Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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19.

Zu gleicher Zeit mit Margarete Feddersen hatte auch der Generaldirektor Malloney den Kölner Hauptbahnhof betreten gehabt. Er kam nicht wie sie vom Westen her, sondern vom Norden aus England. In dem Ostender D-Zug hatte niemand sonderlich auf den kleinen, jovial mit Kellnern, Schaffnern und Trägern verkehrenden Herrn geachtet. Aber als er jetzt, im Gedränge des Wartesaals stehend, ein Glas Bier trank, riß ein Vorübergehender plötzlich den Hut vom Kopf. Drüben am Tisch erkannte ihn ein Zweiter und verbeugte sich, vom Stuhl aufspringend. Der Zeitungsverkäufer auf dem Bahnsteig stand stramm und grüßte militärisch. Und wie der Stahlgewaltige nun wieder den Zug bestieg und noch eine Stunde weit von Köln durch das Dunkel in das Ruhrgebiet hineinfuhr, da wuchs von Station zu Station sein Ansehen. Die Mitreisenden musterten ihn neugierig, Herren mit Aktenmappen unter dem Arm grüßten. Auf der kleinen Station, auf der er den Wagen verließ, dienerte alles. Sein Auto wartete und führte ihn in das Reich der Kohle und des Eisens hinein. In undeutlichen Umrissen wölbten sich die Schlackenhügel unter langgestreckten Fabrikgebäuden. Die Schornsteine ragten einzeln, in Gruppen, wie Pappelwälder in die Luft. Schwaches Funkensprühen verriet ihre Spitze, mattes Leuchten am Horizont die Hochöfen, deren frühere scharlachne Glut sich nun auch still in Kraft umsetzte. Am Eingang hielt der alte Invalide Wache und schob das Tor zurück.

»Guten Abend, Herr Generaldirektor!«

»'n Abend! Ist Herr Lünemann noch im Kontor?«

»Befehl, Herr Generaldirektor! Herr Lünemann ist ja immer dort!«

Der Generaldirektor Malloney hatte seinen Wagen verlassen und stiefelte vorsichtig quer über die schlammigen Höfe dem Lichtschein zu, der aus einer Reihe Fenster zur ebenen Erde drang. Ohne anzuklopfen, trat er ein. Innen war es blendend hell. An einem mächtigen Tisch, in einem mächtigen Raum saß ein einzelner Mann, über ein Reißbrett gebeugt. Bleistifte, Zirkel, aufgeschlagene Logarithmen-Tabellen lagen um ihn. Er war so in seine Flugbahnberechnung vertieft, daß er nicht aufsah, sondern, in der Meinung, den Bureaudiener vor sich zu haben, zwischen seinen Zahlen murmelte:

»Krause ... so gegen Zehn müssen Sie mir Kaffee kochen! Ich habe bis in die Nacht hinein zu tun!«

»Wenn ich Sie nicht vorher zu Bett schicke, mein Gutester!« sagte der Generaldirektor gemütlich und tat Hut und Stock in die nächste Ecke. »Glauben Sie nur nicht, Lünemann, daß ich das erst abwarte, bis Sie mir mit den Nerven zusammenklappen, mit Ihrem unsinnigen Arbeiten in letzter Zeit. Es ist mir gar nicht wegen Ihnen zu tun! Aber ich brauche Sie! Sie sind nun mal der einzige von der ganzen Blase, zu dem ich Vertrauen hab'!«

»Außerdem haben Sie das Talent, mit mir auszukommen!« fuhr er fort, seinen Mantel über den nächsten Stuhl werfend. »Das glückt auch nicht jedem! Ich bin ein ekliger Kerl, ich weiß es! Aber Sie mit Ihrer gesegneten dicken Haut ... Herrgott, sieht der Mensch aus! ... Wenn Sie mir umfallen, Moritz, dann wehe Ihnen! Dann enterb' ich Sie! Dann such' ich mir einen anderen Thronfolger für den Betrieb hier!«

»Ich werde nicht krank,« sagte Moritz Lünemann kurz und beinahe verächtlich. Er hatte sich erhoben. Sein Gesicht hatte bei aller Energie einen überarbeiteten Ausdruck. Der kurze Vollbart ließ es älter erscheinen, als er war. Und mehr noch der Ernst in seinen grauen Augen.

Malloney war schon wieder beim Geschäft. »Also die Argentinier beißen an?« forschte er vergnügt und rieb sich die Hände.

»Den Auftrag kriegen wir sicher herein. Haben Sie unsere Konstantinopeler Code-Depesche noch nachgekabelt bekommen?«

»Wegen der Balkanbahn?«

»Ja. Augenblicklich steigen unsere Aktien am Goldenen Horn wieder rapide: Ich denke, wir drücken die belgisch-französische Gruppe ganz an die Wand!«

Malloney lachte.

»Also kriegen wir endlich auf dem Balkan Luft! Ein Segen! Ich hab' den ganzen Flohzirkus schon dick bis an den Hals. Geschieht den Herren Feddersen und Anhang ganz recht. Warum lassen sie nicht mit sich reden! Ich hab' seinerzeit in Paris Herrn Charles Feddersen gute Worte gegeben, wie 'nem kranken Gaul. – Nee ... er wollte nicht! Unter uns: er ist überhaupt ein Esel! Uebrigens ... vorhin hab' ich seine Frau gesehen!«

»So?« sagte Moritz Lünemann, anscheinend ganz gleichgültig.

»Sie saß in Köln auf dem Bahnhof und trank Kaffee. Schien auf der Reise zu Muttern. Eine schöne Person! Das muß ihr der Neid lassen!«

»Haben Sie auch mit ihr gesprochen?«

»Nee! Wie komm' ich denn dazu? Ich werde doch nicht mit der Konkurrenz anbändeln! Außerdem bimmelte es doch gerade zu meinem Zug!«

Der Generaldirektor hatte die Briefe durchgesehen und nichts besonders Wichtiges gefunden. Er gähnte.

»Ich hab' Hunger,« sagte er. »Wissen Sie was, Lünemann: Kommen Sie mit mir hinüber und leisten Sie mir Gesellschaft zum Abendbrot. Mit ihrer verfluchten Ballistik hat's Zeit. Und ich bin ein armer Strohwitwer! Frau und Kinder bei den Schwiegereltern! Also los!«

Malloney hatte sein Haus mitten zwischen die Fabrikgebäude hineingebaut. Ob er da nun in der Badewanne saß, ob er sich rasierte, ob er Gäste bei sich sah – von jedem Fenster aus konnte er jeden Augenblick den Betrieb überblicken. Das nannte er Schönheit der Lage. Nerven waren ihm unbekannt. Höchstens daß er, wenn der Dampfhammer besonders in Tätigkeit trat, ein Fenster schloß. Aber sonst fühlte er sich pudelwohl in dem Lärm und Leben. Die beiden Männer hatten nur wenige Schritte bis zu seiner Wohnung zu gehen. Er kam dort unerwartet an. Aber er hatte das Haus an den Grundsatz ›Zeit ist Geld!!‹ gewöhnt. In unbegreiflich kurzer Zeit saß er mit seinem Gefährten am gedeckten Tisch und goß ein.

»Trinken Sie, Lünemann! Das bringt Sie auf andere Gedanken! Ich weiß nicht, früher hatten Sie so was Humoristisches hinter den Ohren. Das ist Ihnen aber allmählich ganz abhanden gekommen!«

»Sie wissen ja, was passiert ist, Herr Malloney!«

Der Generaldirektor ließ Messer und Gabel sinken und schaute kauend, den Kopf schüttelnd, sein Gegenüber an.

»Zu toll!« sagte er endlich. » Sie hatte ich nun immer für 'nen vernünftigen Menschen gehalten, alter Freund und Kupferstecher! ... Und gerade Sie machen ausgerechnet diese Riesendummheit!«

»Im Geschäft doch nicht!«

»Nee, gottlob! Da sind Sie schlau wie ein Bauer! Sie seifen mir die Konkurrenz so treuherzig ein! Aber man ist doch auch Mensch – nicht? Und da ... Sehen Sie 'mal, Lünemann: ich hab' Sie doch gemacht, sozusagen! Ich hab' Sie aus dem Nichts herausgeholt! Vorläufig bin ich ja noch hier der Mann an der Spitze. Immerhin: der Mensch wird älter. Jeder Karrengaul muß 'mal ausschnaufen. Ich brauch' allmählich auch Entlastung. Drum ziehe ich mir Sie als Nachfolger heran ...«

»Ich arbeite ja auch nach Kräften, um Ihr Vertrauen zu rechtfertigen, Herr Malloney!«

»Ja, mein Vertrauen! Aber Ihres schenken Sie mir nicht! Sonst hätten Sie mir längst eingestanden, was eigentlich in aller Teufels Namen vor 'nem Vierteljahr in Sie gefahren ist, daß Sie plötzlich Ihre Verlobung aufgelöst haben ...«

Es war eine Pause. Dann hub der Generaldirektor ärgerlich wieder an:

»Ja – das kenn' ich: Achselzucken und Schweigen! Sie sind ein verstockter Mensch, mein lieber Moritz! Sie haben den richtigen Hannoverschen Dickschädel! Aber irgend 'was muß doch in dem gedämmert haben, das Sie zu dem verblüffenden Entschluß brachte. Sie fuhren doch noch ganz fidel mit mir nach Paris, kamen von dort zurück, ohne daß 'was Besonderes in Paris passiert war ... und dann auf einmal ... ein paar Tage darauf ... ich denke, mich rührt der Schlag ...«

»Ersparen Sie mir doch dies Gespräch, Herr Generaldirektor.«

»Nee, mein Lieber – die Sache hat zu viel böses Blut gemacht! Wo ich hinkomm', werde ich jetzt noch drauf angeredet. Das Mädchen war doch weiß Gott nicht die erste beste! Der Alte sitzt hier zwischen Rhein und Ruhr in jedem zweiten Aufsichtsrat ... verdient gut und gern seine dreihunderttausend jährlich ... Wenn er mich sieht, macht er ein Gesicht, als hätt' er auf 'ne Spinne gebissen! ... Er denkt, ich steck' dahinter! So muß ich nun Ihre Sünden abbüßen, Lünemann!«

»Was eine Notwendigkeit war, Herr Malloney, das kann kein Unrecht sein.«

»Aber warum war es denn notwendig? Hat es denn Streit zwischen Ihnen und Ihrer Braut gegeben?«

»Gar nicht!«

»Oder mit dem Ollen?«

»Auch nicht!«

»Oder war Ihnen die Mitgift nicht recht?«

»Die war viel zu groß!«

»Ja, da werd' der Kuckuck draus klug!« Der Generaldirektor Malloney schlug zornig mit der Faust auf den Tisch. »Mensch ... wenn ich Sie nicht so verflucht gern hätte – man kommt sich ja dumm vor, wenn man Ihnen die Silben aus den Zähnen reißt ... Haben Sie mir denn wirklich nicht mehr zu sagen ...?«

»Nein, Herr Malloney! Ich kann nicht. Das sind Dinge, die jeder mit sich abmachen muß!«

»Also lassen wir's! ... Aber verbessert haben Sie Ihre Position hier am Rhein mit der Geschichte nicht. Wenn Sie ein zweites Mal wo anklopfen, wundern Sie sich nicht, wenn Sie auf äußerste Kühle stoßen!«

»Es braucht ja nicht jeder zu heiraten!« sagte Moritz Lünemann und erhob sich zugleich mit dem anderen, um im Nebenzimmer eine Zigarre zu rauchen. »Ich für mein Teil werde es wohl überhaupt lassen!«

Der Generaldirektor knipste bedächtig die Spitze von seiner Henry Clay.

»Sie sind noch jung, mein Guter!« meinte er. »Und ich bin ein alter Esel. Also hören Sie auf die Stimme der Weisheit: Man soll nichts verschwören! ... Einmal kommt der Tag ...«

»Bei mir nicht mehr!«

Moritz Lünemann zögerte einen Augenblick. Er war blaß geworden. Dann setzte er mit rauher Stimme hinzu: »Ich möchte Ihr Vertrauen nicht zurückweisen, Herr Malloney. Ich täte Ihnen unrecht. Ich weiß, wie sparsam Sie damit sind. Sie erzählten vorhin, Sie hätten heute Madame Charles Feddersen auf dem Kölner Bahnhof gesehen ...«

»Ja!« bestätigte Malloney, ein wenig verwundet

»Nun – das war einst meine Liebe.«

»Was? ...«

»Und das ist sie noch in meinem Leben ... obwohl sie diesen reichen Menschen mir vorgezogen hat ...«

»... Herrgott ... ja ...«

»... und das wird sie immer sein! ... Darum hab' ich gesagt, ich heirate nicht mehr! Und nun erlauben Sie mir, daß ich wieder hinüber an die Arbeit gehe, Herr Generaldirektor! Ich will die Schießtafeln auf alle Fälle fertigstellen, falls die griechische Regierung doch bei uns anklopfen sollte ...«

Er reichte dem andern die Hand und ging. Auf dem Tisch harrten die Flugbahnberechnungen und Logarithmentafeln. Er setzte sich und klingelte dem alten Diener:

»Krause – haben Sie mir Kaffee gekocht?«

»Jawohl, Herr Lünemann! Aber ...«

»Na – was denn ›aber‹?«

»Herr Lünemann sollten doch Ihre Gesundheit mehr schonen! Herr Lünemann überarbeiten sich ja!«

Moritz Lünemann hatte seinen blonden energischen Kopf schon über den Tabellen.

»Lassen Sie es gut sein, Krause!« sagte er zerstreut, halb in die Zahlenreihen vor ihm versunken. »Die Arbeit – das ist schließlich doch das letzte, was man hat ...«


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