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IX

Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bevor es Indrek gelang, wirklich fortzukommen, denn dem Direktor fiel immer noch etwas ein, was er ihm zu sagen hatte, so daß er ihn mehrfach zurückrief, von der Schwelle noch, ja sogar von der Treppe.

Und so wurde denn aus Indrek anstatt eines richtigen Schülers auch solch ein Zwitter, der zwar noch Schüler war, aber gleichzeitig auch Diener, Laufbursche, Küchenjunge, Portier. Er siedelte von oben, aus Sibirien, in das große Zimmer nach unten über, zusammen mit seiner Holzkiste, die er hinter dem Vorhang an der Wand unterbrachte.

Indreks Bett grenzte mit seinem Fußende an Herrn Woitinskis Lagerstatt, beide im unteren Stock, in der Beletage, wie man hier zu sagen pflegte, über ihnen, mit den Füßen auf die Pfosten ihrer Betten gestützt, standen die Bettstellen von Wainukägu und Sikk.

Wainukägu war ein hübscher, langer Bursche mit einem weißen, frischen Gesicht und einem links gezogenen Scheitel, was eigentlich als eitler Luxus verpönt und verboten war, denn ein »anständiger, ordentlicher« Schüler hatte das Haar entweder ratzekahl geschoren oder bürstenartig in die Höhe gekämmt zu tragen. Er stak in einer Bluse aus blau-schwarzem Haustuch und ebensolchen Hosen, die er des Nachts in der Waschküche aufzubügeln pflegte, was aber nur wenig half, denn die sorgsam eingebügelte Falte verschob sich immer wieder so weit zur Seite, daß anstatt ihrer die Seitennaht hervortrat. Daher mußte Wainukägu die Hände stets in den Hosentaschen tragen, um das Gleichgewicht zwischen Naht und Falte aufrechtzuerhalten. Solch sonderbare Hosen hatte dieser Schüler. Unter normalen Umständen ließ sich dies ja ganz gut durchführen; wesentlich schwieriger gestaltete sich das Manöver indessen bei besonderen und feierlichen Anlässen.

Denn wie soll man, die Hände in den Taschen, dastehen, wenn man beispielsweise aus dem Neuen Testament oder dem Gesangbuch etwas vortragen will! Und das wollte Wainukägu, namentlich des Sonnabends, denn sein und seiner Eltern heißer Wunsch war, daß er mal Pastor oder doch wenigstens Küster werden sollte, ja, dieser Wunsch hatte ihn recht eigentlich hierher gebracht, und so benutzte er denn gerne jede Gelegenheit, sich beizeiten in seinem zukünftigen Berufe zu üben.

Der über Herrn Woitinski schlafende Sikk war aus etwas anderem Holze geschnitzt. Er hatte weiche, blonde Haare und eine zu seinem vierschrötigen Wüchse in schroffem Gegensatz stehende dünne Stimme, was ihm den Spitznamen Rosi eingetragen hatte. Er legte mehr Gewicht auf die Stiefel als auf die Beinkleider. Immer wieder, sogar zwischen den einzelnen Stunden, verschwand er hinter dem Vorhang im großen Zimmer, um dort seine Stiefel blank zu putzen. Natürlich stachelte diese Gewohnheit die Kameraden dazu an, Rosis Stiefel immer aufs neue zu beschmutzen, um sich mit seinem ewigen Stiefelputzen einen Spaß zu machen. Aber das konnte einem teuer zu stehen kommen, denn Rosi ließ außer glänzenden Stiefeln nur Körperkraft gelten. Beim Turnunterricht interessierte ihn hauptsächlich das Stemmen und Heben von Gewichten mit Händen und Füßen, im Stehen, im Hocken und auf dem Rücken liegend. Immer und überall trainierte er seine Muskeln, indem er Stühle, Tische, Menschen stemmte, und auf dem Fußboden, auf Stühlen, Tischen und Betten gymnastische Übungen vornahm.

Das waren Indreks nächste Nachbarn. Die Nebenzimmer beherbergten Stolz und Pracht des ganzen Instituts in Gestalt der wohlhabendsten und vornehmsten Schüler. Hier wohnte der deutsche Kolonistensohn Müller aus Bessarabien, ein kleiner, bleicher, magerer Knabe mit braunen Augen und roten Haaren in einer grauen Bluse. Äußerlich zeichnete er sich durch nichts Besonderes aus, aber er konnte wiehern wie ein Pferd, und das so laut, daß die ganze Schule seine Kunst bewunderte. Ein so dünnes Männchen und eine so laute, tierische Stimme!

Unter Müller schlief der Este Wutt, ein ausgelassener Strick von fünfzehn, sechzehn Jahren, der schon durch mehrere Schulen gegangen war. Man hätte sonst Wohl kaum besonders auf ihn geachtet, denn derartige Bengel wie er gab es hier ja genügend, wenn er nicht eine sonderbare Angewohnheit gehabt hätte, die nur an ihm zu beobachten war. Stets wußte er es so einzurichten, daß er neben einen größeren, stärkeren Jungen zu sitzen oder zu stehen kam, dessen linke Hand er dann vorsichtig ergriff, um sich dann insbesondere des kleinen Fingers dieser Hand zu bemächtigen – stets mußte es die Linke sein – und dann mit dem Nagel dieses Fingers zu spielen, während er gleichzeitig die Zungenspitze zwischen die Unterlippe und die Oberzähne schob, um sie dort sachte zu bewegen.

Im selben Zimmer schliefen auch noch Laane, ein kräftiger Bursche vom Lande mit einem Stiernacken und niedriger Stirn, dessen kurzer, dicker Hals beinahe zwischen seinen Schultern verschwand. Ihn durfte jeder knuffen, ohne daß er aufbegehrt hätte, vielmehr pflegte er in solchen Fällen bloß gleichmütig zu bemerken: »Was ist an dem Dreck zu verprügeln!« und dabei schlenkerte er bloß mit seinen langen, krummen Armen, die aussahen, als stammten sie von irgendeinem Gorilla und seien seinem derben Rumpf angesetzt worden. Sonderbar wirkten auch seine kurzen, in den Knien gekrümmten Beine mit den einwärts gekehrten Füßen. Meist hatte er irgendein Buch in der Hand, namentlich solche, deren Inhalt für ihn noch zu hoch war. Da er noch in der dritten Klasse saß, schätzte er besonders eine Sammlung Algebraaufgaben, denn der Algebraunterricht begann erst in der vierten Klasse. Ihn bezauberte alles Unverständliche, das für ihn etwas Geheimnisvolles hatte und dadurch Ehrsucht, ja Furcht erzeugte. Von den Sprachen hatte es ihm besonders das Lateinische angetan. Bei der ersten passenden Gelegenheit fragte er Indrek:

»Weißt du, wie der Dieb auf lateinisch heißt?«

»Wieso?« lautete Indreks verständnislose Gegenfrage.

»Also, das weißt du noch nicht«, lächelte Laane halb verschämt, halb schlau. »Aber ich weiß es«, fügte er stolz hinzu und wollte noch etwas bemerken, als ihm Wutt mit der unschuldigen Frage ins Wort fiel:

»Aber wie heißt die Laus auf lateinisch?«

»Was!« rief Laane gleichsam erschrocken und verstummte.

»Das weißt du also nicht«, sagte Wutt. »Aber das solltest du eigentlich wissen, denn diese Vokabel lehrt der alte Gorilla seine Jungen in allen Sprachen ganz zuerst.«

»Schimpf doch nicht«, sagte Laane und verließ das Zimmer, während Wutt Indrek erklärte: »Paß mal auf: wenn du mal solch ein graues Tierchen finden solltest, dann ist es von dem. Knacken darf man sie nicht, denn sie sind wie die Schaben: sobald du welche zerquetschst oder verbrennst, rücken die übrigen dir nur desto schlimmer zu Leibe. In ganzen Scharen! Du mußt sie vielmehr wieder auf den Besitzer zurücksetzen, dann lassen sie dich in Frieden.«

Bald mußte Indrek die Erfahrung machen, daß diese Tierchen ihm häufig Besuche abstatteten, und nicht nur vom Gorilla, sondern auch von der Elster, denn auch hier wurden sie gezogen. Beim einen waren sie dunkler und größer, beim andern kleiner und heller. Vom argen Schmutz, meinte man von ersterem, vom grauen Elend, vom letzteren.

Über Laane schlief der russische Tatare Baschkirzew aus Kasan – ein kleiner, gelber Bursche, mit Haaren schwarz wie Ruß. Ein großer Raucher, der den Rauch zu verschlucken liebte, so daß seine Brust toller röchelte als beim alten Herrn Woitinski. Er brauchte Morphium und liebte es bei jeder Gelegenheit, schlüpfrige Geschichten aus den Nachtlokalen seiner Heimat zum besten zu geben, deren er so viele auf Lager hatte, daß man annehmen mußte, er erfinde täglich neue hinzu.

Im nächsten größeren Zimmer lebten von Elbe aus Riga, Graf Mannheim aus Petersburg, Fürst Bebutow aus Tiflis, Pan Chodkewicz aus Warschau und der Engländer King aus Moskau, Sohn eines Fabrikanten. Das waren alles wichtige Persönlichkeiten, so wichtige, daß sie nur in der Beletage schliefen. Denn wie sollte man wohl den Fürsten über den Grafen oder den Grafen über den Fürsten plazieren? Und auch den Pan konnte man nicht wohl gut jemandem über- oder unterordnen. Am ehesten hätte sich das noch mit dem Engländer machen lassen, denn der war stets so höflich und zuvorkommend, daß man von ihm auf jedes Entgegenkommen rechnen konnte. Auch der Graf hätte vielleicht noch mit sich reden lassen, denn der lebte in dieser Lehranstalt erster Kategorie wie ein Vogel in wildfremder Umgebung. Was und wieviel er früher gelernt hatte, das konnte niemand aus ihm herausbringen; hier jedenfalls interessierte ihn nichts außer seiner Balalaika. Immer saß er irgendwo, den einen Fuß auf das andere Knie gestützt und klimperte. »Er spielt wie der Teufel«, sagten die Jungen und sammelten sich um ihn, selbst Baschkirzew machte in seinen schlüpfrigen Erzählungen eine Pause und trat herzu, um dem Grafen zuzuhören. Indrek ergriff immer eine gewisse Wehmut, wenn er die Töne der Balalaika hörte und in die braunen Augen des Grafen blickte. Aber das alles hätte nicht genügt, Namen und Andenken des Grafen nach seinem Abgang unsterblich zu machen – denn er blieb nicht lange –, wenn er der Anstalt nicht sein einziges Liedchen vermacht hätte, dessen erster, für Solo bestimmter Strophe, eine melancholisch-träumerische Weise untergelegt war, während die zweite im Chor zu singende Strophe sich in direkt feierlich klagenden Tönen bewegte. Die Worte dieses Liedes aber lauteten wie folgt:

Hatte einst ein Pop' ein Hündchen,
Gab ihm Zuckerbrot,
Einmal stahl es ihm ein Würstchen,
Schlug der Pop' es tot.
Grub es in die Erde ein,
Schrieb auf seinen Leichenstein:
Hatte einst ein Pop' ein Hündchen,
etc. da capo in infinitum.

Dieses Lied fiel allen gleich beim ersten Hören ins Ohr, und zwar ohne Ansehen der Nationalität. Sogar Herrn Slopaschew konnte man manchmal das Lied mitbrummen hören. Woitinski aber schmatzte beim Hören der Verse mit seinen welken Lippen und wiederholte:

»Oh, diese Esel! Diese Heuochsen! Diese Idioten!«

Aber diese Schimpfworte wurden von niemand ernst genommen und waren wohl auch nicht böse gemeint, denn gleichzeitig wollte Herr Woitinski sich ausschütten vor Lachen über den Popen und sein Hündchen. Aber mitsingen, das tat er freilich nie.

Auch der Engländer King beteiligte sich niemals am Gesang. Aber das war nicht weiter wunderzunehmen, denn er sang überhaupt niemals. Mutter Natur hatte ihn mit einem mädchenhaft schlanken, schmiegsamen Körper ausgerüstet und mit einer so zarten, schmelzenden Stimme, daß jedes seiner Worte wie Musik klang. Und wozu hätte er dann wohl noch singen sollen, wenn jedes seiner Worte ohnehin Musik war. Aber im übrigen bezauberte die Balalaika des Grafen auch ihn. Wenn dieser spielte, liebte es der Engländer, sich irgendeine bunte Kopfbedeckung aufzusetzen, etwas Breites, Flatterndes umzuwerfen und zu tanzen.

»Die schöne Helena tanzt«, sagte Elbe dann. Aber der Pan Chodkewicz drückte das Kinn auf die Brust und brummte etwas vor sich hin, was bedeuten sollte: ganz nett, aber Sie sollten mal nach Warschau kommen, da würden Sie sehen! Immer spazierte der Pan mit den Händen in den Taschen umher, ja er zog sie nicht einmal in der Klasse hervor, kaum beim Essen. Alle dienstbaren Geister nannte er »Menschen«, alle übrigen »Herren«. Und so betitelte er denn auch Indrek als Menschen, als er am zweiten oder dritten Tage diesen hieß eine Besorgung machen. Als Indrek sich an seinen Befehl überhaupt nicht kehrte, wiederholte er ihn ihm ins Gesicht, so daß nun kein Zweifel mehr darüber bestehen konnte, wen er im gegebenen Falle als Mensch bezeichnete.

»Wer ist hier Ihr Mensch?« fragte Indrek mit vor Wut bebender Stimme.

»Was sind Sie denn sonst?« versetzte der Pole hochmütig. »Ganz dasselbe doch wie unser Lette – Laufbursche, Kommissionär, Diener.«

Er hatte kaum das letzte Wort hervorgebracht, als er auch schon von Indrek einen Faustschlag unters Kinn erhielt, das eben zufällig nicht auf die Brust gedrückt war. Es entwickelte sich ein Faustkampf, der jedoch unentschieden blieb, weil die anderen die Kämpfer trennten. Der Pole wollte sich beim Direktor beklagen, aber die anderen redeten ihm das aus.

»Das geht nicht, solche Sachen machen Kameraden untereinander aus«, meinte der Fürst.

»Was ist er mir für ein Kamerad!« rief Chodkewicz verächtlich.

»Wieso kein Kamerad«, widersprach ihm der Fürst. »Sie prügeln sich mit ihm und wollen nicht sein Kamerad sein.«

»Sehr richtig«, pflichtete ihm der Graf bei. »Haben Sie seine Herausforderung mal angenommen, so sind Sie eben sein Kamerad; andernfalls hätten Sie sich gleich beim Direktor beschweren sollen.«

Aber es dauerte eine Weile, bevor der Pole sich dieser Logik fügte und Indrek die Hand reichte.

Dem Direktor war dieser Streit indessen doch zu Ohren gekommen, und bei der nächsten Gelegenheit sagte er zu Indrek:

»Das war gut, daß Sie es ihm gehörig gegeben haben. Lassen Sie sich nur nichts bieten, Sie sind hier mein Stellvertreter. Wir haben hier eine rein estnische Schule, was hat ein Pole da zu sagen! Aber prügeln Sie sich nur nicht mit allen, sonst prügeln Sie mir noch die Schule auseinander. Es könnte sich das Gerücht verbreiten, Herr Maurus hat da unten im Zimmer solch einen langen, gefährlichen Kerl, der sich beständig prügelt. Erst mit Tigapuu, dann mit Chodkewicz, weiß Gott, wer nun an die Reihe kommt. Was hatten Sie sich überhaupt an diesem Polen zu reiben? Wäre es noch ein Deutscher gewesen, das ist eine andere Sache, mit dem liegen wir uns schon seit siebenhundert Jahren in den Haaren.«

»Der Pole schimpfte mich«, sagte Indrek.

»Laß ihn schimpfen, lohnt es sich deswegen gleich ihn zu verhauen? Der Russe prügelt ihn ohnehin. Der Deutsche prügelt uns, der Russe den Polen, und wenn nun wir anfangen einander zu prügeln, was sollen dann der Deutsche und der Russe beginnen!«

Das war die Ansicht des Direktors über diesen Zwischenfall, und solche Leute waren es, in deren nächster Nachbarschaft Indrek nun leben mußte. Es waren Personen in bevorzugter Stellung, und darum gab es mit ihnen tagtäglich Auseinandersetzungen.

Die ersten Wochen seines neuen Berufs brachte Indrek nahezu schlaflos hin. In der Befürchtung, im Schlafe am Ende die Glocke zu überhören, wagte er es kaum einzunicken. Und wenn es dieses Mal wegen arger Übermüdung doch geschah, so glaubte er alsbald den Ton der Glocke zu vernehmen, während diese sich tatsächlich nicht gerührt hatte, und hinter der Türe nichts zu entdecken war als klirrender Frost und knirschender Schnee.

Den Schlaf störte hier im großen Zimmer auch das muntere Leben der Herren Slopaschew und Woitinski, das immer üppigere Blüten schoß. Aus dem freundschaftlichen Geplauder und Gelächter der beiden entwickelte sich häufig Gesang: Slopaschew brummte wie ein Bär, während Woitinski piepste wie ein Vögelchen. Gelegentlich veranstalteten die Jungen hinter ihrer Türe ein Katzenkonzert: der Graf spielte Balalaika, Wainukägu sang »Lobe den Herrn«, Chodkewicz drückte das Kinn auf die Brust und brummte, Sikk trommelte mit dem Besenstiel auf den Fußboden, Müller wieherte, und die übrigen schrien im Chor irgend etwas dazwischen. Das alles ließ sich gut machen, weil der Direktor des Abends nahezu nie zu Hause war und auch Ollino häufig fehlte. Einmal, als es Slopaschew schließlich doch zu viel wurde, trat er aus seinem Zimmer, um die Jungen zu ermahnen. Aber noch bevor er die Türe hatte öffnen können, war alles auseinandergelaufen, nur Indrek und Elbe saßen ruhig am Tisch.

»Wer hat hier geschrien? Was ist das für ein Geschrei?« forschte Slopaschew streng.

»Wo? Wann?« rief Elbe überrascht.

»Hierselbst, hinter meiner Türe«, erklärte Slopaschew.

»Wir haben die ganze Zeit über hier gelesen, aber wir haben nichts gehört«, sagte Elbe. »Ihnen klingen vielleicht die Ohren, Herr Lehrer.«

»Iwan Wassiljewitsch, Iwan Wassiljewitsch!« rief Slopaschew seinen Kumpan herbei, und als dieser an der Tür erschien, sagte er: »Hören Sie doch, was die hier reden. Sie sagen, hier habe niemand geschrien. Aber Sie haben es doch auch deutlich gehört, nicht wahr?«

»Ganz deutlich, vollkommen deutlich, Herr erbarme dich!« kreischte Woitinski. »Sie flunkern, meine Herren, bei Gott, Sie flunkern«, fügte er höflich hinzu, denn Alkohol machte ihn stets höflich.

»Sie flunkern, bei Gott, Sie flunkern«, pflichtete Slopaschew seinem Kollegen bei.

»Bei Gott, nein«, widersprach Elbe eifrig. »Ich flunkere nicht. Wenn Sie wollen, bin ich bereit, mich zu bekreuzigen zum Beweise, daß ich nicht flunkere. Ich bin zwar Lutheraner, aber ich bin bereit, mich zu bekreuzigen, wenn die Herren mir anders keinen Glauben schenken.«

Die Lehrer begaben sich wieder in ihre Stube, und die Jungen schlichen herbei, um hinter ihrer Türe zu lauschen.

»Ist Ihnen das schon mal passiert, daß Sie etwas hören, wo nichts zu hören ist?« fragte Slopaschew Woitinski.

»Nein, das wohl nicht«, versetzte dieser.

»Aber mir ist es schon passiert, bei Gott, schon früher mal. Und heute wieder«, erklärte Slopaschew ein wenig bedrückt.

»Ach, glauben Sie das doch nicht, Alexander Matwejewitsch, sie flunkern«, beruhigte Woitinski den Kollegen.

»Meinen Sie wirklich?« fragte Slopaschew zweifelnd.

»Natürlich flunkern sie!« versicherte Woitinski.

»Nun, dann gehen Sie und holen Sie uns noch eine«, meinte Slopaschew beruhigt. »Ein Viertelchen dürfte wohl genügen.«

Die Jungen machten, daß sie von der Türe fortkamen, und als Woitinski aus dem Zimmer trat, seinen Mantel schloß, den Kragen aufklappte und die Mütze vom Haken langte, wandte Elbe sich in überaus höflichem Tone mit der Frage an ihn:

»Wohin noch so spät, Herr Lehrer?«

»Ein wenig spazieren, an die frische Luft, mein Kopf ist mir ein wenig benommen, habe den ganzen Tag in der Stube gesessen«, erwiderte Woitinski mit ernster, nahezu feierlicher Miene und ging, von Elbe höflich bis in den Flur geleitet.

»Die Flasche steckt in seiner linken Tasche, ich konnte sie fühlen«, sagte Elbe, wieder ins Zimmer tretend. Und dann schaffte er schnell eine gleiche Flasche herbei und füllte sie mit Wasser, worauf er Woitinski erwartete, dem er dann an die Haustüre entgegenging, wo sich alsbald ein längeres Gespräch über den Spaziergang, das Wetter, den Sternhimmel und weiß Gott was noch alles entwickelte. Und dieses Gespräch erwies sich als so interessant, daß es die beiden eine längere Weile im dunklen Flur und dämmerigen Vorzimmer aufhielt, zumal es auch hier wieder so kam, wie es so oft zu kommen pflegt: macht der eine halt, bleibt auch der andere stehen, will der eine durch die Türe treten, so hat der andere zufälligerweise auch gerade eben dieselbe Absicht, so daß man sich unwillkürlich drängen und stoßen muß. Einfach lächerlich, wie die Menschen manchmal dieselbe Sache zu gleicher Zeit tun wollen! Mitten in der Nacht kann man darüber lachen, und lachen tut auch der alte Herr Woitinski, der vorhin eine so ernste, ja nahezu feierliche Miene aufgesetzt hatte. Aber schließlich gelang es doch beiden einzutreten, und Woitinski begab sich zu Slopaschew.

»Hier habe ich sie, seht mal«, sagte Elbe. »Er ist mit der Wasserflasche hineingegangen! Wartet mal! Laßt uns hören!«

Es währte nicht allzulange, bis plötzlich etwas klirrend gegen die Türe flog und man Herrn Slopaschew fürchterlich prusten hörte.

»Herr, erbarme dich!« piepste Woitinski. »Alexander Matwejewitsch, was ist Ihnen?«

»Das ist ja reines Wasser!« brüllte Slopaschew aus voller Kehle empört. »Sie wollen mich wohl foppen!«

»Wieso?« quiekte Woitinski. »Wieso foppe ich Sie? Ich Sie foppen, Alexander Matwejewitsch?!«

»Da, versuchen Sie selbst!« schrie Slopaschew.

»Wasser, reines Wasser, in der Tat«, bestätigte Woitinski.

»Bei Gott, Wasser! Was soll das nur bedeuten, heilige Mutter Gottes? Im Restaurant mogelt man!«

»Sind Sie wirklich im Restaurant gewesen?« fragte Slopaschew spitz.

»Wie denn nicht! Natürlich! Gott erbarme sich!« verteidigte sich Woitinski. »Ich habe sogar Bekannte dort getroffen, sie begrüßt.«

»Aber was soll denn das bedeuten?« fragte Slopaschew nachdenklich. »Vorhin hörten wir Lärmen und Schreien, und die dort sagen, sie wüßten nichts davon, und nun kauft man aus dem Restaurant Schnaps, und will man ihn trinken, so erweist es sich, daß er zu Wasser geworden ist.«

»Herrgott, ja, ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat; bei Gott, ich weiß es nicht«, versicherte Woitinski und ergriff die Flasche, um sie ins Restaurant zurückzubringen. Ächzend und stöhnend passierte er das große Zimmer, wo Elbe sich wiederum vor Höflichkeit nicht zu lassen wußte, indem er bestrebt schien, dem alten Lehrer die Wege zu ebnen, ja ihn sogar ein Stück Weges auf die Straße hinaus begleitete, auf der tiefer Schnee lag. Als er dann wieder ins Zimmer trat, hatte er seine Wasserflasche wieder in der Hand.

Bald erschien auch Woitinski mit strahlender Miene, ja sichtlich ein wenig erregt.

»Was ist? Was ist geschehen?« rief Elbe ihm diensteifrig entgegeneilend. »Sie strahlen ja über das ganze Gesicht, Herr Woitinski. Um Gottes willen, so reden Sie doch!«

»Es geschehen noch Wunder!« versetzte Woitinski.

»Was?« rief Elbe aufs höchste überrascht. »Was heißt das? Was für Wunder?«

»Wunder wie auf der Hochzeit zu Kana. Wein wird zu Wasser und Wasser zu Wein.«

»Wo? Wann? Wie das?« riefen die Jungen verwundert im Chor durcheinander.

»In meiner eigenen Tasche, in der Flasche, in Alexander Matwejewitschs Hand«, quietschte Woitinski.

»Aber dann sind Sie ja der Antichrist, Herr Woitinski«, riefen die Jungen. »Das müssen wir unbedingt Herrn Maurus mitteilen. Wir werden ihm sagen: Entschuldigen Sie schon, Herr Maurus, aber Herr Woitinski ist der Antichrist.«

»Was, was?« kicherte der Alte. »Ich der Antichrist? Hihihi! Hihihi!«

Dieses Mal gelang es Woitinski, mit der richtigen Flasche Slopaschews Zimmer zu erreichen, denn Elbes Finger erwiesen sich als nicht lang genug, um abermals den Tausch vorzunehmen.

»Du bist ein Esel, Iwan Wassiljewitsch, das laß dir in aller Freundschaft gesagt sein«, schrie Slopaschew dem Freunde entgegen, als dieser wieder eintrat. »Antichristen sind die da draußen, nicht wir. Diese ganze Schule ist der Antichrist, verstehen Sie.«

Aber Woitinski verstand sehr wenig davon, was man ihm sagte oder was um ihn her vorging, sobald er unter dem Einfluß des Alkohols stand. Darum konnten sich auch mit ihm derartige überraschende Wunder begeben.

An manchen Abenden kam man auch aus den weiter abgelegenen Stuben, ja sogar von oben, aus Sibirien, nach unten, um sich hier einen Spaß zu machen, wenn das fröhliche Symposion der beiden befreundeten Kollegen sich bis in die Nacht hinzog. Im großen Zimmer wird das Licht ausgemacht, und die Jungen kriechen in die Betten. Im Dunkeln schleicht sich dann jemand an Slopaschews Türe und pocht.

»Herein!« brüllt Slopaschew.

Aber es tritt niemand ein, bloß nach einer kleinen Weile wird aufs neue gepocht.

»Herein, sage ich!« schreit Slopaschew.

Aber es erscheint niemand.

»Vielleicht ist die Türe verschlossen, Alexander Matwejewitsch«, krächzt Woitinski heiser.

»Versuchen Sie mal«, befiehlt Slopaschew.

Woitinski erhebt sich nicht ohne Mühe und geht nach der Türe. Aber noch lange bevor er diese erreicht hat, ist der Schuldige längst verschwunden.

»Es ist niemand da«, sagt Woitinski, mißtrauisch schmatzend. »Das Zimmer ist finster. Alle schlafen.«

Die Freunde setzen sich wieder und erheben ihre Gläser, einander zutrinkend. Die Jungen setzen ihr altes Spiel fort, bis Slopaschew endlich die Geduld reißt, und er selbst die Türe öffnet und ins große Zimmer tritt, um die Gespenster zu suchen. Aber im selben Augenblick fliegt ihm aus dem Dunkel ein schwerer Ball an die Beine, so daß er entsetzt in sein Zimmer flieht.

»Herrgott!« zetert Woitinski, »was ist das denn eigentlich?«

»Irgendwas flog mir an die Beine«, versetzt Slopaschew.

»Man könnte wirklich an Gespenster glauben«, kichert Woitinski.

Slopaschew nimmt die Lampe vom Tisch und geht ins große Zimmer hinüber, wo er sich suchend nach allen Seiten umsieht. Aber es ist nichts zu finden, denn inzwischen ist der Fußball schon beiseitegeschafft. Er lüpft den Vorhang, beleuchtet die Betten, aber alles schläft den Schlaf des Gerechten. Einmal gelang es Slopaschew aber doch, den Ball zu erwischen, und nun entbrannte sein ganzer Zorn über alle die Streiche, die man ihm und seinem besten Freunde gespielt hatte. Er stürmte zum ersten besten Bett und riß den Schläfer mit einem Ruck an den Beinen auf den Fußboden. Dortselbst landete in einer dicken Staubwolke auch der Schwan, der als Friedensengel unter der Decke seine Schwingen ausbreitete, denn, unwillkürlich mit den Händen irgendwo einen Halt suchend, hatte der Junge sich an seinen langen Hals geklammert.

»Du Hundesohn!« brüllte Slopaschew. »Seinem Lehrer den Ball an die Beine zu schmeißen! An die Türe klopfen, wenn der Lehrer mit seinem besten Freunde in stiller Stunde plaudern will!«

Aber der, den er aus dem zweiten Stock heruntergerissen hat, ist Sikk, der tatsächlich geschlafen hat, denn er beteiligt sich nie an dem Schabernack der anderen. Und da er, verschlafen wie er ist, gar nicht recht begreift, was eigentlich vorgeht, ist er der Meinung, daß die anderen Jungen ihn uzen. Und infolgedessen faßt er den im Dunkeln vor ihm stehenden Lehrer zornig um den Leib. Es beginnt ein erbitterter Ringkampf zwischen den beiden: Slopaschew im langen, breiten Schlafrock, Sikk im bloßen Hemde, das ihm kaum bis an die Knie reicht.

Die Ringer stolperten über irgend etwas Weiches und stürzten gegen die offenstehende Tür zu Slopaschews Zimmer, die zuschlug, so daß es plötzlich stockfinster wurde. Es erhob sich ein Höllengebrüll, denn alles schrie wild durcheinander.

»Rosi, ordentlich fetzen!« schrien die Esten in ihrer Sprache. »Sei ein Held! Gib es dem Russen ordentlich! Aber Vorsicht, daß du ihn nicht zerschlägst. Wenn er platzt, dann ersaufen wir alle.«

»Licht, mehr Licht!« rief Slopaschew, als versuche er zu scherzen, und fügte dann hinzu: »Iwan Wassiljewitsch, öffnen Sie die Türe!«

Aber diesen Wunsch kann Woitinski nicht erfüllen, denn jemand stemmt sich von außen dagegen.

»Herr Gott!« zetert Woitinski. »Die Türe geht nicht auf! Was ist das doch, Alexander Matwejewitsch?«

»Ein Kampf! Ein Kampf auf Leben und Tod!« ächzt Slopaschew.

Aber noch bevor er diese Worte recht hervorbringen kann, gibt es einen argen Krach, denn wieder stolpern die Ringer über irgendein Hindernis, taumeln gegen den Tisch und reißen ein paar Stühle um. Von hier stürzen sie mit neuem Schwung gegen die Reihe der Doppelbetten und den großen Schrank, auf welchem die Gipsbüsten von Goethe und Schiller stehen. Der Schrank gerät ins Schwanken, und dadurch verlieren auch die beiden Büsten das Gleichgewicht und stürzen krachend herab, die eine zu Boden, die andere Slopaschew auf den Kopf, so daß dieser selbst umgerissen wird. Einen Augenblick herrscht Grabesstille. Dann kommt der Fürst mit der Lampe aus seinem Zimmer herbeigelaufen, gefolgt von seinen Schlafkameraden. Auch Woitinski war es nun endlich gelungen, die Türe zu öffnen.

Den Zuschauern bot sich ein trauriger Anblick: Goethe und Schiller waren in tausend Stücke zersprungen und mitten zwischen diesen lag Slopaschews große, schwere Gestalt. Die Federn und der ehrwürdige Staub des armen Schwans erfüllten das ganze Zimmer. Er selbst lag ohne Kopf und mit gebrochenen Schwingen hilflos unter dem Tisch, wohin die Füße der Ringkämpfer ihn geschleudert hatten.

»Herr, du mein Gott!« kreischte Woitinski beim Anblick des ausgestreckt daliegenden Slopaschew und des keuchend im Hemde vor ihm stehenden Sikk.

Der Pan und der Graf waren, von Sikk unterstützt, bestrebt, Slopaschew wieder auf die Beine zu helfen. Das gelang auch schließlich. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, wollte er sofort zum Direktor eilen, was Indrek, der ihm im Hemde entgegentrat, ihm indessen auszureden suchte, mit der Begründung, der Direktor sei nicht zu Hause, so daß er nur die Nachtruhe des Fräuleins und Frau Malmbergs stören würde. Auch Ollino war nicht zu Hause, sonst wäre es ja überhaupt nicht so weit gekommen. Nur Tigapuu erschien als Aufseher, obgleich diese Zimmer hier durchaus nicht in seinen Machtbereich gehörten. Er ließ Jürka mit Besen und Eimer kommen, und bald war von Goethe und Schiller nichts weiter übrig als nur ein wenig Staub. Auch den Schwan angelte er unter dem Tisch hervor und suchte seine umherliegenden Federn zusammen.

» Sic transit gloria mundi«, bemerkte Slopaschew beim Anblick dieser Aufräumungsarbeit weise, denn sein Zorn begann zu verrauchen, wenn er sein eigenes Schicksal mit dem Goethes und Schillers und des Schwans verglich. Aber Woitinski kam nicht aus der Verwunderung heraus.

»Mein Gott, ich begreife überhaupt gar nichts: ich will die Türe öffnen, die Tür ist verschlossen. Dann erhebt sich ein fürchterliches Geschrei, ein entsetzlicher Lärm, und wie die Türe dann endlich aufgeht, liegen Sie, Alexander Matwejewitsch, auf dem Fußboden und rühren keine Flosse. Und alles voll Scherben und Federn! Bei Gott, ich begreife gar nichts.«

»Das waren diese verfluchten Goethe und Schiller«, erklärte Slopaschew schon in seinem Zimmer, »sonst hätte ich den Kerl einfach zerquetscht.« Und nachdem er ein Glas geleert hatte, fügte er scherzend hinzu: »Gut noch, daß es Goethe und Schiller waren, wären es Puschkin und Tolstoj gewesen, dann wäre ich eben nicht mehr am Leben.«

»Bei Gott«, erklärte sich Woitinski einverstanden, »wenn es Puschkin gewesen wäre, dann wären Sie sicherlich tot.«

Bald setzten die beiden Freunde wiederum in der allerbesten Stimmung ihr gemütliches Beisammensein fort. Das gab den Schülern keine Ruhe; sie wollten dieses Beisammensein um jeden Preis stören. Aber die früheren Scherze wollten nun nicht mehr verfangen, denn die beiden Lehrer reagierten nicht mehr, weder auf die Katzenmusik noch auf das Pochen an der Türe. Da kam jemand auf den Gedanken, die Probe zu machen, wer imstande sei, mit den Füßen am höchsten an die Wand zu springen, hinter welcher die beiden Lehrer saßen. Als die beiden sich auch hierdurch nicht weiter stören ließen, begann man gegen die Täfelung der Tür zu springen, und dieses Spiel war so hinreißend interessant, daß schließlich alle Anwesenden daran teilnahmen, sogar der Fürst und der Pan. Nur der Graf machte diese Leibesübung nicht mit, hatte vielmehr auf einer Ecke des großen Tisches Platz genommen und spielte Balalaika, als wolle er zum Sturmlauf der Kameraden auf die Türe den Rhythmus angeben. Schließlich vergaß sogar Tigapuu sein Aufseheramt und begann mitzumachen, denn er wollte den anderen durchaus zeigen, wie man richtig springen müsse. Mit immer größerem Schwunge flog er gegen die Türe, bis er schließlich mitsamt der Täfelung in Slopaschews Zimmer hineinflog. Das kam allen so unerwartet, daß alles mit offenem Munde regungslos dastand. Der erste, der Worte fand, war Woitinski.

»Gott im Himmel! Was ist denn das schon wieder? Die Türe war doch nicht verschlossen«, piepste er.

»Ja, die Türe war unverschlossen«, pflichtete Slopaschew ihm bei.

Diese Worte gaben dem erschrockenen Tigapuu die Sprache wieder und dienten ihm zugleich als Fingerzeig auf den Weg zur Rettung.

»Nein, die Türe war verschlossen«, sagte er, indem er zur Türe sprang, als wolle er dort für seine Worte die Bestätigung suchen. In Wirklichkeit aber drehte er schnell den Schlüssel im Schloß herum und machte erst dann den Versuch, den Türrahmen zu öffnen, was nun natürlich nicht gelang. »Sehen Sie, die Türe ist verschlossen!« rief er gleichsam ärgerlich und gekränkt.

Durch die zerbrochene Türe grinsten die schadenfrohen Gesichter der Jungen herein. Der Graf saß nach wie vor auf der Tischecke und spielte Balalaika.

»Was ist das nur heute?« fragte Woitinski ratlos. »Sie haben die Türe doch nicht ins Schloß gedreht, Alexander Matwejewitsch?«

»Sie selbst kamen doch als letzter herein, Iwan Wassiljewitsch, da komme ich nicht in Frage.«

»Ich weiß nicht, wer die Türe verschlossen hat, aber verschlossen ist sie, wie Sie sehen«, sagte Tigapuu.

»Aber was tut denn das schließlich zur Sache«, meinte Slopaschew, nun endlich zum Kern des Problems vordringend, »das ist doch noch kein Grund, die Türe einzubrechen.«

Aber Tigapuu erwiderte ernst und bestimmt:

»Meine Herren, ich habe heute hier auf Ordnung zu sehen, denn Herr Maurus und Herr Ollino sind außer Hause. Die Schüler beschwerten sich bei mir, daß sie nicht schlafen könnten wegen des Gesangs und Gelächters in Ihrem Zimmer. Als ich herkam, konnte ich mich von der Berechtigung dieser Beschwerden selbst überzeugen. Ich klopfte, und als nicht geöffnet wurde, da ...« Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Slopaschew brüllte ihn an:

»Hinaus, du Flegel!«

»Gut, gut«, sagte Tigapuu drohend. »Aber das ganze Haus steht unter meiner Aufsicht, ich trage die Verantwortung. Hier die Jungen können bezeugen, wie alles hergegangen ist, mit dem Schwan, den Büsten und so weiter.«

Mit diesen Worten wollte Tigapuu das Zimmer verlassen, ohne recht zu wissen, was nun beginnen. Aber noch im letzten Moment nahm die Angelegenheit die gewünschte Wendung, denn Woitinski sagte schmatzend:

»Meine Herren, wozu streiten? Goethe und Schiller sind nun mal kaputt, die Türe gleichfalls, wozu da noch streiten, Herr Tigapuu?«

»Ich bin auch gar nicht fürs Streiten«, versetzte Tigapuu haltmachend, »aber wenn die Herren mir so kommen ...«

»Lassen Sie das«, mischte sich nun Slopaschew wieder ins Gespräch, »Iwan Wassiljewitsch hat zweifellos recht, wozu noch streiten, wenn ohnehin alles kaputt ist. Sagen Sie lieber, was mit der Türe zu machen ist?«

»Das ist eine Kleinigkeit«, versetzte Tigapuu. »Die Türe werde ich schon reparieren.«

Und sogleich machte er sich daran, mit Hilfe der anderen die aus dem Rahmen gestoßene Tafel wieder an ihre Stelle zu setzen, die zersplitterten Leisten wieder zurechtzurücken und sie mit feinen Nägeln zu befestigen.

»Sie sind ein goldener Mensch!« riefen die Lehrer wie aus einem Munde. »Dürfte ich Ihnen vielleicht? ...« begann Slopaschew, indem er die Flaschen der Reihe nach zur Hand nahm, und sie prüfend betrachtete. Es erwies sich indessen, daß sie sämtlich leer waren. »Alles leer!« rief Slopaschew ehrlich enttäuscht. »Ich hätte Ihnen gerne einen Kleinen angeboten, aber Sie sehen selbst, es ist nichts mehr da. Ein andermal, wenn Sie gestatten, ein andermal unbedingt.«

Und so mußte Tigapuus Kehle heute trocken bleiben.

»Goethe und Schiller, die nehme ich auf mich«, sagte Slopaschew zu Tigapuu. »Vielleicht sind Sie so freundlich, auch den anderen zu sagen, falls Herr Maurus danach fragen sollte, sollen sie antworten, ich sei der Schuldige, weiter nichts, verstehen Sie? Wie das gekommen ist, werde ich Herrn Maurus schon selbst erklären. Die Hauptsache, nicht unnütz viel reden, ich werde schon alles erklären.«

»Aber der Schwan?« fragte Tigapuu.

»Herr des Himmels, ja, der Schwan«, quiekte Woitinski und versuchte zu lachen.

»Der geht mit Goethe und Schiller in eins«, versetzte Slopaschew nach einiger Überlegung.

»Der Schwan, Goethe und Schiller – verstehen Sie«, sagte Woitinski schmatzend, als stecke hinter dieser Nebeneinanderstellung irgendein besonderer, tieferer Sinn, den freilich niemand zu fassen vermochte, so daß man zur Tagesordnung überging. Tigapuu trieb die Jungen zu Bett, während Slopaschew den allgemach völlig ermatteten Woitinski zur Ruhe brachte.

Aber der Teufel selbst schien heute die Jungen zu reiten, denn kaum war Woitinski eingenickt, als Wutt ihn mit den Worten weckte:

»Herr Woitinski, Herr Slopaschew ruft Sie.«

»Gleich, gleich«, erwiderte der verschlafene Alte, sobald er erfaßt hatte, worum es sich handelte. Er warf sich in seinen braunen Mantel, zog die Stiefel auf die nackten Füße und pochte an Slopaschews Türe. Aber es währte lange, bis sein verschlafener Freund ihn hörte.

»Wer da?« brüllte Slopaschew endlich.

»Ich bin es, Iwan Wassiljewitsch«, piepste Woitinski.

»Ach, Sie sind es!« rief Slopaschew. »Einen Augenblick, einen Augenblick! Ihnen steht mein Haus stets offen, für Sie bin ich immer zu haben.«

Und er ließ Woitinski eintreten, setzte ihn an den Tisch, steckte die Lampe an, plauderte mit dem Freund, brachte ihn schließlich wieder zu Bett und deckte ihn warm zu. Dabei philosophierte er vor sich hin:

»Sie schlafen hier wie ein Hund in seiner Hütte, Iwan Wassiljewitsch, denn auch ein Kollegienrat ist vor Gott nichts Besseres als ein Hund.«

»Bei Gott, nichts Besseres als ein Hund«, pflichtete Woitinski dem Freunde bei.

»Nun also, gute Nacht, du Gotteshündchen!« sagte Slopaschew. »Und vergessen Sie nicht, daß ich Ihr bester Freund bin. Und darum schlafen Sie nun recht schön!«

»Und Sie desgleichen«, erwiderte Woitinski, und es klang, als hätte er Tränen im Halse.

»Zwei elende Lumpen sind wir«, murmelte Slopaschew melancholisch.

»Richtig, sehr richtig, Alexander Matwejewitsch«, bestätigte Woitinski. »Bei Gott, Sie haben recht.«

»Ja, das ist es ja eben, daß ich recht habe«, wiederholte Slopaschew mit einem tiefen Seufzer bekümmert.

Als Ollino heimgekehrt seinen gewohnten Rundgang machte, hörte er im großen Zimmer hinter dem Vorhang Woitinski jämmerlich krächzen. Er schob den Vorhang beiseite und fragte:

»Sie schlafen noch nicht, Herr Woitinski?«

»Nein, Herr Ollino«, versetzte dieser.

»Warum denn nicht?«

»Ich denke über das Reich Gottes nach.«

»Verlorene Liebesmüh'«, murmelte Ollino. »Der Tod holt uns alle ohnedies.«

»Holt uns ohnedies, bei Gott«, erklärte sich Woitinski mit dieser Sentenz einverstanden.


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