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XXI

Um diese Zeit etwa begannen die Arbeiter, aus der Fabrik heimkehrend, verschiedene selbstgefertigte Mordinstrumente nach Hause mitzubringen. Auch der alte Käba erschien mit solch einer primitiven Waffe und erklärte: »Einen Polypen zum mindesten mache ich damit kalt. Wenn ein jeder nur wenigstens so viel täte.« Auch von Feuerwaffen war die Rede, doch blieb es unklar, um was für Waffen es sich handeln sollte und wie viele davon besorgt werden sollten. Aber zum Renommieren gab das genügend Anlaß. Von Krösus wußte man zu berichten, daß er irgendwo in einem stillen Vorort Schießübungen vornehme. Auch Indrek als Kassierer der Revolution hätte einen Revolver haben können, doch lehnte er das ab, denn er hatte gegen diese kleine Feuerwaffe eine merkwürdige Abneigung, als tauge eine solche eigentlich nur zum Selbstmorde.

Gerade während dieser lebhaften Auseinandersetzungen über die Waffenfrage unternahm Indrek einen Schritt, der für ihn verhängnisvoll werden sollte. Der Zufall führte ihn eines Abends in die Redaktion des »Volksfreund«, wo er einen russischen Soldaten antraf, der hier sein Leid klagte und um Hilfe bat in einer Weise, wie nur ein Russe das vermag. Auf irgendeiner Eisenbahnstation habe er Schnaps gekauft, was dem Militär streng verboten war und sei hierbei von der Polizei erwischt worden. Man habe ihm sein Seitengewehr und Gewehr sowie auch seine Mütze abgenommen, in welcher sein Name vermerkt war und habe über die ganze Angelegenheit ein Protokoll aufnehmen wollen, doch sei es ihm gelungen, dem Polizisten die Mütze zu entreißen und dann, rechts und links einige tüchtige Püffe austeilend, zu entfliehen und in einen gerade abgehenden Zug zu springen, mit dem er dann in die Stadt gekommen sei. Alles wäre in bester Ordnung, wenn er nur seine Waffen hätte, denn ohne die könne er sich natürlich nicht zeigen. Daher habe er sich auf dem Bahnhof an einen Gendarmen gewandt, der versprochen habe, ihm die gewünschten Waffen zu verkaufen, doch fehle es ihm hierfür an Geld, das er als Revolutionär, der doch einen Polizisten niedergeschlagen habe, nun hoffe, hier in diesem »Revolutionsnest«, wie er sich ausdrückte, zu erhalten. Als man ihm erklärte, sein Wunsch könne keine Berücksichtigung finden, fragte er bestürzt:

»Wie denn das? Ist denn der Polizist, den ich da niedergeschlagen, nicht seine siebenundvierzig Rubel wert?« Er blickte alle Anwesenden erstaunt an und fuhr dann fort: »Sie wollen mich wohl gar der Polizei angeben?«

O nein, das beabsichtige man keineswegs, das habe er nicht zu befürchten.

»Aber das könnte mir ja nun auch ganz gleich sein«, fuhr der Soldat nach einer Pause fort, »denn Weib und Kind sehe ich nun doch sowieso nie mehr wieder.«

Nun legte sich Indrek ins Mittel, indem er sich in estnischer Sprache an die Anwesenden wandte mit der Frage, ob sich die erforderliche Summe nicht doch vielleicht würde zusammenschießen lassen. Sein Appell schien Gehör zu finden, denn schon schob sich hier und da eine Hand in die Tasche, als plötzlich von Sillamäes Lippen das Wort Spitzel fiel, das alle Herzen wieder wie mit einem Zauberstabe verhärtete. Der Soldat stand noch eine Weile stumm da, hilflos um sich blickend, um dann langsam das Zimmer zu verlassen, völlig zusammengesunken, mit einem hoffnungslosen Ausdruck in den starren Zügen wie ein zum Tode Verurteilter. Alles atmete erleichtert auf, auch Indrek, während die schweren Schritte des Soldaten langsam die Holztreppe hinabpolterten.

Als Indrek eine halbe Stunde später die Redaktion verließ, entdeckte er auf der untersten Treppenstufe eine dunkle Gestalt, die sich bei näherer Betrachtung als derselbe Soldat erwies, der, sich in sein rotes Taschentuch schneuzend, unverständliche Worte vor sich hinmurmelte.

»Was tun Sie hier?« fragte Indrek, vor ihm haltmachend.

»Wo soll ich denn hin?« fragte der Soldat, »unter den Zug oder an den Galgen, sonst gibt es für mich ja nichts.«

Indrek gaben diese Worte einen Stich ins Herz. Er setzte sich neben den Soldaten auf die Stufe und sagte:

»Sagen Sie mir bitte, ist das, was Sie da vorhin erzählten, alles wirklich wahr? Auf Ehre und Gewissen. Sprechen Sie, als ob Sie vor Gott selbst stehen würden.«

»Mein Gott!« rief der Soldat, »wie könnte ich so etwas lügen. Alles verhält sich genau so, wie ich berichtet habe. Von Beruf bin ich Schmied, wurde einberufen und in den Krieg gegen die Japaner geschickt, von da zurückgekehrt, sollte ich eigentlich nach Hause, wurde dann aber anstatt dessen hierher geschickt – gegen die Zarenmörder und Feinde des heiligen Rußland angeblich. Verstehen Sie? Aber der Zar lebt ja noch. Was soll das denn heißen? Und wohin schickt man uns? Aufs Land, die Bauern verhauen. Aber ich selbst bin ja ein Bauer, aus dem Dorfe Lipowka bei Borodino, ich habe eine Frau und fünf Kinder, das älteste ist dreizehn. Sie müssen sich da ohne den Vater durchschlagen, und ich soll anderer Kinder Väter bestrafen. Verstehen Sie? Und nicht einmal eine Flasche Schnaps darf man sich kaufen. Und nun sitze ich hier, und Frau und Kinder bekommen mich nie mehr zu sehen. Aber bei Gott, so sterbe ich nicht, diese Japaner und all das andere schenke ich ihnen nicht. Vorher ermorde ich noch irgend jemand! Irgendeinen Polizisten oder Kokardenmann, mögen sie dann mit mir machen was sie wollen, mich aufhängen oder niederschießen.«

»Aber bitte sagen Sie mir doch ganz aufrichtig, können Sie mit siebenundvierzig Rubeln denn wirklich gerettet werden?« forschte Indrek.

»So wahr Gott lebt«, versicherte der Soldat, während in seinen Augen wieder eine leise Hoffnung aufzuglimmen schien.

»Dann will ich Ihnen das Geld geben«, sagte Indrek entschlossen, und diese Worte kamen ihm selbst unerwartet. Als er sich später Rechenschaft darüber abzugeben versuchte, welche Motive ihn bei diesem Entschluß geleitet hätten, da kam ihm in erster Linie Lermontows bekanntes Gedicht über die Schlacht bei Borodino in den Sinn, dann der Bruder Andres und endlich der alte Herr Bystryi mit seinen bebrillten Augen, dem vornübergebeugten Körper und dem dünnen Halse, der den großen Kopf trug wie eine schwankende Sonnenblume.

Der Soldat starrte Indrek mit weit aufgerissenen Augen stumm an. Erst nach einer Weile murmelte er verständnislos:

»Das heißt, wie denn das?«

»Ganz einfach – ich gebe Ihnen siebenundvierzig Rubel«, wiederholte Indrek.

In den Augen des Soldaten blitzte heiße Freude auf, und im nächsten Moment lag er auch schon zu Indreks Füßen und stammelte:

»Mein Heiland, mein Erretter!«

»Stehen Sie auf und nehmen Sie das Geld«, sagte Indrek, »ohnehin haben Sie schon eine Menge Zeit vertrödelt.«

»Heute kann ich mich sowieso nicht mehr in der Kaserne melden«, versetzte der Soldat, indem er wieder neben Indrek auf der Treppenstufe Platz nahm. »Schon unterwegs überlegten wir mit den Kameraden, wie ich zu retten wäre. Außer mir waren noch fünf Mann aus der Kompanie losgezogen und werden, einige morgen, einige übermorgen, sich wieder melden. So haben wir es auch schon früher gemacht und erklärt, wir hätten uns irgendwo vergnügt. Dafür gibt es einige Tage Arrest, nicht über fünf. So daß also alles in bester Ordnung ist, wenn ich nur das Geld habe und vom Gendarmen die Waffen kaufen kann – nur Arrest gäbe es für mich in diesem Falle.«

Nun zählte Indrek fünfzig Rubel von den ihm als Kassierer anvertrauten Revolutionsgeldern dem Soldaten in die Hand, der seine Rechte erhaschte und, sie immer und immer wieder mit Küssen bedeckend, ausrief:

»Mein Heiland, mein Erretter! Zweiter Vater meiner Kinder! Ich werde ihnen das schreiben ...«

»Um Gottes willen, lassen Sie das«, rief Indrek erschrocken, »der Brief könnte geöffnet werden, und dann wären wir beide verloren.«

»Richtig, richtig, Herr«, pflichtete der Soldat Indrek bei. »Aber dann werde ich es ihnen später schreiben, wenn das alles längst vorüber und in Vergessenheit geraten ist, oder ich erzähle es ihnen mal mündlich und sage ihnen, sie sollten nie vergessen, auch für den zu beten, der ihren Vater gerettet habe. Und wenn ich mit meiner Frau noch Kinder haben sollte, dann sollen auch die für Sie beten lernen, beten bis an ihr Lebensende.«

»Bedenken Sie eins«, unterbrach Indrek diesen Wortschwall der Dankbarkeit, »es ist fremdes Geld, das ich Ihnen gebe, Geld, für das ich Verantwortung trage.«

»Herr des Himmels!« rief der Soldat erschrocken, »was soll denn daraus werden?«

»Das weiß ich selbst noch nicht«, versetzte Indrek, »aber irgendwie werde ich mich schon einrichten, denn ich habe weder Frau noch Kinder.«

»Aber Sie haben doch Eltern und Geschwister?« fragte der Soldat.

»Das natürlich«, sagte Indrek, »und eben gegen diese wird man sie vermutlich schicken, denn sie leben auf dem Lande.«

»Im Namen Jesu Christi, meines Heilandes, schwöre ich, niemals meine Hand gegen Ihre Verwandten oder Freunde zu erheben, mag mit mir geschehen, was da wolle«, rief der Soldat, ein Kreuz schlagend.

»Sie übertreiben«, sagte Indrek, »meine Tat ist das nicht wert. Aber um eines würde ich Sie wohl bitten, Genosse: behalten Sie das selbst im Auge, und geben Sie es auch Ihren Kameraden weiter: wenn Sie aufs Land gegen die Bauern geschickt werden mit der Erklärung, das seien Revolutionäre und Aufständische, dann mögen Sie wissen, daß das nicht wahr ist, die Bauern sind keine Umstürzler, sondern die friedlichsten Leute von der Welt, die nur wünschen würden, daß nicht alle Pflichten nur auf ihren Schultern lasten und die Gutsbesitzer nur die Rechte genießen.«

»Also man schickt uns hierher, um die Gutsbesitzer zu schützen?« fragte der Soldat.

»Jawohl, weil Sie die Gutsbesitzer schützen sollen, darum können Sie nicht nach Hause zu den Ihrigen, sondern mußten aus dem Kriege gegen die Japaner direkt hierherkommen. Die Gutsbesitzer und ihre Schleppenträger beklagen sich beim Zaren über einen angeblichen Aufstand, um auf diese Weise die Möglichkeit zu erhalten, die Bauern noch schwerer zu bedrücken.«

»Keine Sorge«, sagte der Soldat, »ich werde das im Auge behalten und auch den anderen erklären. Ich bin gar nicht so dumm, wie Sie vielleicht glauben, denn ich verstehe zu lesen und zu schreiben, schon mein Vater verstand es.«

Während dieser Unterhaltung hatte der Soldat die ganze Zeit über das Geld in seinen Händen hin und her gedreht und betrachtet, als könne er ganz und gar nicht an sein Glück glauben und müsse sich daher von diesem immer und immer wieder durch den Augenschein überzeugen.

»Stecken Sie das Geld ein«, befahl Indrek.

»Aber hier sind ja drei Rubel zu viel«, erwiderte der Soldat.

»Die können Sie mir später abgeben«, sagte Indrek.

»Nein, das geht nicht«, meinte der Soldat, »denn was später aus mir wird, kann kein Mensch wissen. Vor allem werde ich in den Arrest gesteckt werden, und dann wird man mich vielleicht gleich irgendwohin abschieben. Ja, wenn Sie mir Ihre Adresse geben wollten ...«

»Mir dann zu schreiben, wäre wohl nicht sehr klug«, sagte Indrek. »Man könnte Ihnen aufpassen, allen, die heute aus der Kompanie ausgerückt sind.«

Schließlich wurde diese ganze Frage in der Weise erledigt, daß Indrek im nächsten Zeitungskiosk einen Fünfrubelschein wechselte, so daß er dem Soldaten die genaue Summe übergeben konnte. Nun hätten die beiden sich ja wohl füglich trennen können, aber der Soldat stand noch immer unschlüssig da, verlegen von einem Fuß auf den andern tretend, als habe er noch irgend etwas auf dem Herzen. Endlich fragte er:

»Werde ich Sie denn niemals wiedersehen?«

Indrek dachte ein Weilchen nach und sagte dann:

»Wissen Sie was: Ihr Name war doch Timofei, nicht wahr? Wenn Sie diese ganze Geschichte glücklich hinter sich haben, dann kommen Sie doch wieder mal hierher in die Redaktion und fragen Sie nach Timofei, dann werden wir uns schon noch mal sehen können. Verstanden? Einfach Timofei und weiter nichts. Werden Sie das behalten?«

»Aber natürlich«, versicherte der Soldat eifrig, »also ich soll nach mir selbst fragen.«

»Ganz recht«, lächelte Indrek, »fragen Sie nach sich selbst.«

Dann reichten sie sich nochmals die Hand, und der Soldat verschwand, während Indrek noch eine Weile im Vorhaus verweilte, bevor er auch ins Freie trat. Aber er hatte nur wenige Dutzend Schritte auf der schmutzigen Straße gemacht, als er sein Herz pochen fühlte, erst leise, dann immer heftiger und heftiger, bis dieses Pochen wie ein sanftes Zittern durch seinen ganzen Körper floß. War es die Furcht vor den Folgen seiner Tat oder die glückliche Erregung des Bewußtseins, vor keiner Verantwortung zurückgeschreckt zu sein, um ein Menschenleben zu retten? Er wußte nicht, was es war, aber es tat ihm so wohl, einsam durch die düsteren schmutzigen Gassen dahinzuwandern, in denen die wenigen Gaslaternen wie glühende Nebelbälle in der feuchten Luft hingen, mit einem hellen Kern, der nach der Peripherie hin immer mehr verblaßte, bis er mit der ihn umgebenden Dunkelheit in eines zusammenfloß.


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