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Kreuz und quer durch Kopenhagen

1. Abschied vom »Valdemar von Rönne«

An einem sonnig-heiteren Herbsttage, Anfang Oktober 1870, landete ich in Kopenhagen, der glänzenden Hauptstadt Dänemarks.

Erst zwölf Jahre alt, war ich den langen, weiten Weg über den Atlantischen Ozean von meiner Heimatinsel Island hierher gekommen und sollte nun in einer für mich ganz fremden Welt ein neues Leben beginnen.

Fünf volle Wochen hatte meine Reise gedauert – von dem fernen Island droben im hohen Norden bis nach dem lieblichen Öresund, in dessen kristallklaren Wassern die stolze Großstadt Kopenhagen sich spiegelt.

Und wie herrlich war sie doch gewesen, diese lange Reise auf dem gewaltigen Meer, mit all ihren aufregenden Gefahren, ihren seltsamen Abenteuern und frischfröhlichen Erlebnissen, besonders für mich, den lebhaften, unternehmungslustigen Knaben! Wie einen kostbaren Schatz, der mir vom Glücke zugefallen, bewahrte ich sie jetzt in meiner Erinnerung Diese Seereise habe ich geschildert in dem Buche: Nonni. Erlebnisse eines jungen Isländers, von ihm selbst erzählt. Verlag von Herder & Co., Freiburg i. Br..

»Nun wird aber unser kleiner Passagier froh sein, daß die Reise zu Ende ist!« sagte einer der dänischen Matrosen zu mir, als unser Schiff, der bornholmsche Segler »Valdemar von Rönne«, am Kai des Kopenhagener Hafens festgebunden wurde.

»O nein!« erwiderte ich. »Wenn sie nur noch länger gedauert hätte! Es war so schön draußen auf dem großen Meere!«

»So so, du hast das Meer schon so liebgewonnen?«

»Ja, ich habe es immer gern gehabt. Ich bin ja ganz nah am Meere geboren.«

»Dann bist du also ein geborner Seemann! – Aber jetzt mußt du bald fort von uns. Das wird dir wohl leid tun?«

Bei dieser Frage wurde ich etwas wehmütig gestimmt, denn auf der langen Reise war das Schiff und seine Besatzung mir ungemein lieb und teuer geworden.

Der Matrose schien meine Gemütsbewegung zu merken. Er brach das Gespräch ab, indem er sagte: »Nonni, wir sind gute Freunde geworden; wir wollen es bleiben und oft an unsere schöne Reise denken.«

Ich lehnte mich jetzt sinnend an die Reling des Schiffes. Es war ein schmerzlicher Gedanke für mich, daß ich schon am folgenden Morgen den »Valdemar von Rönne« für immer verlassen sollte, und für immer auch den guten Kapitän Foß, meinen lieben Freund den jungen Schiffskoch Owe, den frohgemuten Steuermann und die drei biederen dänischen Matrosen.

Wie sicher und treu hatte doch das kleine Schiff mich über das unermeßliche Meer getragen! Und wie sanft hatte ich während der furchtbaren Orkane in seinem Schoße geruht, umtost von den wütenden Wellen des Nordatlantischen Ozeans! Da hatte ich geschlafen so ruhig wie ein Kind, das in der Wiege von seiner Mutter geschaukelt wird.

Jetzt aber war alles das vorbei! Nur wenige Stunden noch sollte ich hier weilen dürfen.

Wehmut im Herzen, ging ich am Abend zu Bette, und wehmütig stand ich am folgenden Morgen wieder auf.

Mein letzter Morgen auf dem trauten »Valdemar von Rönne«!

Kapitän Foß wollte mich selber durch die große Stadt zu Herrn Gisli Brynjúlfsson, einem isländischen Professor an der Kopenhagener Universität, führen und mich in seine Hände übergeben. Er hatte das vor unserer Abreise in Island meiner Mutter versprochen.

Während Herr Foß sich auf diesen Gang durch die Stadt vorbereitete, unterhielt ich mich noch ein letztes Mal mit den Matrosen.

Mit meinem kleinen Freund Owe sprach ich jetzt wenig. Wir waren beide traurig, da wir nun voneinander scheiden mußten; auch hatten wir zusammen verabredet, daß wir ganz allein drunten in der Kajüte einen besondern Abschied nehmen würden.

Wie das geschah, habe ich bereits in dem Buch über meine Reise von Island nach Dänemark erzählt.

Die Matrosen waren an jenem Morgen außergewöhnlich gut aufgelegt. Sie sangen und pfiffen lustig, wo sie gingen und standen, machten Spässe und waren alle sehr freundlich gegen mich.

Einer von ihnen sagte, ich sei nun schon weit in die Welt hinausgekommen. Er nannte mich scherzend einen kleinen Weltreisenden. Und als wir dann weiter von meiner künftigen Reise nach Frankreich sprachen, meinte er, ich sei wie ein kleiner Märchenprinz, der auszieht, um ein Königreich zu erobern.

»Ja, ja, so ist's«, fügte lachend ein anderer bei; »Nonni ist wie einer der Prinzen in ›Tausendundeine Nacht‹. Er wird sicher noch ein Königreich gewinnen. Darum ist er auch immer so lustig.«

Ich lachte jetzt ebenfalls über die gutmütigen Spässe der Matrosen. »Ein Königreich!?« rief ich aus. »Das möchte ich gar nicht. Aber vor meiner Abreise in Island hat ein Mann mir gesagt, ich werde Glück haben. Das ist mir lieber.«

»Und du glaubst an diese Prophezeiung?«

»Ja, ich glaube ganz fest daran.«

Nach dieser kurzen Unterhaltung begannen die Matrosen leise miteinander zu sprechen.

Ich stand unterdessen neben dem Schiffsmast und dachte über meine Zukunft nach und über das Glück, das der Mann auf Island mir vorhergesagt hatte. Ich war so sehr damit beschäftigt und so ganz in Gedanken versunken, daß ich kaum auf das sonst für mich so fesselnde Leben und Treiben am Hafenkai achtete; nur ab und zu ließ ich meinen Blick dorthinüber schweifen.

Ich glaubte in der Tat an mein zukünftiges Glück.

Vor meinen Augen winkte und lockte es mir wie aus einem märchenhaften königlichen Land in weiter Ferne. Ich war überzeugt, daß ein freundlich-gutes Schicksal mich unaufhaltsam vorwärts treibe, immer neuen, freudvollen Erlebnissen entgegen. Ich fühlte mich als den glücklichsten Knaben der Welt und war, wie der Matrose soeben gesagt hatte, immer lustig und froh.

Jetzt freilich war meine Lage doch etwas eigenartig. Trotz der wonnigen Freude, die ich empfand, kam es mir vor, als sei in dieser Stunde alles feierlich ernst um mich herum geworden.

Ich stand nun ganz allein da in einer neuen Welt, noch so jung und unerfahren, unter lauter fremden Menschen, sozusagen auf mich selbst gestellt.

Bei meiner Abreise in Island hatte ich alles verlassen müssen, was mir lieb und teuer war auf Erden: Freunde und Verwandte, meinen kleinen Bruder Manni, meine Schwester Bogga und meine liebe, liebe Mutter.

Ein unermeßliches Weltmeer lag von nun an wie ein gähnender Abgrund zwischen ihnen und mir.

Infolge dieser Gedanken war ich nahe daran, traurig zu werden. Da kam Owe gesprungen und sagte schnell zu mir:

»Nonni, der Steuermann will etwas mit dir sprechen! Ich habe soeben gehört, wie er es zum Kapitän gesagt hat.«

Ich sprach mit Owe noch einige Worte, da sahen wir schon den Steuermann aus der Kapitänskajüte heraufkommen. Er ging auf mich zu, klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte:

»Komm einen Augenblick mit mir, Nonni, in die Matrosenkajüte. Ich möchte etwas mit dir reden. Der Herr Kapitän braucht doch noch einige Zeit, bis er zum Ausgehen fertig ist.«

Ich folgte dem Steuermann die Treppe hinunter, und wir traten beide in die vordere Kajüte hinein.

Der Steuermann sah diesmal gegen seine Gewohnheit merkwürdig ernst aus. Ich konnte mir das gar nicht erklären.

Was mochte er mir wohl zu sagen haben?

Er schloß die Tür hinter sich zu und bat mich, an dem Tisch mitten in dem kleinen Raum Platz zu nehmen. Dann setzte er sich mir gegenüber und begann:

»Nun, mein lieber Nonni, wie geht es dir heute? Hast du noch immer Lust, hier in Kopenhagen zu bleiben, bis der deutsch-französische Krieg zu Ende ist? Und willst du dann wirklich deine große Reise bis nach Südfrankreich fortsetzen?«

»Aber natürlich! Das muß ich doch! Es ist ja alles so abgemacht!«

»Freilich, das schon. Aber ich meine, wenn es dir in Kopenhagen unter den fremden Menschen nicht mehr gefallen würde, und du wolltest wieder nach Island zurückkehren …«

»Ich nach Island zurückkehren? – Herr Steuermann, das wäre doch nicht vernünftig!«

»Warum denn nicht?«

»Ich soll doch nach Frankreich reisen! Und jetzt bin ich schon so weit von zu Hause fort! Und ich bin ja ganz freiwillig gegangen! Alle Leute in Akureyri würden mich ja auslachen, wenn ich jetzt wieder heimkäme!«

»O nein, Nonni, man würde dich nicht auslachen; du müßtest nur einen guten Grund haben, warum du wieder heimkommst.«

»Aber ich habe keinen Grund, Herr Steuermann. Ich habe auch bis jetzt noch gar nie daran gedacht, nach Hause zurückzukehren.«

»Das freut mich, mein Lieber, daß du so mutig bist. – Aber sag mal, hast du noch nie Heimweh gehabt, seitdem du von Akureyri fort bist?«

»Ein wenig schon; aber nur, wenn ich an meine Mutter denke und an meine Geschwister. Sonst habe ich kein Heimweh.«

Der Steuermann schwieg jetzt einen Augenblick. Dann fuhr er fort:

»Zuweilen hast du also doch Heimweh, Nonni. Das kann ich wohl begreifen. Vielleicht bekommst du aber später noch mehr Heimweh. Möchtest du dann nicht doch wieder zu deiner Mutter gehen?«

»Das ist schon möglich. Aber meine Mutter würde das nicht gern haben, wenn ich nur aus Heimweh wieder nach Hause käme.«

»Glaubst du das sicher?«

»Ja, Herr Steuermann, ich glaube es ganz sicher. Meine Mutter ist so. Sie hat es mir freigestellt, ob ich die Reise machen wolle oder nicht, und sie hat gesagt, es sei sehr gut und nützlich für mich, wenn ich in Frankreich studiere. Nun bin ich aber schon so weit auf dem Wege nach Frankreich, da will sie ganz gewiß, daß ich jetzt aushalte. Sie hat mir auch selbst gesagt, daß ich Heimweh bekommen würde; aber darauf solle ich gar nicht achten, sondern es überwinden, wenn es käme; die Kinder vornehmer Eltern müßten das auch manchmal tun.«

»Deine Mutter hat recht, Nonni. Aber glaubst du, du wirst das Heimweh immer überwinden können?«

»O, ich kann das schon, wenn ich mir nur Mühe gebe und Gott um seine Hilfe bitte. – Aber warum sprechen Sie gerade jetzt von diesen Sachen, Herr Steuermann?«

»Das will ich dir sagen, mein kleiner Freund: Ich tue es nicht, um dich mutlos zu machen; aber ich kam gestern mit dem Herrn Kapitän auf dich zu sprechen. Wir sind beide etwas besorgt um dich und würden dich gern umsonst wieder nach Island mitnehmen, wenn du dich unglücklich fühlen würdest und nach Hause zurückkehren wolltest.«

Jetzt erst verstand ich, warum der Steuermann mich so ausfragte. Ich ergriff seine Hand, drückte sie herzlich und sagte:

»Sie sind beide so gütig gegen mich, Herr Steuermann, Sie und der Herr Kapitän. Ich danke Ihnen sehr dafür. – Wann werden Sie denn wieder nach Island fahren?«

»Wir segeln jetzt zuerst heim nach Bornholm. Gegen Ende des Winters kommen wir noch einmal nach Kopenhagen. Hier nehmen wir Waren ein, dann fahren wir wieder nach Island. Wenn du um diese Zeit noch in Kopenhagen bist und gern nach Island zurückkehren willst, dann bist du als Passagier bei uns willkommen. Du würdest unser Gast sein und natürlich freie Fahrt haben.«

Ich dankte dem Steuermann nochmals herzlich und sagte, wenn ich am Ende des Winters noch in Kopenhagen sei und mich unglücklich fühlen würde, dann wolle ich die Einladung gerne annehmen und mit nach Island fahren.

Der Steuermann reichte mir freundlich die Hand. »Gut, Nonni, das ist also abgemacht«, sagte er.

Nach einer kleinen Weile fragte ich ihn:

»Aber, Herr Steuermann, warum denken Sie, daß ich mich vielleicht unglücklich fühlen könnte?«

»Warum? – Das hat seinen Grund, Nonni. Du bist noch ein Knabe und stehst schon allein da in der Welt. Du kommst jetzt in eine große Stadt unter lauter fremde Menschen. Die haben andere Sitten und Gebräuche, als sie bei euch in Island sind. Da ist alles ganz neu für dich. Du wirst dich an vieles erst gewöhnen müssen. Das wird nicht immer leicht sein. Dann wirst du vielleicht Heimweh bekommen nach deinen Freunden und Geschwistern und nach deiner Mutter, und da wäre es doch möglich, daß du dich unglücklich fühlen würdest. – Überhaupt, Nonni, bist du selber gar nie ein wenig bange, wenn du so an deine eigentümliche Zukunft denkst?«

»Nicht viel und nur ganz selten. Aber dann habe ich auch ein Mittel, das mir gleich hilft.«

Der Steuermann war sichtlich gespannt darauf, was für ein Mittel das wohl sein würde.

»Es ist der Gedanke an meine Mutter«, sagte ich.

»An deine Mutter? – Wie meinst du das, Nonni?«

Ich griff in meine Brusttasche, holte mein Notizbuch hervor und nahm daraus ein Blatt. Indem ich es auseinanderfaltete, sagte ich:

»Hier, Herr Steuermann, hat meine Mutter mir vor dem Abschied zu Hause ihre letzten Ratschläge aufgeschrieben. Soll ich Ihnen vorlesen, was mir am meisten hilft, wenn ich etwas Furcht bekomme?«

Der Steuermann bat mich darum, und ich las ihm nun den Schluß der Aufzeichnungen meiner Mutter vor. Er lautete:

»Wenn du dich bemühst, immer ein Freund Gottes zu sein, dann wird dir nie etwas fehlen. Gott wird dir in allen deinen Anliegen helfen und dich auf seinen Händen tragen, überall wo du bist.«

Ich schaute den Steuermann an und merkte, daß ihm das Vorgelesene gefiel. Dann sagte ich:

»Herr Steuermann, nicht wahr, ich brauche doch nicht bange zu sein, wenn Gott mir immer so hilft.«

»Nein, Nonni, das brauchst du gewiß nicht. Und wenn du die Ermahnungen deiner Mutter immer befolgst, dann habe auch ich keine Sorge mehr um dich.«

Damit stand er auf, drückte mir bewegt meine beiden Hände und sagte zum Abschied:

»Behüt dich Gott, mein lieber kleiner Freund. Ich wünsche dir viel Glück.«

Mir kamen jetzt Tränen in die Augen, und ich wußte nichts zu antworten. Auch der Steuermann sagte nichts mehr. Schweigend verließen wir beide die Kajüte und gingen wieder auf Deck. –

Ich hatte nun eben noch Zeit, mit Owe ein letztes Mal in die Kajüte hinunterzugehen und den erwähnten besondern Abschied von ihm zu nehmen.

Dann aber war auch schon der Kapitän fertig zum Aufbruch. Er rief jetzt, ich solle mich ein wenig beeilen.

Als ich wieder hinaufgekommen war, sah ich, wie die Matrosen mit dem Steuermann beisammen neben dem Schiffsmast standen. Sie schienen auf mich zu warten. Ich zögerte aber noch immer, mich von diesen guten Menschen zu trennen.

Da hörte ich wiederum den Kapitän rufen. Er stand bereits drüben auf dem Kai und wartete auf mich.

»Jetzt mußt du aber schnell machen, Nonni!« sagte der Steuermann; »den Herrn Kapitän darfst du nicht warten lassen!«

Ich gab also eilig einem jeden die Hand, sagte ihnen allen herzlich Lebewohl und lief dann hurtig vom Schiff über die Landungsbrücke zum Kapitän auf die Straße hinüber.

»Es ist gut, daß du endlich da bist, Nonni«, sagte Herr Foß. »Wir haben einen weiten Weg vor uns. Die Dossering, wo der Professor Gisli Brynjúlfsson wohnt, liegt ganz am andern Ende der Stadt. Und dann wirst du wohl unterwegs auch einiges sehen wollen, mein kleiner Freund; es gibt da viel Neues für dich, ich werde dir manches zeigen können.«

»O ja, bitte schön, Herr Kapitän! Ich bin sehr gespannt darauf, wie die Stadt weiter innen aussieht.«

»Hast du aber auch den Empfehlungsbrief deiner Mutter an den Herrn Professor bei dir?«

»Ja, Herr Kapitän, ich habe ihn in meiner Brieftasche.«

»Und hast du sonst nichts an Bord vergessen?«

»Nein, Herr Kapitän.«

Ohne weiter etwas zu fragen, betrachtete Herr Foß jetzt mit forschendem Blick noch meinen Anzug. Da war alles in Ordnung. Nur über meine Fußbekleidung geriet er in großes Erstaunen. Ich hatte nämlich meine kleinen isländischen Schaflederschuhe an.

»Aber Nonni!« rief er aus, »was ist denn das? Was hast du da an den Füßen? So etwas kann man doch hier in der Stadt nicht tragen! Wo sind denn deine dänischen Stiefeletten?«

»Sie sind mir bei dem großen Orkan über Bord gefallen, Herr Kapitän«, sagte ich kleinlaut, indem ich einen verlegenen Blick auf meine unglückseligen Schaflederschuhe warf.

»Das ist aber sehr bedauerlich, Nonni. Solche Schuhe kennt man in Kopenhagen nicht. Da werden alle Leute auf dich schauen, besonders die Knaben.«

»Das habe ich schon gestern gemerkt, Herr Kapitän. Die dänischen Jungen waren alle erstaunt über meine Schuhe und fanden sie ganz merkwürdig.«

Während wir so sprachen, wurden wir plötzlich von der Stimme eines Knaben unterbrochen, der aus dem Fenster eines nahen Hauses laut zu uns herüberrief:

»Nonni! Wo gehst du hin?«

»Ich gehe mit dem Herrn Kapitän nach der Dossering!«

»Kommst du nachher wieder zum Schiff zurück?«

»Nein!«

»O, dann warte einen Augenblick! Ich komme gleich hinunter zu dir. Nur einen Augenblick, Nonni!«

Damit verschwand er aus der Fensteröffnung.

»Was ist denn das für ein Bekannter?« fragte Herr Foß verwundert.

»Es ist einer der Knaben, mit denen ich gestern hier gespielt habe. Er heißt Harald und ist ein sehr guter Junge.«

»So, wie weißt du denn, daß er ein guter Junge ist?«

»Das habe ich gestern gleich gemerkt. Denn als ich von meinem Taschengeld den vielen dänischen Knaben Napoleonskuchen kaufen wollte, da hat er gesagt, ich dürfe das nicht tun, das sei eine Verschwendung. Meine Mutter würde mir sicher so etwas nicht erlauben. Das war doch schön von ihm?«

»Gewiß, Nonni, das war sehr schön von ihm. Aber was will er denn jetzt von dir?«

»Ich glaube, er will nur Abschied von mir nehmen. Wir sind gestern gute Freunde geworden.«

»So, so, ihr habt schon Freundschaft miteinander geschlossen? – Das scheint aber sehr schnell bei euch zu gehen«, bemerkte lächelnd der Kapitän.

Ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte, da kam gerade Harald zur Tür seines Hauses herausgesprungen und eilte auf uns zu. In der Hand trug er ein kleines, weißes Paketchen.

Er grüßte zuerst höflich den Kapitän und bat um die Erlaubnis, mit mir sprechen zu dürfen. Dann übergab er mir das Paketchen mit den Worten:

»Das schickt dir meine Mutter für die vielen Äpfel und Birnen, die du mir gestern gegeben hast, und du sollst auch einmal zu uns kommen.«

Ich betrachtete neugierig das Paketchen und fragte Harald, was darin enthalten sei.

»Es ist ein Napoleonskuchen!« sagte er. »Ich habe meiner Mutter erzählt, daß du die Napoleonskuchen so gerne hast.«

Ich gab Harald die Hand, dankte ihm und sagte, er möge auch seiner Mutter meinen Dank aussprechen.

»Das will ich tun«, erwiderte Harald. »Aber sag noch, wo wirst du hier in Kopenhagen wohnen?«

siehe Bildunterschrift

»Leb wohl, Nonni! – Leb wohl! – Auf Wiedersehen!« (S. 15.)

»In der Breitstraße 64.«

»In der Breitstraße? – Das ist ja hier ganz in der Nähe! Da werde ich dich bald besuchen, Nonni. Also auf Wiedersehen!«

Er reichte mir die Hand zum Abschied, machte vor Herrn Foß eine Verbeugung und sprang wieder nach Hause.

Als er fort war, sagte der Kapitän: »Nun wollen wir aber gehen, Nonni, sonst kommen am Ende noch alle Knaben aus den Häusern und bringen dir Napoleonskuchen. So viel Zeit haben wir nicht übrig, und noch mehr Kuchen würden vielleicht auch nicht gut für dich sein, meinst du nicht?«

Ich mußte lachen und ging nun mit Herrn Foß unsern Weg weiter in der Richtung nach dem Neuen Königsmarkt. Das weiße Paketchen trug ich sorgfältig in der Hand.

Wir waren aber kaum einige Schritte weit gekommen, da hörten wir schon wieder ein starkes Rufen hinter uns:

»Leb wohl, Nonni! – Leb wohl! – Auf Wiedersehen!«

Es waren die Leute unseres Schiffes. Sie standen alle auf dem Verdeck und winkten mir den letzten Abschiedsgruß zu.

Da faßte ich den Kapitän beim Arm und hielt ihn fest, bis er stehen blieb.

O diese guten bornholmschen Freunde!

Ich war so ergriffen und bewegt, daß ich nicht ein einziges Wort herausbringen konnte, sondern nur so dastand und immer nur den Kapitän festhielt.

Wehmütig sah ich zum letztenmal meine Reisegefährten auf dem »Valdemar von Rönne« stehen: den Steuermann, die Matrosen und den lieben kleinen Owe.

Auch sie schauten jetzt alle schweigend vom Schiffe zu uns her.

Ich zog mein Taschentuch heraus und schwenkte es vor meinem Gesicht auf und nieder.

Sofort winkten sie ebenfalls vom Verdeck herüber und riefen noch einmal:

»Leb wohl, Nonni! – Viel Glück!«

Unter den starken Männerstimmen aber klang laut und hell wie Glockenton eine Knabenstimme hervor:

»Leb wohl, Nonni! – Leb wohl!«

Das war Owe.

Ich wollte rufen, doch es war mir unmöglich: die Worte blieben mir in der Kehle stecken, ich konnte kaum ein Schluchzen zurückhalten. Ich begnügte mich daher, nur ein allerletztes Mal noch zu winken.

Der Kapitän hatte währenddessen seine Hand auf meine Schulter gelegt. Als wir uns dann langsam wieder gegen die Stadt hin wandten, um unsern Weg fortzusetzen, sagte er freundlich:

»Ich sehe, mein Lieber, du bist mit den Leuten an Bord recht gut Freund geworden. – Wen von ihnen kannst du denn am besten leiden?«

»Owe, Herr Kapitän.«

Herr Foß lächelte. »Das kann ich mir wohl denken«, sagte er, »ihr seid ja fast im gleichen Alter. – Und welches war dann der nächste unter deinen Freunden?«

»Nach Owe der Steuermann.«

»Der war immer lustig mit dir, nicht wahr?«

»Ja, und er hat mir oft Feigen gegeben und Rosinen, und noch viele andere Sachen.«

»Dann glaube ich freilich, daß er neben unserm kleinen Koch dein liebster Freund war«, fügte scherzend Herr Foß hinzu.

Ich verstand, was er damit sagen wollte, und erwiderte deshalb sogleich:

»Herr Kapitän, ich habe aber auch noch den jüngsten unter den Matrosen gern.«

»So, der ist auch dein Freund? Wie ist denn das gekommen?«

»Es war damals, wo er krank zu Bette lag, nach dem Kampf mit den Eisbären. Ich mußte ihn da oft besuchen und ihm helfen. Er hat es immer gern gehabt und war immer freundlich gegen mich.«

»Ja, richtig, ich kann mich jetzt wieder erinnern. Das war aber schön von dir, Nonni, daß du ihm so geholfen hast, als er krank war. Hier in Kopenhagen brauchst du keine Verwundeten mehr zu pflegen, hier gibt es keine Eisbären. Unser ›Valdemar‹ liegt jetzt ruhig und sicher dort drüben im Hafen, bis wir heimsegeln nach Bornholm, und du kommst nun in feine, schöne Häuser zu vornehmen Leuten.«

Ich wandte mich bei diesen Worten noch einmal um und schaute nach dem Hafen zurück. Den »Valdemar von Rönne« aber konnte ich nicht mehr sehen, er war verschwunden in dem dichten Wald von Schiffsmasten.


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