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8. Das Grüdersche Haus

Nach den vielen schönen Erlebnissen meines ersten Tages in Kopenhagen stand ich nun wieder vor dem Hause Nr. 64 in der Breitstraße, wo ich jetzt, vielleicht für lange Zeit, wohnen sollte.

Gunnar öffnete die kleine Hoftür und ließ zuerst Herrn Gisli Brynjúlfsson eintreten. Drinnen im Haus, wo ich am Vormittag so unerwartet dem Herrn Dr. Grüder begegnet war, führte er uns sogleich die Treppe hinauf in den zweiten Stock und geleitete uns dort zu einer Tür, auf der die Worte Hermann Grüder standen.

»Hier wohnt der Herr Doktor«, sagte er.

Der Professor läutete.

Nach wenigen Augenblicken kam durch eine Nebentür zur Linken eine ältere Dame heraus und fragte höflich, was wir wünschten. Der Herr Professor reichte ihr seine Karte hin und bat, sie Herrn Dr. Grüder zu übergeben.

Nicht lange darauf erschien Herr Grüder selbst in der Türöffnung mit der Karte des Professors in der Hand.

»Herr Professor Brynjúlfsson!« rief er auf das liebenswürdigste, »treten Sie, bitte, ein.«

Gunnar und ich folgten.

Herr Grüder führte uns zunächst durch einen kleinen Salon, in dem viele Bücherschränke standen. An den Wänden hingen überall, wo nur Platz dafür war, eine Menge Bilder und Gemälde. Nahe bei der Tür, wo wir eintraten, stand ein großes Piano.

Dann ging es weiter in ein zweites Gemach, das zugleich Empfangs- und Arbeitszimmer zu sein schien. Auch hier waren eine Anzahl von Büchern und Gemälden zu sehen, kleine Statuen, Kunstwerke und Schmucksachen aller Art.

Der ganze Boden bestand aus einer kostbaren Masse, worauf schöne Verzierungen und rote und blaue und goldene Blumen gemalt waren.

Unter den Gemälden an der Wand sah ich zu meinem größten Erstaunen ein überaus merkwürdiges, geheimnisvolles Bild in einem breiten, goldnen Rahmen. Von der Seite her gesehen, stellte es eine schöne Landschaft dar. Als ich aber ein paar Schritte weiterging und gerade vor dem Bilde stand, da war die Landschaft verschwunden! An ihrer Stelle sah man in demselben Rahmen ein neues Bild: den Kalvarienberg und Christus am Kreuze! Und noch weiter, auf der andern Seite, da war nichts mehr von den beiden ersten Bildern zu sehen, sondern ein drittes Bild, das von den andern ganz verschieden war!

Mir kam das wie eine Zauberei vor.

Während die beiden Herren lebhaft miteinander sprachen und niemand auf mich achtete, ging ich rasch zweimal hin und her an dem geheimnisvollen Bilde vorbei, um zu sehen, ob ich mich nicht getäuscht habe. Das war aber nicht der Fall: es waren wirklich drei ganz verschiedene Bilder auf ein und derselben Bildfläche.

Ich war so überrascht und erstaunt, daß ich hätte glauben mögen, ich sei in einen der Wunderpaläste von »Tausendundeine Nacht« geraten.

Dies Zauberwerk, dachte ich, muß mir später Gunnar erklären; jetzt war keine Zeit dafür, denn es wurden Stühle angeboten zum Platz nehmen.

Als wir uns gesetzt hatten, klingelte Herr Grüder. Sogleich erschien die alte Dame wieder. Herr Grüder sagte ihr etwas, und nach einer Weile brachte sie Wein und süßes Backwerk herein.

»Wir müssen doch die Ankunft unseres neuen Gastes feiern!« begann jetzt freundlich lächelnd Herr Grüder, indem er von dem Wein in die Gläser einschenkte.

Ich war darüber nicht wenig erstaunt, überall, wo ich hinkam, bereitete man mir einen festlichen Empfang, und alle Menschen überboten sich in Freundlichkeiten gegen mich.

Gleich darauf erhob Herr Grüder sein Glas, wandte sich zu mir und sagte:

»Willkommen in meinem Hause, kleiner Freund!«

Ich wurde ein wenig verlegen, denn ich wußte nicht recht, was ich jetzt tun sollte. Da flüsterte Gunnar mir schnell ins Ohr, ich müsse etwas antworten und auch mein Glas in die Hand nehmen.

Ich stand auf, nahm das Glas und sagte zu meinem neuen Hausherrn:

»Ich danke Ihnen vielmals, Herr Doktor, für den freundlichen Empfang.«

»Gut so, Nonni«, bemerkte lächelnd der Herr Professor, »das war eine ganz nette kleine Rede von dir.«

Nachdem wir an den Gläsern ein wenig genippt hatten, fingen die beiden Herren ein Gespräch an, das sich zum größten Teil um Gunnar und mich und unsere Reise nach Frankreich drehte. Mir hörten daher beide aufmerksam zu.

»Herr Doktor«, hub der Professor an, »ich habe von der Mutter meines kleinen Landsmannes einen Brief erhalten. Sie bittet mich, ihren Sohn zu Ihnen zu bringen und ihr dann mitzuteilen, wie es sich mit seiner Reise nach Frankreich und mit seinem Aufenthalt hier in Kopenhagen verhält. Ich darf mir also wohl einige Fragen erlauben?«

»Aber herzlich gern, Herr Professor! Es wird mich freuen, Ihnen alle Aufklärung zu geben, soweit ich es vermag.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Doktor. – Zunächst, wann glauben Sie, daß der Knabe voraussichtlich nach Frankreich reisen kann?«

»Das wird vor Beendigung des deutsch-französischen Krieges wohl kaum gehen, Herr Professor. Ich würde es unter keinen Umständen wagen, ihn reisen zu lassen, solange Nordfrankreich von den preußischen Truppen besetzt ist.«

»Das ist auch meine Meinung, Herr Doktor. Also wird er wohl bei Ihnen wohnen müssen, bis der Krieg zu Ende ist.«

»Ich denke, ja. Der französische Graf de Foresta, der die beiden Knaben zu sich nach Avignon eingeladen hat, schrieb mir vor kurzem einen Brief. Er bittet mich, seine kleinen Isländer bei mir zu behalten bis nach dem Kriege.«

»Kennen Sie diesen französischen Grafen näher, und wissen Sie, was für ein Mann er ist, Herr Doktor?«

»Persönlich kenne ich ihn nicht. Ich weiß nur, daß das Geschlecht der Grafen de Foresta ein vornehmes französisches Adelsgeschlecht ist. Ein Graf de Foresta hat eine Rolle gespielt am Hofe des französischen Königs Karl X. Auch weiß ich, daß der Graf, der die Knaben zu sich eingeladen hat, ein sehr vermögender und sehr geachteter, angesehener Mann ist.«

»Aus welchem Grunde mag er wohl die beiden isländischen Knaben nach Frankreich eingeladen haben?«

»Er hat eine besondere Vorliebe für Island, Herr Professor. Er hat isländische Literatur und Geschichte studiert und sich dabei für Land und Leute begeistert. Darum will er jetzt die zwei Knaben nach Frankreich kommen lassen, um auch auf diese Weise sein Wohlwollen für Island zu betätigen.«

»Das ist allerdings edel von ihm.«

»Ganz gewiß, Herr Professor. Ich zweifle nicht im geringsten, daß er den beiden Jungen alles Gute erweisen wird.«

»Wird er sie wohl studieren lassen?«

»Ja, das ist seine Absicht. Es sollen daher auch nur Knaben sein, welche Lust und Fähigkeit zum Studieren haben. Er wird dafür sorgen, daß sie in Avignon oder anderswo in Frankreich an ein gutes Gymnasium kommen und auf seine Kosten dort erzogen werden. Sie sollen die gleiche Ausbildung erhalten wie die Kinder vornehmer Eltern.«

»Läßt er dann den Jungen volle Freiheit, oder müssen sie ihm gegenüber irgendwelche Verpflichtungen auf sich nehmen?«

»Sie bleiben vollständig frei, Herr Professor. Sie können zu jeder Zeit wieder nach Island zurückkehren, wenn es ihnen in Frankreich nicht gefällt.«

»Wenn sie aber ihre Studien in Frankreich vollendet haben, was wird dann aus ihnen werden?«

»Dann können sie nach Belieben einen Beruf wählen, entweder in Frankreich, oder wenn sie wollen, wieder in Island.«

»Das ist aber wahrlich ein edles und schönes Angebot, Herr Doktor. – Was meinst du dazu, mein kleiner Nonni?«

»Ich meine das auch, Herr Professor, und meine Mutter hat es auch gesagt. Ich habe deshalb die Einladung gleich angenommen.«

Professor Brynjúlfsson wandte sich wieder an Herrn Grüder und fuhr fort:

»Herr Doktor, Ihre Mitteilungen haben mich überzeugt, daß die Knaben, wenn sie einmal in Frankreich sind, in jeder Weise gut aufgehoben sein werden. Einstweilen sind sie ja noch in Ihren Händen. Ich kann also der Mutter meines kleinen Schutzbefohlenen nur das Beste schreiben. Ich danke Ihnen sehr, Herr Doktor.«

Herr Grüder erwiderte:

»Solange die Knaben in meinem Hause sind, Herr Professor, können Sie jederzeit persönlich Ihren Schützling sehen. Es wird mich freuen, wenn Sie mir bald wieder die Ehre geben wollen.« –

Während die beiden Herren so über mich und meine Zukunft sprachen, saß ich ganz still da und hörte mit immer größerer Aufmerksamkeit zu. Ich war aufs tiefste gerührt über all das Glück, das mir ohne mein Zutun in den Schoß gefallen war. Meine Zukunft schien mir immer lichter und sonniger zu werden. Ich glaubte jetzt wieder von neuem, daß Gott mich in seiner Hand hielt und auf meinem eigenartigen Lebensweg mich voranführte.

Dies war sozusagen der Kernpunkt meiner damaligen religiösen Überzeugung. Im festen Vertrauen auf diese mächtige Führung ging ich frisch und fröhlich meiner Zukunft entgegen, mochte sie auch immer noch geheimnisvoll für mich sein. –

Mittlerweile erhob sich Professor Brynjúlfsson und sagte:

»Herr Doktor, nun ist es aber schon spät geworden. Ich habe Sie lange gestört.«

»Für mich ist es nicht zu spät, Herr Professor. Aber Sie haben noch den weiten Weg nach Hause; ich möchte Sie deshalb nicht länger zurückhalten. Doch ich rechne darauf, daß ich bald wieder das Vergnügen haben werde, Sie bei mir zu sehen.«

»Gewiß, Herr Doktor, mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich wiederkommen und mich nach meinem kleinen Freund umsehen.«

Als Professor Brynjúlfsson sich schon zum Gehen anschickte, sagte Herr Grüder zu ihm:

»Einen Augenblick, Herr Professor, haben Sie vielleicht noch Zeit. Da Sie bald an die Mutter des kleinen Nonni schreiben, so wird es Sie gewiß auch interessieren, zu sehen, wie der Junge hier wohnt. Wir können sofort, wenn es Ihnen angenehm ist, einen Blick in das Zimmer werfen, das ich den beiden Knaben angewiesen habe; es ist gleich oben im nächsten Stock.«

»Sehr gern, Herr Doktor.«

Herr Grüder ging mit uns wieder durch die beiden Zimmer, wo wir hereingekommen waren, und führte uns dann die Treppe hinauf.

Im obern Gang zeigte er erst nach links und sagte:

»Hier wohnen zwei junge Doktoren, Herr Böhmer und Herr Diessel. Sie sind erst seit kurzer Zeit in Kopenhagen.«

»Und hier«, fuhr er fort, indem er eine Tür rechts von der Treppe öffnete, »ist das Zimmer der beiden Knaben.«

Wir traten zunächst in einen kleinen Vorraum. Dann kam eine zweite Tür. Diese führte in unser Zimmer hinein.

Gunnar mußte vorausgehen und rasch auf seinem Tisch die kleine Paraffinlampe anzünden.

»Ein reizendes Stübchen!« rief der Professor aus, als er in das freundliche kleine Zimmer hineintrat. »Da wohnen ja meine beiden Isländer wie kleine Prinzen! – Nonni, das werde ich alles deiner Mutter schreiben.«

Es war in der Tat ein hübsches, nettes Stübchen. Zwei Betten, zwei kleine Tische, ein paar Stühle, ein Schrank, ein Waschtisch und ein Ofen bildeten die Einrichtung, dazu ein Spiegel an der Wand und einige schöne Bilder; also für zwei kleine Studentchen alles, was man sich wünschen konnte.

Vor meinem Bett stand schon mein Koffer; ein Matrose des »Valdemar von Rönne« hatte ihn vom Schiffshafen hergebracht. Darin war meine ganze bewegliche Habe eingeschlossen.

»Ich hoffe, Kleiner,« wandte sich jetzt Herr Grüder an mich, »daß du dich bald an dein neues Heim gewöhnen wirst.«

»Das wird ihm sicher nicht schwer fallen«, bemerkte der Herr Professor, der nun mit der Besichtigung des Zimmers fertig war. – »Doch gestatten Sie mir noch eine Frage, Herr Doktor: Wo werden die Knaben ihre Mahlzeiten einnehmen?«

»Sie werden selbstverständlich mit mir und den beiden jungen Doktoren gemeinsam speisen, Herr Professor. Ihre Kost wird genau die gleiche sein wie die unsrige.«

Der Professor dankte Herrn Grüder und sagte, er werde auch das meiner Mutter schreiben. Dann wünschten die beiden Herren uns gute Nacht und gingen. –

Gunnar und ich waren jetzt zum erstenmal allein auf unserm Zimmer.

Wir setzten uns, ein jeder an seinen Tisch, rückten unsere Stühle etwas näher zusammen und fingen an, über unsere bisherigen Erlebnisse und unsere merkwürdige Zukunft zu plaudern.

Gunnar erzählte mir, daß seine Reise von Island nach Kopenhagen viel kürzer gewesen sei als die meinige. Kaum zwei Wochen habe sie gedauert. Das Schiff, mit dem er gefahren, sei auch viel größer gewesen als der »Valdemar von Rönne«, und es habe keine besonderen Gefahren auszustehen gehabt.

»Dafür war aber meine Reise viel großartiger!« bemerkte ich.

Gunnar lachte. »Für dich vielleicht«, sagte er, »weil du so ein kleiner Abenteurer bist. Aber wenn die Eisbären dich gefressen hätten, dann wäre es wohl nicht mehr so großartig gewesen! Sei nur froh, daß du hier bist. Kopenhagen ist eine sehr schöne Stadt. Und alle unsere Hausgenossen sind überaus liebenswürdig.«

»Ich habe bis jetzt nur den Herrn Dr. Grüder kennengelernt«, erwiderte ich. »Wann kann ich wohl die beiden andern Doktoren begrüßen?«

»Ja, richtig, Nonni! Das habe ich ganz vergessen. Das kannst du eigentlich gleich jetzt tun; nur mußt du es kurz machen, denn die Herren legen sich bald schlafen. Komm, wir wollen gleich einmal hinübergehen.«

Wir standen auf und gingen auf den Gang hinaus. Gunnar führte mich an die Tür, über welcher der Name Dr. Böhmer stand.

»Hier wohnt der jüngere«, sagte Gunnar. »Er ist erst vierundzwanzig Jahre alt. Du mußt ›Herr Doktor‹ zu ihm sagen, wie auch zu dem andern nachher.«

Gunnar klopfte an.

»Herein!«

Gunnar machte die Tür auf und rief ins Zimmer hinein:

»Herr Doktor, ich bringe Ihnen einen kleinen Landsmann von mir.«

Drinnen im Zimmer saß ein schlanker junger Herr am Arbeitstisch und schrieb bei dem Schein einer prächtigen Öllampe, die von einer großen grünen Glaskugel überwölbt war. Ich ging rasch zu ihm hin, machte eine Verbeugung und sagte:

»Guten Abend, Herr Doktor, ich wollte Sie nur begrüßen.«

Der junge Herr schaute mich an und erwiderte freundlich, indem er mir die Hand reichte:

»Wer bist du denn, mein Freund? Und wie heißt du?«

»Ich bin der Knabe aus Island, der hier wohnen soll.«

Jetzt ergriff der junge Doktor meine beiden Hände, schüttelte sie kräftig und sagte:

»Der Knabe aus Island bist du! – Das freut mich aber! Wir haben schon lange auf dich gewartet! So, nun bist du endlich da! Das ist schön! – Doch deinen Namen hast du mir noch nicht gesagt. Ich habe ihn zwar schon gehört – wie heißt du doch wieder, mein Kleiner?«

»Ich heiße Nonni, Herr Doktor.«

»Nonni! – Richtig! Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. – Und nun, da der kleine Nonni selber da ist, werde ich den Namen schon besser behalten. Ist Nonni dein Vorname, oder ist es dein Familienname?«

»Es ist mein Kindername, Herr Doktor. Ich werde Nonni genannt, solange ich noch klein bin.«

»Und dein Familienname?«

»In Island hat man keine Familiennamen, Herr Doktor. Wenn ich groß bin, dann wird mein Name Jón Svensson sein.«

»Dann werde ich dich lieber mit deinem Kindernamen nennen. Nonni ist kürzer und leichter zu behalten als Jón Svensson.«

»Das habe ich auch viel lieber, Herr Doktor, denn so bin ich bis jetzt immer genannt worden. Meine Mutter und meine Geschwister haben immer Nonni zu mir gesagt.«

»Gut, kleiner Nonni, du bist ein richtiger Junge. – Und wie geht es dir denn?«

»Es geht mir sehr gut, Herr Doktor. In Kopenhagen ist es sehr schön. Ich habe heute schon vieles gesehen: auch den Runden Turm. Aber ich werde Ihnen das später erzählen; jetzt darf ich Sie nicht so lange aufhalten, hat Gunnar gesagt.«

»Das ist aber aufmerksam von dir, mein Lieber. Du hast recht, es ist schon spät, und du mußt auch bald schlafen gehen; du bist sicher müde geworden den ganzen Tag in der Stadt.«

Ich gab dem liebenswürdigen jungen Herrn die Hand und sagte:

»Gute Nacht, Herr Doktor, auf Wiedersehen!«

»Gute Nacht, lieber Nonni. Dein Besuch hat mich sehr gefreut. Schlaf nun recht wohl die erste Nacht hier. Morgen dann auf Wiedersehen!«

Ich verbeugte mich und ging hinaus.

Die Begrüßung des Herrn Dr. Diessel, der im nächsten Zimmer nebenan wohnte, dauerte nur ganz kurz. Auch er saß gerade an seinem Arbeitstisch. Er sah ebenso jung aus wie Dr. Böhmer und war ein sehr schöner Mann mit rabenschwarzem Kraushaar. Seine Gesichtsfarbe war etwas blaß.

Ich grüßte ihn wie vorher den Herrn Dr. Böhmer und wurde ebenso freundlich von ihm empfangen. Aber er war sehr ruhig und gemessen, ja fast schüchtern, wie mir schien. Als ich ihm die Hand gab, drückte er mir nur meine Fingerspitzen. Er schaute mich auch nur ein paarmal an, die übrige Zeit hielt er die Augen gesenkt.

Ich bekam den Eindruck, daß er ein in sich gekehrter, sehr bescheidener Herr sein müsse. Als ich wieder aus dem Zimmer ging, sagte er:

»Guten Abend. Gott segne dich, mein Junge.«

Auf dem Gang draußen sagte ich zu Gunnar:

»Der muß ein gottesfürchtiger Mann sein.«

»Ja, das ist er. Aber die andern sind es alle auch.«

Jetzt führte mich Gunnar in den zweiten Stock hinunter.

Dort, sagte er, wohnten die Haushälterin und das Dienstmädchen, die müsse ich ebenfalls kurz begrüßen.

»Wie heißen sie?« fragte ich.

»Die Haushälterin ist eine Dänin und heißt Valentin. Du mußt immer ›Madame Valentin‹ zu ihr sagen, jedesmal wenn du sie ansprichst. Das Dienstmädchen heißt Maria. Sie ist eine Deutsche und kann noch gar kein Dänisch. Zu ihr brauchst du nur ›Maria‹ zu sagen, denn sie ist noch ganz jung.«

Ich wiederholte einige Male für mich »Madame Valentin« und »Maria«, um die Namen und den Titel nicht zu vergessen.

Gunnar führte mich am Zimmer des Herrn Dr. Grüder vorbei bis zum Ende des Ganges. Dort links waren vier Stufen, die zu einer etwas erhöht gelegenen Tür hinaufführten.

»Das ist die Küche«, sagte Gunnar. »Wir wollen einen Augenblick hineingehen.«

»Wohnt denn die Haushälterin in der Küche?«

»Das gerade nicht: aber dort ist sie gewöhnlich zu finden.«

Wir gingen die vier Stufen hinauf, und Gunnar klopfte wieder an.

Sofort wurde die Tür von innen geöffnet, aber nur ein wenig. Ein kräftiges junges Mädchen mit starkem, kastanienbraunem Haar steckte den Kopf in die Türspalte und schaute zu uns heraus.

Gunnar, der schon ein klein wenig Deutsch gelernt hatte, sagte ihr ein paar für mich ganz unverständliche Worte und zeigte dabei auf mich.

Das Mädchen machte jetzt die Tür vollends auf und ließ uns hineinkommen. Sie reichte mir gleich die Hand und grüßte mich ungewöhnlich lebhaft und herzlich, obwohl ich ihr noch vollständig fremd war. Dazu sagte sie etwas, was aber in meinen Ohren ungefähr wie Chinesisch klang.

Da ich kein Wort davon verstand, begnügte ich mich, bei allem, was sie sagte, ihr munter zuzunicken.

Auf einmal deutete sie mit der Hand gegen mich, und an dem Ton ihrer Stimme konnte ich merken, daß sie eine bestimmte Frage an mich richtete.

In meiner Hilflosigkeit nickte ich ihr wieder freundlich zu. Diesmal schien sie aber damit nicht mehr zufrieden zu sein. Ich wandte mich daher an Gunnar und fragte ihn, was sie wolle.

»Sie fragt dich nach deinem Namen«, sagte er.

Jetzt wandte ich mich wieder rasch zu ihr hin und nannte ihr wiederholt meinen Namen. »Nonni – Nonni –«, sagte ich und zeigte mit der Hand auf mich selber, um anzudeuten, daß ich der Nonni sei.

Das verstand sie sofort.

»Ah! Nonni! Nonni!« wiederholte sie.

Dann legte sie die Hand auf ihre Brust und sagte:

»Maria! Maria!«

Zu ihrer Freude sprach ich nun mehrere Male auch ihren Namen aus, damit sie merken konnte, daß ich sie jetzt verstanden habe.

Schließlich machte Gunnar dem etwas mühsamen Gespräch ein Ende, indem er das Mädchen fragte:

»Maria, wo ist Madame Valentin?«

»Ja, ja, Madame Valentin!« erwiderte sie und lief eiligst zur Küche hinaus.

»Sie will Madame Valentin holen«, sagte Gunnar.

Bald darauf kam in Begleitung des deutschen Mädchens eine würdige, ältere Matrone zu uns in die Küche herein.

»Das ist Madame Valentin!« flüsterte Gunnar mir zu.

Ich ging sofort zu ihr hin, gab ihr die Hand und sagte mit einer Verbeugung:

»Guten Abend, Madame Valentin. Ich komme von Island und heiße Nonni und soll hier wohnen.«

»So, du bist der kleine Nonni? Willkommen, mein Freund! Ich habe schon von dir gehört. Ich hoffe, daß wir gut miteinander auskommen werden. – Bist du schon auf deinem Zimmer gewesen?«

»Ja, Madame Valentin. Ich komme eben von droben herunter.«

»Wie gefällt dir das Zimmer?«

»Es ist sehr schön, Madame Valentin, und ich bin froh, daß ich mit Gunnar zusammen wohnen darf.«

»Ja, Gunnar ist ein guter Junge, er hat uns bis jetzt immer Freude gemacht. Sicher wirst du das auch tun.«

»Ja, das will ich, Madame Valentin. Aber jetzt möchte ich Sie nicht länger stören; ich habe Sie nur begrüßen wollen. Guten Abend, Madame Valentin.«

Damit wandte ich mich um und wollte hinausgehen. Doch Madame Valentin hielt mich noch einen Augenblick zurück. – »Das Mittagessen ist um 12 Uhr und das Abendessen um 8 Uhr«, sagte sie. »Vergiß das nicht, kleiner Freund. – Nicht wahr, Gunnar, du sorgst dafür, daß Nonni immer pünktlich zu den Mahlzeiten da ist?«

Gunnar versprach es ihr. Dann kehrten wir auf unser Zimmer zurück und setzten uns wie vorher ein jeder an seinen Tisch, um noch ein wenig zu plaudern.

Da fiel mir auf einmal wieder das Zauberbild ein, das mich unten im Zimmer des Herrn Grüder so sehr in Staunen versetzt hatte. Ich dachte, Gunnar wird es mir sicher erklären können. Ich sagte deshalb zu ihm:

»Gunnar, ich habe unten im Zimmer des Herrn Grüder ein merkwürdiges Bild gesehen. Da sind drei verschiedene Gemälde in ein und demselben Rahmen und auf derselben Bildfläche. Wie ist denn das möglich?«

»So, hast du das auch schon bemerkt?« erwiderte Gunnar lachend. »Du hast aber gute Augen, Nonni, und du scheinst sie nicht in die Tasche zu stecken.«

»Warum sollte ich auch meine Augen in die Tasche stecken! Das Bild ist mir sogleich aufgefallen. Nun sag mir, wie verhält es sich damit? Wie können da drei verschiedene Gemälde an ein und derselben Stelle sein?«

»Das ist ganz einfach, Nonni. Ich will es dir erklären. Ob du es aber verstehst, das ist eine andere Frage. – Diese Art von Bildern werden jetzt viel in Deutschland gemacht. Da wird zuerst ein Bild auf die Leinwand gemalt, so wie gewöhnlich. Das ist das Bild, welches du gesehen hast, als du gerade davor standest. Dann werden zwei andere Bilder auf eine ganz dünne Holztafel gemalt, das eine auf die Vorderseite, das andere auf die Rückseite der Tafel. Das sind die Bilder, die man von der Seite her sieht.«

»Aber Gunnar«, rief ich aus, »diese beiden letzteren Bilder waren doch an der gleichen Stelle wie das erste Bild auch!«

»Ja, jetzt kommt gerade das Geheimnis, Nonni. Paß auf! – Die dünne Holztafel mit den beiden letzteren Bildern, die ist genau so groß wie die Leinwand mit dem ersten Bild. Sie wird von oben nach unten in lauter schmale Stäbchen geschnitten. Diese Stäbchen sind so lang wie die Leinwand, aber nur so breit wie ein Finger und ganz dünn. Dann werden sie alle der Reihe nach senkrecht mit der Kante auf das Leinwandbild gesetzt, immer einen Finger breit voneinander entfernt. Die Kanten sind mit Leim bestrichen, damit sie festhalten. Dann kommt eine Glasscheibe darüber, und das Ganze ist fertig.«

Ich hörte gespannt auf Gunnars Erklärung, aber bis jetzt verstand ich nicht das geringste davon.

Gunnar fuhr fort: »Schaut man nun von der linken Seite her auf das Bild, dann sieht man auf allen Stäbchen zusammen das eine von den beiden Bildern, die auf die vordere und auf die hintere Fläche der dünnen Holztafel gemalt waren; und wenn man von der rechten Seite kommt, dann sieht man das andere Bild. – Verstehst du es jetzt, Nonni?«

»Nein, leider nicht«, antwortete ich etwas kleinlaut.

»Das macht auch nichts«, tröstete mich Gunnar. »Morgen erkläre ich es dir unten vor dem Bilde selbst noch einmal. Dann wirst du es mit Leichtigkeit verstehen.«

Ich war gerne damit einverstanden, denn ich war schon müde und schläfrig geworden und fing unwillkürlich an, sehnsüchtige Blicke nach der Zimmerecke zu werfen, wo mein schönes Bett mit einer im Lampenschein schimmernden roten Decke und einem blendendweißen Federkissen stand.

Ich erhob mich von meinem Stuhl und sagte kurzerhand: »Ich gehe jetzt schlafen, Gunnar.«

»Ja, geh nur, Nonni«, antwortete er. »Ich werde es auch bald so machen; ich will nur noch ein wenig lesen.«

Er stand auf, nahm einige Bücher und setzte sich wieder an seinen Tisch. Ich aber begann sogleich, meine Kleider abzulegen. Als ich damit fertig war und gerade ins Bett hineinschlüpfen wollte, erinnerte ich mich an die Ermahnung meiner Mutter, nie das Abendgebet und die Gewissenserforschung zu unterlassen.

Es wäre schlimm, dachte ich, wenn ich es gerade jetzt versäumen würde, wo ich in meinem neuen Heim zum erstenmal zur Ruhe gehe, besonders nach einem solchen Tag, an dem ich so viel Glück und Freude erlebt habe.

Ich kniete also rasch, so wie ich war, vor meinem Bett nieder.

Da auf einmal kam mir ein eigentümlicher Gedanke: Wenn mich jetzt Gunnar sieht, wird er dann nicht über mich lachen?

Ich fühlte mich dadurch so peinlich berührt, daß ich sofort wieder aufstand. – Ob ich diesmal nicht doch lieber das Beten unterlassen sollte? dachte ich.

In demselben Augenblick stand aber das Bild meiner Mutter wieder vor mir. Sie hatte so dringend gerade diesen Wunsch mir ans Herz gelegt. – Sollte ich den Wunsch meiner Mutter mißachten? – Nein, das darf ich nicht, gab ich mir selbst zur Antwort.

Ich überwand meine törichte Furcht, kniete entschlossen wieder auf den Boden vor das Bett hin und verrichtete in aller Stille mein gewöhnliches Abendgebet. Dann warf ich einen kurzen Rückblick auf den vergangenen Tag:

»O mein Gott!« so klang es in meinem Innern, »wie hast du mich doch heute mit Wohltaten überhäuft! Der Gang durch die Stadt mit Kapitän Foß, der Runde Turm und alles andere: wie ist es doch so wundervoll gewesen! Und wie lieb waren all die Menschen gegen mich! Und wie gut habe ich es hier in diesem Hause! – Ich danke dir, lieber Gott, dafür.«

Als ich mich dann fragte, welche Fehler ich im Laufe des Tages begangen hatte, da machte ich mir zum Vorwurf meinen hitzigen Kampf mit Karl auf den Wällen der Stadt. Es war ja eine richtige Rauferei gewesen, und ich hatte noch jetzt Beulen am Kopf und blaue Flecken im Gesicht. – Meine Mutter hatte mich oft vor solchen Schlägereien gewarnt, und Kapitän Foß und die alte Frau Brynjúlfsson hatten es auch getan. – Ich hätte mich vielleicht nicht so weit mit dem bösen Jungen einlassen sollen. – Aber ich hatte es ja gut gemeint und wollte nur dem kleinen Waldemar in seiner Not helfen. – Sollte das wirklich eine Sünde sein? – Nein, ich konnte es nicht recht glauben. – Auf alle Fälle aber bat ich Gott um Verzeihung, wenn ich dabei etwas Verkehrtes getan hatte, und ich nahm mir vor, in Zukunft vorsichtig zu sein und solche Schlägereien und alle bösen Buben zu meiden.

Dann flogen meine Gedanken noch den langen, langen Weg über das Meer nach Island hinüber, in mein trautes Elternhaus in Akureyri. Ich bat Gott ganz besonders, daß er meine liebe Mutter und meine Geschwister segnen und schützen möge.

Zuletzt schloß ich mit meiner gewöhnlichen Bitte: »O Gott, hilf mir, daß ich immer ein braver Knabe bleibe.«

Damit war meine Abendandacht zu Ende. Ganz leise stand ich auf und schlüpfte ins Bett hinein.

Gunnar hatte mich wahrscheinlich gar nicht gesehen, als ich betete. Er saß still an seinem Tisch und las eifrig in seinen Büchern. Ich rief ihm noch zu:

»Gute Nacht, Gunnar!«

»Gute Nacht, Nonni! Schlaf wohl!« antwortete er. Dann drehte ich mich gegen die Wand hin und schlief bald ein.


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