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Wir waren jetzt am Neuen Königsmarkt angelangt, wo das große Reiterdenkmal steht, das mich am Abend vorher in einen so gewaltigen Schrecken versetzt hatte. Ich hatte nämlich bis dahin noch nie in meinem Leben ein Denkmal gesehen und deshalb beim ersten Anblick des Standbildes geglaubt, daß Roß und Reiter da oben lebendig seien.
Rechts von uns, auf den Neuen Königsmarkt herausmündend, war die Breitstraße mit den vielen vornehmen Bauten und den Gesandtschaftspalästen. Sie lief kerzengerade weit, weit in die Ferne.
Ich blieb stehen und sagte zu Herrn Foß:
»In dieser Straße ist das Haus des Herrn Dr. Grüder, bei dem ich bis zu meiner Abreise nach Frankreich wohnen soll. Hier in meinem Notizbuch steht es geschrieben: es ist die Nummer 64.«
»Da hast du wohl gleich Lust, kleiner Freund, deine künftige Wohnung zu sehen?« bemerkte der Kapitän.
Ich war sofort dazu bereit. Herr Foß aber sagte, wir gingen jetzt noch nicht in das Haus des Herrn Grüder hinein, sondern würden es uns nur von außen einmal anschauen.
Ich war aufs höchste gespannt, was für ein Haus das wohl sein werde, in dem Herr Dr. Grüder wohnte und in dem nun auch ich wohnen sollte, wahrscheinlich bis zum Ende des großen deutsch-französischen Krieges.
Gewiß wird es ein sehr vornehmes Haus sein, dachte ich bei mir.
Die wehmütige Stimmung, von der ich eben noch ergriffen war, verschwand jetzt schon gänzlich. Ich beschäftigte mich in meinen Gedanken nur noch mit dem Grüderschen Hause und meinem zukünftigen Leben in der großen, herrlichen Breitstraße.
»Nonni, du sagst also, es ist die Nummer 64?« fragte Herr Foß, indem er zu den Hausnummern hinaufschaute.
»Ja, Herr Kapitän, so hat meine Mutter es mir aufgeschrieben.«
»Dann haben wir aber noch weit zu gehen. Die Nummer 64 muß ganz dort oben am andern Ende der Straße sein.«
»Das haben gestern auch die Matrosen gesagt«, bemerkte ich.
Während wir auf der linken Straßenseite weitergingen, fragte mich Herr Foß, ob ich im Hause des Herrn Grüder schon jemand kenne. Ich sagte nein; ich wisse nur von meiner Mutter, daß Herr Grüder ein sehr gelehrter Mann sei, und daß nur gelehrte Herren dort wohnten; sie seien keine Dänen, sondern lauter Deutsche, und es seien alle gute Menschen.
»Aber sie sind dir fremd, Nonni. Hast du da keine Angst?« sagte Herr Foß.
»O nein, ich habe gar keine Angst, Herr Kapitän! Ich glaube, es wird mir Spaß machen, zu diesen gelehrten deutschen Männern zu kommen und bei ihnen zu wohnen. Ich habe noch nie einen Deutschen kennengelernt; ich bin ganz gespannt darauf, einmal zu sehen, was für Menschen das sind!«
»So ein mutiger Junge bist du?« erwiderte der Kapitän, indem er ein wenig stehen blieb und lächelnd mich anschaute. »Ich weiß, Nonni, du bist ein lebhafter, munterer Knabe. Aber meinst du nicht, in dem fremden Hause, bei den ganz fremden Menschen könntest du Heimweh bekommen? – nach Island, nach Akureyri, nach deiner Mutter und deinen Geschwistern?«
Jetzt fühlte ich, daß meine Tapferkeit vielleicht doch nicht so groß sein würde, wie ich eben noch geglaubt hatte. Es wurde mir auf einmal ganz merkwürdig zumute. Ich konnte nicht mehr fröhlich plaudern.
Herr Foß bemerkte es und tröstete mich sogleich:
»Nun sei aber doch nicht traurig, Nonni! Ich habe das nur so gemeint. Du wirst es schön haben beim Herrn Dr. Grüder, deine Mutter hätte dich sonst gewiß nicht zu ihm geschickt. Du hast eine gute Mutter; denke nur oft an sie und an ihre Ermahnungen.«
»Ja, Herr Kapitän, das tue ich. Meine Mutter hat gesagt, Gott wird unter den fremden Menschen ebenso für mich sorgen wie zu Hause in Island.«
»Gewiß, Nonni, das darfst du sicher glauben; und es gibt auch überall Menschen, die gut sind. Es braucht dir also nicht bange zu sein. Wir sind ja auf dem Schiff auch gleich gute Freunde geworden …«
Da fiel ich ihm ins Wort und sagte, indem ich seine Hand ergriff:
»Ja, Herr Kapitän, und ich danke Ihnen, weil Sie immer so gut gegen mich waren, und weil Sie mir auch freie Rückfahrt nach Island angeboten haben. Der Herr Steuermann hat es mir schon erzählt. Aber ich habe gesagt, ich will jetzt doch in Kopenhagen bleiben.«
»Ich weiß es, Nonni«, erwiderte er. »Es ist auch am besten so, und wir können ja im Frühjahr wieder darüber sprechen.« –
Indessen waren wir bereits in die Mitte der Breitstraße gekommen. Bei einem Hause dort begegnete uns auf einmal etwas Seltsames.
Aus einer offenen Kellertür, wie ich glaubte, zu der eine kleine Treppe hinunterführte, wehte mir ein ganz eigentümlicher Duft entgegen, den ich mir am Anfang gar nicht erklären konnte. Es war aber darin etwas, das mich an die Äpfel des vorhergehenden Tages erinnerte, die ich nicht hatte essen können, weil ich noch nie in meinem Leben eine solche Frucht gekostet hatte.
Ich blieb stehen und schaute mit gespanntem Blick gegen die offene Tür hin. Da trat Herr Foß neben mich und sagte:
»Du hast wohl Lust, Nonni, ein wenig Obst zu essen?«
»O nein, Herr Kapitän, ich kann gar kein Obst essen, ich bin nicht daran gewöhnt. – Aber was ist denn das für ein Keller, und was ist das für ein merkwürdiger Duft, der da herauskommt?«
Herr Foß lachte. »Das ist doch kein Keller, Nonni!« »Das ist ja ein Obstladen! – und sogar einer von den feinsten!«
Neben der Tür war eine große Fensterscheibe, dahinter lag eine Menge kostbarer Früchte, rote und gelbe und violette und rosafarbige. Ein prachtvoller Anblick! Ich hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen.
Der Kapitän nannte mir die Namen der verschiedenen Fruchtsorten. Gerade vor uns, dicht an der Fensterscheibe, lagen auf farbigen, kunstfertig geformten Seidenpapierstreifen ganze Reihen von überaus prächtigen Birnen. Die gefielen mir ganz besonders, und ich dachte, es müßten wohl sehr gute Früchte sein.
»Weißt du, wie diese Birnen heißen?« fragte Herr Foß.
»Nein, Herr Kapitän.«
»Dann mußt du sie dir aber merken, Nonni«, fuhr er fort. »Das sind nämlich die besten Birnen, die es hier gibt. Man nennt sie ›Königinbirnen‹. Sie sind etwas teuer, aber sie haben einen wunderbaren Geschmack, und sie sind so weich, daß sie einem auf der Zunge schmelzen. – Hast du nicht Lust, eine zu probieren?«
Etwas zögernd gab ich zur Antwort: »Ich glaube, Herr Kapitän, daß ich Lust habe.«
»Wenn du das glaubst, Nonni«, sagte lächelnd Herr Foß, »dann wollen wir eine kaufen.«
Wir gingen die kleine Treppe hinunter in den Laden hinein. Herr Foß suchte die größte und schönste der Königinbirnen aus und gab sie mir in die Hand.
Als er sie dem Fräulein, das im Laden war, bezahlte, merkte ich, daß sie fast ebensoviel kostete wie zwei bis drei ganze Napoleonskuchen zusammen. Dies erhöhte meine Achtung vor der edlen Frucht noch bedeutend.
Ich hatte mich inzwischen mit der Birne in der einen Hand und dem Napoleonskuchen von Harald in der andern schon nach der Türe gewandt, um hinauszugehen, da hielt Herr Foß mich zurück. Er sagte zu dem Fräulein:
»Dieser Junge da ist ein Isländer, der noch nie in seinem Leben eine Birne gegessen hat. Dürfte er sie vielleicht hier essen?«
»Aber herzlich gern!« erwiderte das Fräulein und holte sofort ein Obstmesser und ein Tellerchen mit einem goldnen Rand herbei und lud mich ein, an einem kleinen marmornen Tischchen etwas weiter rückwärts in dem feinen Laden Platz zu nehmen. Dann stellte sie Birne, Teller und Messer vor mich hin.
Ich befand mich jetzt in einer peinlichen Lage. Da war alles so glänzend und vornehm, und ich wußte gar nicht, wie ich mich anschicken sollte.
Ratlos betrachtete ich die wunderschöne Birne auf dem Teller vor mir. – Wie sollte ich sie essen? – Ich hatte keine Ahnung davon!
Ich warf verlegene Blicke bald auf Herrn Foß und bald auf das Fräulein, die mich beide mit heiterer Miene ansahen.
»Der junge Herr ist also wirklich ein Isländer?« nahm das Fräulein nun wieder das Wort.
»Gewiß«, antwortete Herr Foß. »Wir sind gestern von Island hier angekommen, und wie Sie sehen, ist hier noch alles ganz neu für ihn.«
»Ja, ich sehe schon«, wandte das Fräulein sich jetzt freundlich zu mir; »ich glaube, ich muß dir helfen, junger Herr.«
Sie nahm das Messer und die Birne und schnitt die kostbare Frucht in zwei gleiche Teile. Sogleich wurde das reine, weiße Obstfleisch sichtbar, und ein heller, klarer Saft träufelte auf den goldgerandeten Teller hinab.
Ich war aufs höchste gespannt, wie das wohl weitergehen werde.
Das Fräulein nahm jetzt die eine Hälfte der Birne und teilte auch sie in zwei Teile. An dem einen Ende saß der Stiel. Sie faßte ihn und entfernte mit ein paar raschen Schnitten alles, was nicht gegessen werden sollte; nur den Stiel ließ sie daran. Dann legte sie die weiße Frucht auf den Teller, reichte ihn mir dar und sagte liebenswürdig nach dänischem Brauch:
»Sei so artig, kleiner Herr.«
Ich nahm zuerst das Stück mit dem Stiel, faßte es geradeso, wie ich eben das Fräulein hatte tun sehen, und obwohl ich noch immer ein wenig fürchtete, es könnte mir vielleicht wieder ergehen wie am Tage vorher mit den Äpfeln, die ich nicht hatte essen können, so führte ich doch – ganz langsam freilich und etwas feierlich ernst – die seltsame, mir völlig unbekannte Speise zum Mund.
Ich biß behutsam ungefähr die Hälfte des Stückes ab.
Zu meiner größten Überraschung fand ich, daß es gut schmeckte. Ja es schmeckte mir so gut, daß ich beim folgenden Bissen beinahe den Stiel auch mitgegessen hätte.
Die noch übrige halbe Birne versuchte ich jetzt gleichermaßen zu behandeln, wie das Fräulein es mit der ersten Hälfte gemacht hatte, und es gelang mir, bald damit fertig zu werden.
So hatte ich zum erstenmal in meinem Leben eine Birne gegessen – für mich ein wahres Ereignis! Und ich war nicht wenig stolz darauf, daß meine erste Birne eine »Königinbirne« war. –
Als das Fräulein im Gespräch mit dem Kapitän sich überzeugt hatte, daß ich in der Tat ein Isländer sei, fragte sie, während ich die Birne aß, Herrn Foß:
»Bleibt der Kleine hier in Kopenhagen?«
»Nur vorläufig«, antwortete Herr Foß; »er soll nach Frankreich gehen und dort studieren.«
Das Fräulein war darüber sehr erstaunt. – »Nach Frankreich?« sagte sie. »Aber er reist doch wohl nicht allein nach Frankreich?«
»Doch, Fräulein, ganz allein. Aber erst nach dem Kriege. Bis dahin bleibt er hier in Kopenhagen. Er wird sogar in dieser Straße wohnen, hier in nächster Nähe, Nummer 64.«
»In Nummer 64? Bei den deutschen Herren?«
»Ja, im Hause des Herrn Dr. Grüder. – Kennen Sie vielleicht diese Herren?«
»Nur dem Namen nach und vom Ansehen. Die Herren kommen öfters hier vorbei. Dr. Grüder ist ein älterer, würdiger Herr, den man sich leicht merkt; er geht immer glatt rasiert und trägt gewöhnlich einen dunkelblauen Rock. Die andern sind zwei junge deutsche Gelehrte, namens Dr. Diessel und Dr. Böhmer.«
Der Kapitän wandte sich jetzt zu mir und sagte lächelnd:
»Nonni, dann kommst du ja unter lauter Doktoren! Am Ende wirst du da auch ein gelehrter Herr Doktor!«
Das Fräulein und ich mußten lachen.
Währenddessen kam eine vornehme Dame zum Laden herein. Wir wollten daher nicht länger bleiben. Herr Foß dankte dem Fräulein für die freundliche Auskunft. Ich gab ihr die Hand und machte ihr eine Verbeugung. Dann traten wir zur Türe hinaus. –
Als wir weiter durch die Breitstraße gingen, schaute ich sogleich eifrig umher, ob ich nicht vielleicht irgendwo den Herrn Dr. Grüder sähe; denn so wie das Fräulein ihn beschrieben hatte, dachte ich, würde ich ihn wohl sicher erkennen und ihn begrüßen können. Es hätte mir Spaß gemacht, ihn plötzlich zu überraschen. Aber Herr Foß meinte, es wäre nur Zufall, wenn wir ihn gerade auf der Straße antreffen würden, ich solle lieber sonst meine Augen offen halten, damit nicht am Ende mir selbst in dem Straßenverkehr eine »Überraschung« zustoße!
Bald wurde ich auch durch neue Sehenswürdigkeiten von meinem Vorhaben, den Herrn Dr. Grüder zu entdecken, abgelenkt. Wir kamen jetzt an einem mächtigen Gebäude vorüber, an dem mit riesigen goldenen Buchstaben auf einer großen Wandfläche zu lesen stand: Hôtel Phénix, und darunter: Restaurant français.
Ich blieb stehen und rief erstaunt aus:
»Herr Kapitän, hier ist ja ein französisches Haus! Wie kommt dieses französische Haus hierher?«
Herr Foß erklärte mir, das sei kein französisches Haus, sondern ein dänisches; nur die Aufschrift sei französisch. In Städten, wo viele Fremde verkehren, sei es vielfach gebräuchlich, daß man die Gasthäuser mit französischen Namen bezeichne.
Gleich darauf sah ich zur Linken etwas ganz Merkwürdiges, einen noch viel größeren Bau, der aber in Trümmern lag: Riesenmauern ohne Dach, aus gewaltigen weißen Steinblöcken, die alle gleichmäßig zubehauen waren.
Voll Verwunderung fragte ich Herrn Foß:
»Wer hat denn diesen ungeheuern Bau so zerstört?«
»Den hat niemand zerstört, kleiner Freund.«
»Wie ist er aber dann zu einer solchen Ruine geworden?«
»Das will ich dir sagen. Diese ›Ruine‹, wie du meinst, ist die sogenannte Marmorkirche; es ist nur noch nicht gelungen, sie fertig zu bauen. Die Dänen wollten nämlich eine Kirche aus weißem Marmor haben, und sie sollte ähnlich wie die Peterskirche in Rom werden. Als man aber bis zum Dach gekommen war, hatte man kein Geld mehr, sie zu vollenden.«
Ich konnte nicht genug diese merkwürdige »Kirche« betrachten. Noch im Weitergehen schaute ich mehrmals nach den riesenhohen Mauern zurück und wunderte mich im stillen über die Kühnheit der Dänen, die aus weißem Marmor eine Kirche wie den Petersdom bauen wollten.