm freien Unterricht genossen hatten. Aber was den anderen anlangt, der, grauer noch als Herr Maurus, hinter dessen Rücken gestanden, so hatte es mit dem eine besondere Bewandtnis: den sollte Indrek sehr bald wieder treffen, vermutlich noch am selben Abend. Aber mit dem ist es eine tolle Sache, insofern man nie so recht weiß, wann man eigentlich mit ihm zusammentrifft. Erst später ahnt man manchmal, daß er es gewesen sein könnte.

* * *

Als Indrek so auf seiner Kiste dasaß, trat Madam Waarmann aus der Hofpforte, um den frisch gefallenen Schnee fortzuschaufeln. Als sie nun jemand auf der Straße auf seiner Kiste sitzen sah, trat sie näher, um festzustellen, wer das wohl sein könne. Natürlich erkannte sie Indrek sofort und rief erstaunt:

»Herr des Himmels! Herr Paas! Was treiben Sie denn hier?«

»Ich ruhe mich ein wenig aus«, versetzte Indrek.

»Aber wo kommen Sie denn her?« fragte Madam Waarmann.

»Von Maurus natürlich, von woher denn sonst.«

»Aber das ist doch hier nebenan«, verwunderte sich Madam Waarmann. »Und wohin wollen Sie denn?«

»Zum alten Traadi«, versetzte Indrek.

»Aber dieser alte rotbärtige Junggeselle ist ja längst gestorben«, erklärte Madam Waarmann. »An Verfettung, wie alle Junggesellen. Die sterben immer an Verfettung, haben ein zu gutes Leben.«

»Dann weiß ich wohl nicht, wohin«, murmelte Indrek, »aber das wird sich schon finden.«

»Aber was ist denn eigentlich mit Ihnen los?« fragte Frau Waarmann.

»Herr Maurus hat mich hinausgeschmissen, das ist mit mir los«, sagte Indrek.

»Aber dann kommen Sie doch fürs erste zu uns, bis Sie etwas Besseres finden; wir sind jetzt mit Tiina allein«, sagte Madam Waarmann. »Gehen Sie hinein, leisten Sie ihr Gesellschaft, ich komme auch gleich.«

Und so schob sich Indrek denn, Kiste und Bündel auf der Schulter, durch die Hofpforte und tastete sich die dunkle Treppe hinab in die Kellerwohnung, wo Tiina ihn hocherfreut empfing.

»Die Mutter sagt immer, du würdest nicht mehr zu uns kommen, aber nun bist du doch da«, sagte sie. »Ich habe ihr immer widersprochen, immer gesagt, du wirst schon sehen, er wird kommen. Und nun habe ich auch recht behalten.«

»Wo ist Molli?« fragte Indrek.

»Weißt du das denn nicht?« sagte die Kleine verwundert. »Molli hat sich doch neue Hemden mit Spitzen genäht und ist zu diesem dicken Russen gezogen. Getraut sind sie wohl noch nicht, aber die Ringe sind schon gekauft. Molli hat unseren Glauben, und der Russe den russischen Glauben, und nun will er, daß auch Molli den russischen Glauben annehmen soll, dann würde er sich trauen lassen und die Ringe anstecken. Und so lernt Molli nun den russischen Glauben.«

Nach einiger Zeit kam auch Madam Waarmann und brachte das Gespräch gleich auf Fräulein Maurus, indem sie Indrek über die Einzelheiten ihres Todes auszuforschen trachtete, vor allem aber Genaueres über die Beerdigung wissen wollte. Aber Indrek konnte ihre Neugier nur wenig befriedigen.

»Ich habe es immer gesagt«, sagte Madam Waarmann, »ob das Fräulein Maurus nicht am Ende bald sterben wird, weil sie einen so stolzen und vornehmen Gang hat, der mir so sehr gefällt. Als sie im Frühling hier war, blieb ich auf der Straße immer stehen und blickte ihr nach als sehe ich sie zum letzten Male. Und so ist es denn auch gekommen – in der Fremde ist die Arme gestorben, ohne Verwandte oder Freunde. So geht es den Stolzen und Vornehmen immer, wenn es mal so Gottes Wille ist.«

»Gottes Wille«, wiederholte Indrek vorwurfsvoll, denn Madam Waarmanns Worte reizten ihn.

»Aber natürlich doch Gottes Wille«, wiederholte Madam Waarmann. »So auch mit meiner Molli – gleich mit diesem Russen zusammenleben, ohne Ringe gewechselt zu haben oder sonst was. Gott hat es wohl so gewollt.«

»Es gibt überhaupt keinen Gott«, sagte Indrek nun schroff.

»Was reden Sie da für tolles Zeug!« rief Madam Waarmann erschrocken.

»Das ist kein tolles Zeug, sondern die reine Wahrheit«, erklärte Indrek. »überall in der Welt weiß man das schon längst, weil da mehr Bildung und Gerechtigkeit herrscht, nur hier in Rußland sind wir zurückgeblieben. Wenn erst alle Menschen einmal gebildet sein werden, dann wird niemand mehr an Gott glauben. Das habe ich auch Herrn Maurus gesagt, das sage ich Ihnen und werde ich allen sagen, denn das ist die Wahrheit.«

Madam Waarmann schwieg eine Weile, dann sagte sie:

»Was Sie sagen! Gott sollte es überhaupt nicht geben!« Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Aber Jesus Christus gibt es doch?«

»Nein, auch den gibt es nicht«, sagte Indrek erbarmungslos.

»Aber das ist doch wirklich ein Unsinn«, ereiferte sich Madam Waarmann. »Mag das mit Gott nun sein wie ihm wolle, aber ohne Christus geht es doch einfach nicht. Wer wird uns denn selig machen?«

»Aber denken Sie doch mal bloß ein wenig nach«, erklärte Indrek, »wie sollte es denn einen Sohn ohne den Vater geben. Und Christus ist doch Gottes Sohn. Wenn es Gottvater nicht gibt, dann kann es auch Christus nicht geben, ebensowenig wie den Heiligen Geist oder den Teufel.«

»Das lügen die gebildeten Leute uns Dummen vor«, sagte Madam Waarmann. »Den Teufel gibt es, und Christus auch, anders geht es nun mal nicht.«

»Da irren Sie sich sehr«, sagte Indrek. »Alles das gibt es nicht. Weder Gott noch Teufel, weder Himmel noch Hölle. Es gibt nur Sterne und den leeren Weltenraum.«

»Und dieses Blaue da oben, was ist denn das?« fragte Madam Waarmann mißtrauisch und triumphierend zugleich.

»Das ist Luft, reine Luft, weiter nichts«, erklärte Indrek. »Und je klarer die Luft, um so blauer ist sie, einen Himmel gibt es nirgends. Und wenn es den nicht gibt, wo sollte dann wohl Gott sich aufhalten? Wo? frage ich. Denken Sie doch selbst.«

»Nun ja, das ist schon richtig, wenn es keinen Himmel gibt, dann ...«

»Einen Himmel gibt es nicht, das steht fest«, versicherte Indrek und wollte gerade beginnen zu wiederholen, was der alte Professor über den Himmel gesagt hatte, als er plötzlich jemanden schluchzen hörte.

»Wer weint denn da?« fragte er, Madam Waarmann unruhig anblickend, »Ist es Tiina? Warum weint sie? Was fehlt ihr?«

Er erhob sich von seiner Kiste, auf der er die ganze Zeit über gesessen hatte, und trat an die Tür des Nebenraumes: Tiina lag vornübergebeugt über dem Lumpenhaufen, mit dem sie wie gewöhnlich gespielt, und schluchzte herzbrechend. Indrek wandte sich wie Hilfe suchend nach der Mutter um und fragte:

»Was hat sie nur?«

»Können Sie das denn nicht verstehen?« fragte Madam Waarmann gleichsam vorwurfsvoll.

Aber Indrek verstand gar nichts. Und darum trat er an das unglückliche Kind heran, ließ sich neben ihm auf die Knie sinken, streichelte seinen Kopf und sein zartes Körperchen, das ununterbrochen krampfhaft zuckte und fragte:

»Tiina, warum weinst du? Was fehlt dir?«

Nun trat auch die Mutter näher und sagte:

»Sei doch nicht dumm, Tiina, zu glauben, was Herr Paas da schwatzt. Gott lebt, Christus lebt, und die Engel leben, und du wirst gesund werden, aber nur dann, wenn du glaubst, wenn du fest glaubst.«

Erst jetzt begriff Indrek plötzlich alles und blickte erschrocken und ratlos bald auf die tröstende Mutter, bald auf das schluchzende Kind. Er sank auf dem Lumpenhaufen in sich zusammen, als sei er selbst ein alter Professor, der im Laufe von fünfzig Jahren den Himmel nicht hatte finden können, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Denn dieses Kind vor ihm, dessen jämmerliche Beinchen so sonderbar und kläglich verkrümmt waren, rief in ihm die Erinnerung an jemand anderes wach, den er einmal vor sich auf der schwarz aufgewühlten Erde inmitten des grünen Kartoffelkrauts erblickt hatte, dessen Beine ihm damals unter dem groben Rock ebenso schmerzlich verkrümmt erschienen waren wie diese hier. Damals hatte Indrek nichts Besseres zu tun gewußt, als auf diese Beine zuzustürmen, sie fest zu umklammern und zu weinen, als müßte er sich das Herz aus dem Leibe weinen, – das hatte ihn gleichsam ein wenig beruhigt. Damals hatte er seinen heißen Grimm und seine in die Kartoffeln geworfene Mütze vergessen und nur an die denken können, die da so elend auf der frisch aufgewühlten Erde dalag. Und auch heute konnte er nicht anders, als sich selbst aufgeben, seine Worte und Meinungen opfern, um nur der Trost zu bringen, die des Trostes so sehr bedurfte. Und gerührt sank er neben dem schluchzenden Kinde nieder und sagte mit bebender Stimme:

»Die Mutter hat recht, Tiina, die Mutter hat vollkommen recht. Gott lebt, Christus lebt, Gottes Engel leben, sie alle leben.«

»Jetzt lügst du!« schrie das Kind ihn verzweifelt an. »Gott ist tot, Jesus ist tot, die Engel sind tot, alle sind tot, und ich werde nie gesund werden! Werde ewig ein Krüppel bleiben.«

»Nein, Tiina, das wirst du nicht«, rief Indrek. »Du wirst sicher gesund werden, denn Gott lebt und wird seine Engel zu dir senden. Eine ganze Legion Engel wird er senden. Vorhin habe ich Gott verleugnet, weil er mir viel Leid zugefügt hat; darum verleugnete ich ihn und seine Engel. Ich wollte mich rächen, darum. Aber Gott lebt, er lebt ganz bestimmt. Und damit du glauben mögest, daß er lebt, und daß ich eben nicht lüge, so will ich dir eins sagen: Du wolltest, daß ich warten sollte, erinnerst du dich? Daß ich warten sollte, bis du gesund würdest. Und das will ich nun tun, das gelobe ich dir in Jesu Christi Namen. Und ich würde das doch sonst nicht tun, nicht warten, wenn du nicht gesund würdest. Du wirst sicherlich gesund, wenn ich warte. Und das will ich tun.«

»Wirst du wirklich warten?« fragte Tiina, den Kopf aufrichtend.

»Ja, bestimmt«, versetzte Indrek. »Das schwöre ich dir.«

»Und du wirst nicht heiraten?«

»Ich warte, bis du gesund wirst! Und das wirst du, glaube mir.«

Das Mädchen warf sich Indrek wie wahnsinnig an die Brust, umschlang seinen Hals mit seinen dünnen Ärmchen, und auch Indrek umfaßte das Kind und erhob sich auf dem Lumpenhaufen auf die Knie, die Kleine fest an sich drückend, die immer und immer wieder fragte:

»Also wirklich und wahrhaftig?«

»Ja, wirklich und wahrhaftig«, versicherte Indrek immer aufs neue.

Eine ganze Weile hing das schluchzende Kind so an Indreks Halse, als wolle es ihn nie wieder lassen. Weinen und Lachen, Schmerz und Wonne verschmolzen in eine große Ekstase. Und dann wollte es der Zufall, daß sich die Kleine unversehens auf die Knie stützte, und im selben Augenblick rief sie der Mutter in höchster Erregung zu:

»Mutter! Mutter! Ich kann mich auf den Knien halten! Ich kann mich ungestützt halten!«

Und damit ließ sie Indreks Hals los und warf ihre langen dünnen Arme direkt empor zur Decke, indem sie rief:

»Siehst du, Mutter, ich kann mich halten.«

»Liebes Kind, was ist das mit dir?« fragte die Mutter erschrocken herbeieilend und das Kind bei den Händen fassend, als befürchte sie, es könne sonst fallen.

»Hilf mir aufstehen, Mutter«, sagte Tiina, »hilf mir mich aufrichten; ich fühle es, ich kann stehen.«

Die Mutter hob das Kind auf die Füße.

»Und nun laß mich los, Mutter«, bat die Kleine, »laß mich allein stehen; sieh doch nur, wie ich allein stehen kann.«

Aber die Mutter wagte nicht, das Kind loszulassen, in der Furcht, es könnte fallen, und als sie sich schließlich doch dazu entschloß, hielt sie ihre Arme schützend im Halbkreis gerundet um das Mädchen.

»Mutter, nimm die Hände ganz fort«, bat Tiina.

»Herrgott im Himmel, du wirst schließlich noch wirklich gesund! Tiina, du fängst an zu gehen!« rief die Mutter, als sie sah, daß das Kind tatsächlich auf seinen Beinen stehen konnte.

Aber gehen konnte Tiina noch nicht, sie versuchte es wohl, aber es ging nicht. Nur wenn die Mutter sie bei den Händen hielt, dann ein ganz klein wenig. Aber auch dieses Bißchen versetzte die Mutter in ein solches Entzücken, daß sie das Kind auf die Arme nahm, es an sich drückte und so stürmisch liebkoste, daß sie es beinahe erstickt hätte. Nur mit Mühe brachte die Kleine die Worte hervor:

»Mutter, ich bin todmüde, bring mich nun zu Bett.«

Und als die Mutter ihren Wunsch befolgte, sank Tiina nahezu augenblicklich in tiefen Schlaf, ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Die Mutter stand eine Weile still vor dem Bett, ihr Töchterchen mit glücklichem Lächeln betrachtend. Dann wandte sie sich Indrek zu, der immer noch traumverloren auf dem Lumpenhaufen inmitten der Stube kniete, und fragte:

»Sagen Sie, Herr Paas, wird mein Kind nun gesund werden, oder wird es sterben?«

»Es wird gesund werden«, versetzte Indrek ernst.

Nun war in der dumpfen Kellerwohnung plötzlich so viel Glück und Freude, daß Madam Waarmann daran hätte ersticken müssen, wenn sie nicht gegangen wäre, um es mit Molli und sämtlichen Bekannten der Umgegend zu teilen. Und das tat sie denn auch, nachdem sie sich nur ein großes Tuch umgeworfen hatte, in einer Hast, als sei Feuer ausgebrochen.

So blieb Indrek allein, mitten in der Stube auf dem Fußboden kniend, zurück, denn im Augenblick war es ihm ganz gleichgültig, wo er war und in welcher Lage. Alles in ihm war wie auf den Kopf gestellt, kam ihm vor wie ein elender Trümmerhaufen. Soeben erst hatte Madam Waarmann noch Christus so wacker verteidigt, und nun rannte sie wie von Furien verfolgt aus der Stube, ohne seiner auch nur mit einem Worte zu gedenken, als gehöre er wirklich nur den Mühseligen und Beladenen, die Barmherzigkeit und Liebe brauchen. Und hast du die etwa nötig, wenn deine Tochter schon allein auf ihren beiden Beinen stehen kann? Indrek aber kniete hier mitten auf dem Fußboden, als neige er sich in Demut vor dem, den er noch eben verleugnet. Und doch – einer Sache wegen war ihm so wunderbar wohl: er hatte sich selbst besiegt, um eines weinenden Kindes willen. Er hatte seinen Kummer und Schmerz vergessen, hatte auf die mit seinem Herzblut erkämpfte Wahrheit verzichtet, um ein elendes, unglückliches Wesen zu trösten. Was hätte er noch mehr tun können? Selbst Gott hätte nichts Größeres tun können, wenn es ihn gäbe und jemand in heißem Gebet vor ihm knien würde.

Diese Gedanken zogen Indrek durch den Kopf, als er so mitten auf dem Fußboden vor dem Bette kniete, in dem das Kind glücklich im Schlafe lächelnd dalag.

* * *


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